Hamburg. Armut und Ausbeutung – die Zustände für Arbeiter waren ein Skandal. Es brodelt schon lange, da ruft eine Ausweisung Eskalation hervor.
Carl Legien und Adolf von Elm, die beiden großen Hamburger Gewerkschaftsführer, halten es für einen Fehler. Sie raten dringend ab, zu gering seien die Chancen auf einen Erfolg – und eine Niederlage würde einen weiteren Rückschlag für die Arbeiterbewegung bedeuten. Doch die Schauerleute haben genug: Sie wollen endlich höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Gut 1200 von ihnen stimmen an diesem 20. November 1896 für Streik und erscheinen am nächsten Tag nicht zur Arbeit.
Einen Tag später schließen sich die Kohlearbeiter an, am 24. November die Kessel- und Schiffsreiniger und bis 30. November schließlich fast alle Berufsgruppen im Hafen. Fast 9000 Arbeiter sind jetzt im Ausstand, der Hafen steht still. Es ist der Beginn des größten und längsten Streiks der deutschen Geschichte. Und er wird so erbittert geführt, dass er vieles für immer verändern wird.
Streik im Hamburger Hafen: Die Voraussetzungen
Es gärt schon lange im Hafen, der seit den 1850er-Jahren massiv ausgebaut worden war und lange boomte. Industrialisierung, neue Handelsverbindungen nach Lateinamerika und in die Südsee, der Aufschwung der Gründerjahre hatten Hamburg reich gemacht. Fast 25.000 Menschen arbeiten schließlich im Hafen. Doch ab den späten 1880er-Jahren kriselt es. Die Löhne der Arbeiter stagnieren, es gibt sogar Lohnkürzungen. Dabei ist das Leben nach dem Zollanschluss Hamburgs 1888 deutlich teurer geworden.
Die Lebensmittelpreise steigen, die Mieten auch. Außerdem werden die Arbeiter aus ihren angestammten Quartieren verdrängt: Für die Speicherstadt wird ein ganzer Stadtteil, in dem fast 20.000 Einwohner gelebt hatten, abgerissen. Und nach der Cholera-Epidemie 1892 (die auch den Hafen stillgelegt hatte) werden die alten Gängeviertel saniert. Viele Hafenarbeiter müssen nun aus weit entfernten Quartieren zu Fuß zum Hafen, weil der öffentliche Nahverkehr noch kaum ausgebaut und außerdem viel zu teuer ist.
Arbeitsbedingungen im Hafen sind skandalös
Ein einziger Skandal aber sind die Arbeitsbedingungen im Hafen. Tausende Schauerleute, Ewerführer, Speicher- und Kohlearbeiter, Schiffs- und Kesselreiniger sind Tagelöhner. Ohne feste Anstellung müssen sie jeden Tag darauf hoffen, dass ein Baas (Vermittler) sie anwirbt. Das geschieht in einem korrupten System, bei dem die Baase mit den Kneipiers zusammenarbeiten. Dort müssen die Arbeiter warten – und sind gezwungen zu trinken.
Denn nur, wenn sie genug Umsatz machen (und regelmäßig eine Runde spendieren), vermittelt sie der Wirt an den Baas, der auch noch Provision verlangt. Ausgezahlt wird der Lohn dann später im Hinterzimmer der Kneipe, und die Zeche wird natürlich zuerst abgezogen. Auch die Fähre, die die Leute zum Arbeitsplatz bringt, muss noch bezahlt werden – das kostet bis zu zehn Prozent des Tageslohns, der je nach Arbeit zwischen zwei und fünf Mark liegt. Dafür sind bis zu 13 Stunden lang zu arbeiten.
