Hamburg. In „Wie jetzt?“ spricht Chefredakteur Lars Haider mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über die großen Themen unserer Zeit.

Wie jetzt?“ heißt ein Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg. Darin unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob die Einführung einer Impfpflicht gut oder nur gut gemeint ist.

Lars Haider: Wir müssen über die Impfpflicht sprechen, die da kommt, und uns fragen: Kommt sie zu früh oder zu spät?

Lenzen: In gewisser Weise kommt sie zu spät. Wenn man entschlossen früh gehandelt hätte – den Impfstoff gibt es ja schon seit einem Jahr –, wären wir jetzt nicht dort, wo wir sind. In gewisser Weise kommt die Impfpflicht aber auch zu früh, weil all die Menschen, auf die es nun ankommt, noch nicht für eine Impfung gewonnen werden konnten. Das heißt, wir haben nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Und ganz gleich, ob eine Impfpflicht eingeführt wird oder nicht: Entscheidend wird die Kommunikation dazu sein.

Prof. Dieter Lenzen.
Der Präsident der Universität Hamburg: Prof. Dieter Lenzen. © HA / Andreas Laible | Unbekannt

Wie viel Zeit hätte man sich und der Gesellschaft denn noch geben sollen, um die zu erreichen, die sich bisher aus welchen Gründen auch immer gegen eine Impfung entschieden haben? Als Geimpfter wird man allmählich unruhig, weil alle Argumente und Gegenargumente lange auf dem Tisch und wir inzwischen in der vierten Welle sind. Ist es nicht so, dass man die, die sich bisher haben nicht überzeugen lassen, auch nicht wird überzeugen können?

Lenzen: Das ist die Frage. Es hat sich in den vergangenen Wochen doch gezeigt, dass sich Ungeimpfte impfen lassen, weil sie sonst an bestimmten Veranstaltungen nicht mehr teilnehmen dürfen. Es ist also Potenzial vorhanden. All diejenigen, die vielleicht etwas lethargisch sind oder ausblenden, wie gefährlich die Situation ist, sind noch erreichbar, auch ohne Impfpflicht. Dabei sind wir alle gefragt. Ein personenbezogenes Gespräch ohne Vorwürfe kann genauso erfolgreich sein wie eine Impfpflicht.

Ich glaube, das Problem ist nicht die kleine Gruppe jener Menschen, die Impfungen grundsätzlich ablehnen. Es sind die, die auf einmal am Staat an sich zweifeln, die sagen: Ich vertraue den Autoritäten nicht mehr. Die vom Gegenteil zu überzeugen, wird man in wenigen Monaten nicht schaffen, dafür braucht man Jahre, die wir angesichts neuer Virusvarianten nicht haben. Führen wir aber eine Impfpflicht ein, fühlen sich all die, die dem Staat und der Politik nicht mehr vertrauen, in ihrem Urteil bestätigt. Es ist ein Dilemma.

Lenzen: Es gibt in der Tat nicht wenige Leute, die eine Impfung ablehnen, weil sie schlechte Erfahrungen mit staatlicher Autorität gemacht haben. Das kann man verstehen. Wir müssen unterscheiden zwischen personaler und sachlicher Autorität. Was wir können, ist über die Sache aufzuklären, das heißt über die Krankheit, den Schutz durch die Impfung, etc. Die personale Autorität ist schwieriger, sie muss durch Personen verkörpert werden, die Entscheidungen treffen, also durch Politiker.

Wenn wir uns ansehen, was in der letzten Regierung an Meinungswechseln zum Thema Corona stattgefunden hat, ist es schwer, diese personale Autorität zu vermitteln. Es sei denn, dass die Menschen akzeptieren, dass auch Politiker dazulernen können und müssen und dass man von ihnen keine endgültigen Aussagen erwarten darf. Mehr noch: Wir dürfen sie ihnen gar nicht gestatten, wir dürfen sie, auch als Journalisten, nicht dazu zwingen, bestimmte Dinge auszuschließen, weil das schlicht nicht möglich ist.

