Hamburg. Forschende entwickeln einen “Booster“ für Hochleistungsrechner. Mithilfe von Laserstrahlen wollen sie winzige Teilchen zu Mathe-Cracks machen.

In einem Gefängnis groß rauszukommen, ist für die Häftlinge eher unwahrscheinlich. Anders soll es in jenem künstlichen Knast laufen, den Henning Moritz plant. Auf dem Campus Bahrenfeld steht der Physikprofessor von der Universität Hamburg in einem abgeschotteten Labor vor einem Gewirr aus Kabeln, Spiegeln und Linsen. Diese Elemente lenken und bündeln Laserlicht zu „optischen Pinzetten“.

Mit diesen Werkzeugen will der Forscher in einer fußballgroßen Vakuumkammer aus Edelstahl eine Schar widerspenstiger Insassen bändigen und deren Bewegungsdrang einschränken. „Zunächst sind sie noch schneller als ein Formel-1-Auto“, sagt Moritz. „Aber wenn wir sie abgekühlt und gefangen haben, bewegen sie sich nur noch etwa so langsam wie eine Schnecke.“

So herzlos der 48-Jährige klingt: Beschwerden muss er nicht befürchten. Denn bei seinen Versuchsobjekten darf man seelische Belastungen ausschließen: Es sind Atome in der Gasphase – Teilchen, die zehn Millionen Mal kleiner sind als ein Millimeter. Läuft alles wie geplant, könnten die Winzlinge durch eine spezielle Behandlung sogar wundersame Eigenschaften entfalten und zu Stars avancieren: Bis zu 500 von ihnen sollen zu einer Mannschaft aus Mathe-Cracks werden – und zusammen das Herz eines Quantencomputers bilden.

Vorerst noch nicht dazu gedacht und geeignet, um herkömmliche Computer abzulösen, sondern als „Booster“ für große Hochleistungsrechner, die bei besonders komplexen „Optimierungsaufgaben“ an ihre Grenzen kommen oder zumindest viel Zeit für eine Lösung brauchen. Zum Beispiel in der Logistik, wenn es darum geht, Lieferketten mit vielen Zwischenstationen zu verbessern, also etwa ideale Routen für Schiffe, Lkw und Transporter zu finden, um Treibstoff und Zeit zu sparen.

Im Wettbewerb mit Weltkonzernen

Oder bei der Entwicklung neuer Medikamente, wenn das Verhalten vieler Wirkstoffmoleküle simuliert werden soll. Ähnlich aufwendig können Berechnungen im Finanzwesen sein, etwa zur Entwicklung von Aktien und Märkten. Während ein klassischer Rechner viele mögliche Varianten nacheinander berechnen muss, etwa Längen verschiedener Routen und Fahrtzeiten, um am Ende zur besten Lösung zu kommen, soll ein Quantencomputer viele Berechnungen gleichzeitig durchführen können.

Schon 2012 erklärte das Nobelpreiskomitee, als es Forscher für Vorarbeiten auszeichnete, womöglich werde „der Quantencomputer unseren Alltag in diesem Jahrhundert genauso radikal verändern, wie es der klassische Computer im letzten Jahrhundert getan hat“. Seit Jahren tüfteln Entwicklungsabteilungen von Weltkonzernen wie Google und IBM, spezialisierte kleine Unternehmen und vor allem Wissenschaftler rund um den Globus an solchen Turbo-Rechnern.

Hamburger Unternehmen Otto und HHLA machen mit

Der Physikprofessor Klaus Sengstock.
Der Physikprofessor Klaus Sengstock. © Roland Magunia/Hamburger Abendblatt

Das Hamburger Team um Henning Moritz und die Physiker Peter Schmelcher (62) und Klaus Sengstock (58) will Vertreter aller wichtigen Entwicklungsschritte zusammenbringen – von der Grundlagenforschung bis zur industriellen Anwendung. Und so beteiligen sich an dem Projekt „RYMAX“ unter Federführung der Universität Hamburg das Handels- und Dienstleistungsunternehmen Otto, die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA), acht mittelständische Hightech-Firmen sowie Forschende der Universität Kaiserslautern und des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik.

25 Millionen Euro Fördergeld vom Bundesforschungsministerium (BMBF) hat das Konsortium für das zunächst auf fünf Jahre angelegte Projekt eingeworben. Die beteiligten Firmen werden weitere vier Millionen Euro beisteuern. Von der Förderung des BMBF entfallen knapp zehn Millionen Euro auf die Universität Hamburg – eine ungewöhnlich große Summe, wie sie sonst Sonderforschungsbereiche an Hochschulen für mehrere Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhalten.