Hamburg ist deutsche Hochburg der Gewerkschaften
Vielen Seeleuten geht es noch schlechter. Sie müssen einen Schlafbaas für die Unterkunft bezahlen, der sie oft erst dann an einen Heuerbaas vermittelt, wenn sich Schulden aufgehäuft haben und der Seemann gezwungen ist, fast jedes Angebot anzunehmen. Wer keine Schulden hat, wird ungern vermittelt. Auch an Bord herrschen meist raue Sitten, es gibt Geld- und Haftstrafen für kleinste Vergehen – oft auch Prügelstrafen.
Im Gegensatz zu den großen Industriezentren an der Ruhr und in Schlesien sind die Gewerkschaften in Hamburg aber vergleichsweise stark, vielen gilt die Stadt als Hauptstadt der Arbeiterbewegung. Seit 1890 (und bis zum Ende des Kaiserreichs 1918) gewinnt die SPD stets alle Hamburger Reichstagswahlkreise. Und es sind nicht mehr nur Arbeiter, die sie wählen; viele Kleinhändler, Lehrer, Beamte sympathisieren mit den Sozialdemokraten.
Der Kampf endet in einer Niederlage
Die Gewerkschaften haben 1890 mehr als 30.000 Mitglieder, der deutsche Dachverband hat seinen Sitz in Hamburg (mit dem gelernten Drechsler Carl Legien an der Spitze), und auch die Genossenschaftsbewegung ist in Hamburg sehr populär.
1890 bedeutet aber auch einen Wendepunkt. In diesem Jahr versuchen die Gewerkschaften im ganzen Land (und vor allem in Hamburg), den Achtstundentag und kürzere Arbeitszeiten durchzusetzen. Trotz wochenlanger Streiks endet der Kampf in einer völligen Niederlage. Dies und die schwache Konjunktur in den 1890er-Jahren sowie die massive Verschlechterung der Lebensbedingungen setzen den Gewerkschaften schwer zu. Manche wollen die Beiträge sparen beziehungsweise können sie sich nicht mehr leisten, andere sind enttäuscht und kehren ihnen den Rücken. 1895 sind es in ganz Hamburg nicht mal mehr ganz 12.000 Mitglieder, im Hafen nur gut 2000.
Arbeitgeberverband kämpft gegen Gewerkschaften
Auch die Arbeitgeber organisieren sich, denn die allermeisten Betriebe sind klein oder mittelständisch (noch 1910 gibt es in ganz Hamburg nur fünf Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten). 1884 gründen zuerst die Reeder einen Verband, 1886 die Stauer und Quartiersleute, zwei Jahre später entsteht der mächtige Verband der Eisenindustriellen, in dem Hermann Blohm den Ton angibt.
Sie gründen eine Arbeitsvermittlungsagentur, über die alle Arbeiter eingestellt werden – staatliche Stellen oder so etwas wie ein Arbeitsamt gibt es nicht. 1890 schließlich kommt es zur Gründung des Arbeitgeberverbandes Hamburg-Altona – der unterstützt kleine Betriebe bei Streiks und sorgt dafür, dass Streikende nirgends Arbeit finden. Und der Verband kämpft offen gegen die Gewerkschaften – deren Mitglieder sollen grundsätzlich nicht eingestellt beziehungsweise zum Austritt gezwungen werden.
Die Vorgeschichte
1896 zieht die Konjunktur sprunghaft an, der Arbeitskräftebedarf im Hafen steigt stetig. Bald gibt es Lohnforderungen und Streikdrohungen. In dieser Situation will Tom Mann, Chef der Hafenarbeiter-Gewerkschaft von Großbritannien und Irland, nach Hamburg kommen und vor den Arbeitern sprechen. Kein weltbewegendes Ereignis, niemand rechnet mit allzu großer Resonanz – nur wenige Hafenarbeiter sind überhaupt Gewerkschafter, da ist internationale Zusammenarbeit kein Thema, das die Massen elektrisiert.