Mich hat immer erstaunt, wie nahezu alle Politikerinnen und Politiker von Tag eins der Pandemie eine Impfpflicht ausgeschlossen haben. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Lenzen: Da stecken zum Teil niedere Motive dahinter, weil viele Politikerinnen und Politiker angesichts der Bundestagswahl nicht einen Teil der Bevölkerung gegen sich aufbringen wollten. Eine Impflicht vor der Wahl zu fordern, hätte wichtige Stimmen kosten können, deshalb hat sich das niemand getraut. Außerdem sah es eine Zeit lang so aus, als würden wir mit dem Impftempo in Deutschland ganz gut hinkommen.

Trotzdem ist es unprofessionell, Sätze wie „Wir werden niemals das oder das tun“ zu sagen, weil man das eben nicht wissen kann. Solche All-Sätze sollte man in der Politik nicht formulieren, ich würde dringend davon abraten. Außerdem hat die Politik nicht vorzugeben, was passieren wird; sie muss in Kommunikation mit dem Volk herausbekommen, was der beste Weg ist und dann die richtigen Entscheidungen treffen.

Ich mag diese Ausschließ-Fragen auch nicht. Erstens ist diese Frage unseriös, weil man halt nicht weiß, was die Wirklichkeit bringt. Und zweitens sollten Politiker jedes Mal, wenn sie danach gefragt werden, ob sie dieses oder jenes ausschließen können, sagen, dass das unmöglich ist. Wenn Politik eine Impfpflicht nicht kategorisch ausgeschlossen hätte, hätten wir jetzt deutlich weniger Spannungen in unserer Gesellschaft.

Lenzen: Ich finde den Begriff Wirklichkeit in dieser Diskussion passend. In Wirklichkeit steckt das Wort wirken, das heißt, etwas geschieht und hat Wirkungen. Das passiert unabhängig davon, was ich davon halte, und darauf muss ich in der Lage sein, vernünftig und passend zu reagieren.

Mir war klar, dass Olaf Scholz als Kanzler eine Impfpflicht auf den Weg bringen würde. Dass er so tut, als sei das seine persönliche Meinung, ist insofern raffiniert, weil es die Person Olaf Scholz in so einem Zusammenhang gar nicht mehr gibt. Alles, was er jetzt sagt, sagt der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Lenzen: In so einer sehr grundsätzlichen Frage, die viele Menschen bewegt, ist es klug zu sagen, dass das Parlament frei in seiner Entscheidung ist. Die Idee des Fraktionszwangs ist sowieso eine bedenkliche, eigentlich müssten wir erwarten, dass jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete immerzu nach ihrem oder seinem Gewissen handelt.

So steht es im Grundgesetz. Werden wir die Pandemie mit einer Impfpflicht in den Griff bekommen? Man wird fatalistisch, denn: Immer wenn wir dachten, das Schlimmste überstanden zu haben, kam eine neue Virusvariante. Erst Alpha, dann Delta, jetzt Omikron …

Lenzen: Das Einzige, was wir als Wissenschaftler sagen können, ist: Das und das wird passieren, wenn folgende Bedingungen gegeben sind. Wenn sie aber nicht gegeben sind, wird etwas anderes passieren können. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind immer unabgeschlossen, in dem Augenblick, in dem sie ausgesprochen werden, sind sie schon Geschichte.

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Pandemie in den Griff bekommen, ist aber mit jeder Impfung größer.

Lenzen: Das stimmt auf jeden Fall. Und mit Sicherheit kann man auch sagen, dass der Schutz des Einzelnen vor einer Erkrankung größer ist, wenn er sich impfen lässt. Ein Experte hat einmal gesagt, dass bis zu 42.000 Virusmutationen möglich sind, was aber auch nichts heißen muss. Denn über die Beta-Variante hat beispielsweise niemand geredet, über Gamma auch nicht.

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Darf ich etwas zur Ständigen Impfkommission fragen: Warum brauchen wir die unbedingt noch, wenn der Impfstoff doch sowieso von anderen Stellen, die auch mit Wissenschaftlern besetzt sind, zugelassen wird?

Lenzen: Man geht bei der Stiko von einer besonders starken Unabhängigkeit aus, weil alle Menschen, die für sie tätig sind, das ehrenamtlich tun. Das ist einerseits ein Vorteil, weil es keine Abhängigkeiten gibt. Auf der anderen Seite heißt der ehrenamtliche Betrieb einer solchen Organisation aber auch, unter ihren Möglichkeiten zu bleiben.