Forschung für Quantencomputer „Made in Germany“

Der Bund will jetzt klotzen; Deutschland soll nicht abgehängt werden, insbesondere von den USA im Rennen um die besten Konzepte für die Rechner der Zukunft. Deshalb werden über das BMBF bis 2025 rund 1,1 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung zu Quantencomputern „Made in Germany“ bereitstehen. „Die Idee ist, dass Deutschland damit auf dem Weltmarkt erfolgreich sein kann – schlussendlich ist es eine Förderung, damit wir Firmen gründen“, sagt Projektkoordinator Klaus Sengstock.

Der Professor für Laserphysik an der Universität Hamburg wird mit seinem Team und den Forschenden um Henning Moritz in dem RYMAX-Projekt einen Prototypen bauen; ihr Kollege Peter Schmelcher, Professor für theoretische Quantenoptik an der Hochschule, wird die Entwicklung neuartiger Rechenanweisungen (Algorithmen) für den Prototypen des Quantencomputers leiten.

An den Grenzen des technisch Machbaren

So groß die Hoffnungen sind, die auf den Projekten ruhen, so „risikoreich“ sind die geförderten vorwettbewerblichen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, wie das Bundesforschungsministerium schon in seiner Ausschreibung für die Förderung erklärte. Allerkleinste Strukturen beherrschen zu wollen ist ein kühnes Vorhaben.

Bei der Miniaturisierung herkömmlicher Computerchips auf Siliziumbasis haben Hersteller wie Intel die Grenzen bereits immer weiter verschoben. Auf einem Chip von der Größe eines Fingernagels schalten Milliarden von Transistoren. Durch solche Prozessoren fließt ein elektrischer Strom, genauer: Unter dem Einfluss einer elektrischen Spannung werden Elektronen dazu gebracht, winzige Chip-Bausteine zu laden oder zu entladen.

Wundersame Phänomene in der Welt der Quanten

Eine Einstellung steht für Null, die andere für Eins, die beiden Zeichen des digitalen Alphabets – Bits. Kombinationen aus extrem vielen Einsen und Nullen bilden Informationen, mit denen ein Computer arbeitet, die er in Texte, Bilder oder Videos übersetzt. Supercomputer mit solchen Chips arbeiten zwar schon rasend schnell – doch mit der Zunahme der Datenmengen in Forschung und Industrie ist der Bedarf an noch mehr Rechenleistung gewachsen.

Quantencomputer basieren nicht auf elektrischen Zuständen, sondern auf Phänomenen in der Welt der Quanten. Mit diesem Begriff gemeint ist der kleinstmögliche, nicht teilbare Wert einer physikalischen Größe, vereinfacht auch: ein bestimmter Zustand etwa von Atomen, die angeregt werden, zum Beispiel von Laserstrahlen. In dieser Form können Quanten zu Qubits werden, angelehnt an die Bits in herkömmlichen Computern.

Qubits agieren miteinander

Der Clou: Ein Qubit kann nicht nur im Zustand 0 oder 1 sein, sondern auch gleichzeitig in beiden Zuständen – oder durch eine Überlagerung von 0 und 1 theoretisch sogar unendlich viele Zustände dazwischen einnehmen. So schwer vorstellbar das sein mag – diese Vorgänge seien messbar und ließen sich mit komplexer Mathematik darstellen, wie weltweit schon sehr häufig nachgewiesen worden sei, sagt Henning Moritz. Mit Rechenanweisungen, die auf diese Fähigkeiten zugeschnitten sind, ließen sich mit Qubits in einem Schritt parallel viel mehr Berechnungen durchführen als mit herkömmlichen Bits.

Noch stärker strapaziert wird die Vorstellungskraft von Laien, wenn die Physiker erklären, dass Qubits durch eine Wechselwirkung miteinander agieren und dass sie durch eine sogenannte Verschränkung zu einem Kollektiv aus Rechenkünstlern werden können. Daraus ergebe sich ein weiterer Vorteil, sagt Klaus Sengstock: „Wir können unsere Qubits im Raum beliebig bewegen, sie hin und her fahren und damit etwa die Stationen einer Lieferkette nachstellen“, so der Forscher. „Weil alle Qubits gleichzeitig jeden möglichen Weg berechnen, finden sie die beste Route viel schneller als ein herkömmlicher Computer.“