Doch am 15. September, als Mann in Hamburg seine Rede halten will, ist plötzlich alles ganz anders: Der Brite, der gegen keinerlei Gesetze verstoßen hat, wird von der Polizei festgesetzt und auf ein Schiff zurück nach England verfrachtet. Veranlasst hatte das Polizeisenator Gerhard Hachmann, übrigens gegen den dringenden Rat der Politischen Polizei, die davor warnte, auf diese Weise einen Märtyrer zu schaffen. Letztere, so betonen sie, seien „den deutschen Sozialdemokraten heilig“.
Adolf von Elm springt als Redner ein
Adolf von Elm, Hamburger Gewerkschaftsführer und Reichstagsabgeordneter, der einige Jahre in den USA gelebt hatte, sollte eigentlich Manns Rede übersetzen, nun springt er als Redner ein. Die Anwesenden erfahren erst jetzt, dass Mann ausgewiesen wurde; die Stimmung kocht. Von Elm hält, wie immer, seine Ansprache „in durchaus gemäßigten Formen“, wie es im Bericht eines Polizeispitzels heißt.
Dennoch tobt die Menge. In den kommenden Tagen werden massenhaft Flugblätter verteilt, in denen gegen das Vorgehen der Behörden protestiert wird, die Versammlungen der Hafenarbeiter und Seeleute haben plötzlich riesigen Zulauf – und die Hafengewerkschaften verdoppeln schnell ihre Mitgliederzahl. Nach diesem klassischen Eigentor der Behörden brodelt es in den kommenden Wochen gewaltig.
Im November kommt es zu Verhandlungen
Bis Mitte Oktober kommt es zu kleineren Streiks bestimmter Gruppen, etwa der Akkord-Stückgutarbeiter, mit denen Lohnerhöhungen durchgesetzt werden können. Auch einige Kesselreiniger und Kaiarbeiter haben so Erfolg. Das motiviert die Mehrheit der Hafenarbeiter: Am 15. Oktober versammeln sich die Stückgutarbeiter und setzen eine Lohnkommission ein, die einen Tarifentwurf erarbeitet. Am 1. November gibt es eine große Versammlung mit mehr als 2000 Schauerleuten, die das Papier mit großer Mehrheit annimmt.
Die Forderung wird den Unternehmern am 6. November zugestellt, und eine Woche später gibt es tatsächlich eine Verhandlung. Zwar sind die Arbeitgeber bereit, 30 Pfennig pro Tag mehr zu bezahlen (was angesichts eines Jahreseinkommens von oft nur 800 bis 900 Mark nicht ganz so lächerlich ist, wie es heute klingt), alle anderen Forderungen zur Arbeitszeit, der Beförderung im Hafen oder der Art der Lohnauszahlung aber lehnen sie kategorisch ab. So kommt es am Freitag, 20. November, im „Tütge‘schen Lokal“ am Valentinskamp zu der folgenschweren Versammlung der Schauerleute: Nur 40 der 1200 Anwesenden sind gegen den Streik.
Der Streik beginnt
Carl Legien, Adolf von Elm und die anderen Gewerkschaftsführer stecken in einem Dilemma. Zu viele Faktoren sprechen gegen einen Erfolg: der viel zu geringe Organisationsgrad und deswegen auch viel zu geringe Rücklagen, um länger Streikgeld zahlen zu können. Auch die Jahreszeit ist extrem ungünstig, denn im nahenden Winter kommen viel weniger Schiffe, der Arbeitskräftebedarf wird also sinken.
Außerdem sind im Winter viele Land- und Bauarbeiter witterungsbedingt arbeitslos und stehen als potenzielle Streikbrecher zur Verfügung. Trotz dieser Einschätzung bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als den Arbeitskampf nach Kräften zu unterstützen, denn eine rasche Niederlage würde der ganzen Arbeiterbewegung einen schweren Schlag versetzen. Also beginnen sie, Unterstützung zu organisieren.
Viele Gruppen folgen den Schauerleuten
Der Streik weitet sich unerwartet schnell aus. Den Schauerleuten (der größten Gruppe im Hafen mit rund 5000 Männern) folgen schnell die Ewerführer (2000), Kohlen- und Kornarbeiter, Kessel- und Schiffsreiniger, Seeleute, Kranführer und Donkeyleute, Schiffsmaler und Ende des Monats auch die Speicherarbeiter und die Maschinisten. Das ist beileibe keine homogene Gruppe. Da sind etwa die ungelernten Schauerarbeiter, die als Tagelöhner wenig zu verlieren haben, und die fest angestellten Kaiarbeiter, die auch im fortgeschrittenen Alter noch auf eine Verwendung als Pförtner oder ähnliches hoffen dürfen.
Da gibt es Getreidearbeiter, die das Korn in Säcke füllen, deren Arbeit fast jeder schnell übernehmen kann, und die hochspezialisierten Ewerführer oder Donkeyleute, die schwer zu ersetzen sind. Dennoch treten sie alle gemeinsam in den Ausstand. Der Hafen steht weitgehend still.
Streikende entlassen, Streikbrecher gesucht
Die Arbeitgeber reagieren schnell und entschlossen. Am 26. November werden alle Streikenden entlassen, in ganz Deutschland werden in Annoncen Streikbrecher gesucht – und es sollen 1000 italienische Arbeiter angeworben und nach Hamburg gebracht werden. Sogar Büropersonal wird abkommandiert, um die Lücken zu füllen – allerdings ohne großen Erfolg. Während die Reeder kompromissbereit sind, übernimmt mit Werft-Chef Hermann Blohm ein Hardliner die Führung auf Arbeitgeberseite.
Er erklärt die Auseinandersetzung zur „grundsätzlichen Machtfrage“. Sein Ziel ist nicht die Beilegung des Konflikts, sondern der bedingungslose Sieg. Niemals dürften Gewerkschaften als Verhandlungspartner anerkannt werden, Sozialdemokraten seien gefährliche Umstürzler, die es zu bekämpfen gelte.
Unerwartete Hilfswelle
Die Wortführer der verschiedenen kleinen Arbeitergruppen glauben zu Beginn nicht, dass sie den Ausstand finanziell länger als eine Woche durchhalten können – sie verlangen von der SPD Hilfe. Um den Streik zu finanzieren, werden nun schnell Haussammlungen organisiert. Die Gewerkschafter und Sozialdemokraten ziehen von Haus zu Haus, auch zu den Ladenbesitzern, um Geld zu sammeln.
Die Resonanz ist überraschend positiv (wenn auch bei manchem Kleinhöker, der vor allem Arbeiter als Kunden hat, nicht ganz freiwillig). Gesammelt wird aber bald in ganz Deutschland, denn der Streik hat große Resonanz. Mit den Familienangehörigen der Streikenden sind es bis zu 40.000 Menschen, die versorgt werden müssen. Jeder Arbeiter bekommt 9 Mark Streikgeld pro Woche zuzüglich einer Mark für Ehefrau und jedes Kind.
Im Hafen herrscht Chaos
Die Organisation verläuft reibungslos, was wohl vor allem von Elm zu verdanken ist. Der erfahrene Gewerkschafter hat kaufmännisches Wissen (er ist Geschäftsführer der Tabakarbeitergenossenschaft) und großes Organisationstalent. Jeden Tag müssen die Arbeiter ihre Kontrollkarten von den Streikposten abstempeln lassen, am Ende der Woche gibt es das Streikgeld. Die Disziplin und die Ordnung bringt viel Respekt ein, auch in bürgerlichen Kreisen.
Die Hoffnungen im Arbeitgeberlager, das die Finanzschwäche der Gewerkschaften genau kennt, auf einen raschen Zusammenbruch erfüllt sich also nicht. Die Verluste, vor allem der Reeder, sind gewaltig – sie können sich aber nicht durchsetzen. Dabei herrscht im Hafen Chaos: Die Zahl der Schiffe, die auf Abfertigung warten, wird immer größer. Es gibt viel zu wenige Streikbrecher und die sind angesichts der ungewohnten Arbeit unproduktiv. „Jeden zweiten kann man zu gar nichts gebrauchen“, sagt Albert Ballin, der mächtige Hapag-Chef.