Laserstrahlen bremsen Atome und halten sie fest

Der Hamburger Physikprofessor Peter Schmelcher.
Der Hamburger Physikprofessor Peter Schmelcher. © Roland Magunia/Hamburger Abendblatt

Als Grundlage dient den Hamburger Physikern das Element Ytterbium, das zu den Metallen der seltenen Erden zählt. Durch Erhitzen in die Gasphase gebracht, bewegen sich Ytterbium-Atome mit mehr als 600 Kilometern pro Stunde – bei diesem Tempo lassen sie sich auch mit den besten Lasern kaum festhalten. Und: Solange die Winzlinge durch die Luft fliegen, ist es durch störende Einflüsse von Stickstoff- und Sauerstoff-Atomen noch schwer als ohnehin schon, einzelne Ytterbium-Atome zu fangen und zu kontrollieren.

Leichter wird das in einer Vakuumkammer. Hier kühlen Laserstrahlen die Atome auf Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt bei minus 273 Grad Celsius ab und bremsen die Teilchen dadurch. Zur Veranschaulichung wählt Henning Moritz dieses Bild: „Stellen Sie sich einen Schlittschuhfahrer vor, dem Medizinbälle entgegengeworfen werden. Durch den Rückstoß wird der Schlittschuhfahrer langsamer“, sagt der Physiker. „So ähnlich bremsend wirken die Lichtteilchen in Laserstrahlen, die wir auf die Atome schießen.“

Bis zu 30 verschiedene Laser werden eingesetzt

In einen zweiten Schritt sollen weitere Laserstrahlen wie Pinzetten die kaltgestellten Atome fangen und sie in einen sehr hoch angeregten Zustand bringen. Erst in diesem Zustand werden die Teilchen zur Verschränkung fähig und damit zum gemeinsamen Rechnen.

„Wir werden insgesamt bis zu 30 verschiedene Laser einsetzen, um die Atome zu kontrollieren und zu steuern“, sagt Klaus Sengstock. Dafür sei eine nie dagewesene Präzision nötig. „Diese Laser müssen ultrastabil und genau sein.“ Entwickelt wird diese Technik von der Firma Menlo Systems bei München, die der Physiknobelpreisträger Theodor Hänsch mitgründete. Der 80-Jährige ist emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching.

Google und IBM setzen auf heruntergekühlte Metalle

Noch ist nicht ausgemacht, welche Technologie sich durchsetzen wird bei Quantencomputern oder ob mehrere Ansätze erfolgreich sein werden. Womöglich eignen sich bestimmte Rechnerarchitekturen vor allem für die Optimierung von Lieferketten, andere hingegen besonders gut etwa für die Entwickelung neuer medizinischer Wirkstoffe oder weiterer Anwendungen.

IBM und Google setzen auf Schaltkreise aus Metallen, die bei annähernd minus 273 Grad als Qubits fungieren. Das IBM-System Quantum Eagle verfügt nach Angaben des Konzerns schon über 127 Qubits. Andere Gruppen wie Physiker der Uni Innsbruck tüfteln an Quantencomputern, in denen Ionen (geladene Atome) als Qubits arbeiten. Angesichts dieser Konkurrenz hat das Bundesforschungsministerium die Latte hoch gehängt für die nun geförderten Gruppen, unter ihnen eben auch das RYMAX-Konsortium: Sie alle sollen in den kommenden fünf Jahren einen Quantencomputer mit mindestens 100 Qubits entwickeln – ausbaubar auf bis zu 500 Qubits.

Magnetfelder können Qubits empfindlich stören

Die Hamburger Forschenden brauchen zur Bändigung ihrer Protagonisten nicht nur extrem präzise und stabile Instrumente. Eine besondere Herausforderung sei auch, das Herz des Quantencomputers gegen äußere Einflüsse abzuschotten, sagen sie. Qubits mögen die Computer-Superstars von morgen sein – sie sind auch Sensibelchen. Schon eine in der Nähe vorbeifahrende S-Bahn, die ein Magnetfeld erzeugt, kann die Teamarbeit der Winzlinge abrupt zusammenbrechen lassen. „Wir rechnen mit enormen Schwierigkeiten“, sagt Klaus Sengstock.

Doch die Aussicht, etwas sehr Bedeutendes erschaffen zu können, treibt die Physiker an. „Wir sind das ja gewohnt von der Grundlagenforschung“, sagt Henning Moritz. „Manchmal hat man Glück. Manchmal funktioniert das nicht, was man zuerst machen wollte – aber meistens etwas knapp daneben.“