Auch in anderen Häfen wird gestreikt
In den ersten Wochen gibt es auch Solidaritätsaktionen in anderen Häfen: In Harburg und Bremen wird ebenfalls gestreikt; die Waren von aus Hamburg umgeleiteten Schiffen werden auch in den Ostseehäfen nicht gelöscht – doch das ebbt nach kurzer Zeit ab.
Und obwohl Tom Mann vollmundig die Hilfe der englischen Hafenarbeiter zusichert, passiert wenig – es treffen sogar englische Streikbrecher in Hamburg ein.
Senat versucht zu vermitteln
Der Senat, der sich ausschließlich aus Kaufleuten und Juristen, also Großbürgern, zusammensetzt, hat nicht die geringsten Sympathien für Sozialdemokraten und Gewerkschaften, sorgt sich aber um den Hafen, der nur vier Jahre nach der Cholera-Katastrophe (die Epidemie kostete fast 9000 Menschenleben, das Wirtschaftsleben stand wochenlang still, Hamburgs Ruf war extrem ramponiert) schon wieder wie stillgelegt ist.
Polizeisenator Gerhard Hachmann regt nun ein Schiedsgericht an, besetzt mit ihm selbst, Bürgerschaftspräsident Siegmund Hinrichsen und Hermann Noack (Präsident des Gewerbegerichts): Es soll die von den Arbeitern angeprangerten Missstände untersuchen und Kompromissvorschläge vorlegen. Die Streikenden nehmen das Angebot an, auch die Reeder signalisieren Unterstützung – doch Blohm und die anderen lehnen sofort ab. Das würde bedeuten, dass man mit Gewerkschaften „auf Augenhöhe“ rede, was inakzeptabel sei.
Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf
Als Reaktion rufen die Gewerkschaften zum Generalstreik im Hafen auf – und die Zahl der Streikenden steigt immer weiter an: Kurz vor Weihnachten werden es 16.500 sein. Die Fronten verhärten sich deutlich. „Man will uns zu einer Horde willenloser Sklaven herabwürdigen“, heißt es in einem Flugblatt vom 5. Dezember.
Die Solidarität vor allem in den Großstädten ist gewaltig. Allein am 9. Dezember gibt es in Berlin sechs gut besuchte Massenveranstaltungen. Auch aus dem Ausland kommen Spenden – am Ende wird es die für unmöglich gehaltene Summe von 1,613 Millionen Mark werden, die durch Sammlungen zusammenkommt. Im Dezember kann das Streikgeld zweimal um je eine Mark wöchentlich erhöht werden.
Lokführer geben heimlich Tipps
Der Senat indes positioniert sich offiziell noch nicht und wankt in seinen Entscheidungen. Einerseits gestattet er, dass Streikbrecher auf Schiffen und in den Schuppen wohnen dürfen (was eigentlich strikt verboten ist), andererseits erteilt er den 1000 Italienern keine Arbeitserlaubnis. Auch den Einsatz von Marineeinheiten, den die Unternehmer fordern, lehnt er ab.
Mit den deutschen Streikbrechern beginnt ein Katz- und Mausspiel; wann immer es geht, lassen die Arbeiter sie nicht in den Hafen, an Bahnhöfen sind Arbeiter postiert, um die abzufangen. Nun werden sie mit der Hafenbahn direkt zu den Schuppen transportiert – aber regelmäßig geben die Lokführer Tipps, damit sie doch noch abgefangen werden können. Am 9. Dezember scheinen die Arbeiter auf der Siegerstraße: 254 Schiffe warten auf Reede, die Waren stauen sich überall, es kommt zu Engpässen in der deutschen Industrie, die auf Rohstoffe und Zulieferungen wartet. Doch die Fronten bleiben verhärtet.
Unterstützung für die Arbeitgeber
Die Regierung in Berlin verurteilt den Streik scharf, er sei völlig unbegründet. Kaiser Wilhelm II. würde am liebsten das Militär einsetzen. Alfred von Waldersee, den Kommandanten des in Altona stationierten X. Armeekorps, ermuntert er, „ordentlich zuzufassen, auch ohne nachzufragen“. Außerdem ordnet er staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen SPD-Reichstagsabgeordnete an, die in den Großstädten zu Sammlungen für die Streikenden aufrufen.
Die Ruhr-Industriellen stärken den Hamburger Kollegen öffentlich den Rücken für „ihren Dienst, den sie dem Vaterland leisten“, und ermuntern zu einer harten Haltung. Neue Vorstöße des Senats lehnt Hermann Blohm weiter ab: Weder die Vermittlung noch die Einsetzung einer Senatskommission hält er für akzeptabel – erst müsse der Streik beendet werden. Dafür verlangen die Arbeitgeber nun, der Senat solle eine Erklärung zu ihren Gunsten abgeben, was mit elf zu sieben Stimmen abgelehnt wird.
Senat ergibt sich den Unternehmern
Der Druck auf den Senat wird allerdings immer größer, und am 14. Dezember gibt er schließlich nach und ergibt sich den Unternehmern: Den Arbeitern ist das Betreten des Freihafens nun verboten, Polizisten treiben Streikgruppen auseinander – und er verbietet die Haussammlungen. „Die Haussammlungen der im Ausstande befindlichen Arbeiter sind in Folge des neuerdings immer zudringlicher gewordenen, gelegentlich sogar mit versteckten Drohungen verbundenen Auftretens der Sammler zu einer unleidlichen Belästigung und Bedrängung der Bewohner in Stadt und Land ausgeartet“, heißt es in einer Bekanntmachung.
Doch dieser Schlag geht ins Leere: Die Sammler lassen die Spender vorgedruckte Zettel unterschreiben, in denen sie darum gebeten werden, einmal wöchentlich zu kommen – das Verbot wird so schnell ausgehebelt.
Der Winter greift ein
Noch vor Weihnachten kommt der Wintereinbruch, die Oberelbe friert zu, der Binnenschiffsverkehr wird eingestellt; auch die Zahl der einlaufenden Seeschiffe sinkt. Nun stehen deutlich mehr Fachkräfte für deutlich weniger Arbeit zur Verfügung. Die Gewerkschaften suchen nach einer Ausstiegs-Strategie, denn die Zeit spielt jetzt gegen sie.
Der Senat wird um Vermittlung gebeten, was der auch tun will, doch die Arbeitgeber – jetzt siegessicher – wollen nur einem Schiedsgericht zustimmen, das „sonstige Mängel“ in Hafen untersucht. Eine Verpflichtung, diese Mängel abzustellen, dürfe es aber nicht geben. Eine arbeitgeberfreundliche Erklärung des Senats samt eines Vermittlungsvorschlags wiederum lehnen die Arbeiter ab.
Aufrechterhaltung wird immer schwieriger
Der Streik geht also weiter bis ins neue Jahr, ist aber immer schwieriger aufrechtzuerhalten. Die Zahl der Streikbrecher nimmt nun zu, und der Senat greift immer härter durch: Streikgelder werden konfisziert (und müssen später erstattet werden); wer Streikbrecher bedrängt, muss mit Festnahme und Gefängnis rechnen.
Was macht ein Ewerführer? |
Schauerleute: Meist ungelernte Arbeiter, die Schiffe im Strom be- und entladen. In der Regel sind es Tagelöhner, die ab morgens 4 Uhr auf Vermittlung warten. Ewerführer: Ursprünglich ist der Ewer ein Transportboot mit Segel, was sich aber im Hafen als unpraktisch erwies. Man verwendete also antriebslose Schuten, die aber weiter als Ewer bezeichnet wurden. Die Ewerführer stakten die Schuten oder verwendeten Peekhaken, mit denen sie entlang der Kaimauern oder Fleete das Boot bewegen konnten. Ewerführer waren hochqualifiziert, das Staken und Peeken erforderte großes Geschick – die Lehrzeit betrug vier Jahre. Zunächst waren die Ewerführer selbstständig mit ihrer eigenen Schute, bald entstanden Ewerführereien mit Angestellten, die oft wochenlang auf den Schuten in kleinen Kojen lebten, weil sie die Waren bewachen und für die Befeuerung (Positionslichter) zuständig waren. Kaiarbeiter: Be- und entladen die Schiffe, die direkt am Kai festmachen. Der Großteil ist direkt bei der Stadt angestellt („Staatskai“), ab den 1890er-Jahren beschäftigen einige Reedereien wie die Hapag eigene Kaiarbeiter. Kesselreiniger: Sie erledigten die wohl unangenehmste Arbeit im Hafen und entfernten unter extrem gesundheitsschädlichen Bedingungen die salpeterhaltigen Rückstände in den Heizkesseln und -rohren der Schiffe. Sie arbeiteten oft im Liegen bei unerträglicher Hitze und sauerstoffarmer Luft. Schiffsreiniger: Sie hatten die Schiffe per Hand von Rost und Farbe zu befreien, bevor die Schiffsmaler tätig wurden. Speicherarbeiter: Die Arbeiter in der Speicherstadt, die die Waren dort lagerten. Donkeyleute: Arbeiteten auf Schuten, die mit einer Dampfwinde ausgestattet waren und bedienten dort die Winsch. Baas: Niederdeutscher Ausdruck für Vermittler. Die Baase vermittelten gegen Provision den Seeleuten eine Heuer und den Schauerleuten und Ewerführern einen Tagesjob. Wegen ihrer Methoden bei vielen verhasst. Aus dem Wort entstand in den USA der „Boss“. Vic: Stellvertreter (Vize) des Unternehmers, der für ihn die Aufsicht vor Ort führte, etwa über die Ewerführer. Seeleute: 640 Schiffe waren 1896 in Hamburg beheimatet, darunter rund 280 Segler – auf ihnen arbeiteten etwa 13.000 Seeleute: Matrosen, Maschinisten, Heizer, Trimmer, Köche, Stewards. |
Dennoch, und obwohl das Streikgeld weiter gekürzt werden muss, bleiben die Arbeiter kämpferisch. „Arbeiter! Genossen! Seid einig! Keiner werde zum Verräther an der gerechten Sache der Arbeit! Vorwärts! Je heißer der Kampf, desto größer der Sieg!“, heißt es in einem typischen Aufruf.
Das Ende
Am 16. Januar – der Streik dauert jetzt schon acht Wochen – kommt es zu einem Treffen in der Handelskammer. Die Arbeitgeber schlagen vor, Verhandlungen aufzunehmen, aber zuerst müsse der Arbeitskampf beendet werden. Die Gewerkschafter sehen das als großen Erfolg – endlich Verhandlungen – doch die Arbeitervertreter in der Kommission lehnen ab, sie wollen sofort verhandeln. Eine fatale Fehleinschätzung. Fünf Tage später lehnen die Unternehmer endgültig ab – nun plötzlich wollen die Arbeiter den ursprünglichen Vorschlag doch akzeptieren – doch sie bekommen nicht mal mehr eine Antwort.
Am 30. Januar empfehlen die Gewerkschaften schließlich den Abbruch des Streiks. Sie wollen unbedingt verhindern, dass der Arbeitskampf nach und nach „zerbröselt“ und drängen auf ein geschlossenes Vorgehen – bei einer Abstimmung sind aber 72 Prozent der Arbeiter dagegen. Doch die Lage wird immer hoffnungsloser; eine Woche später sind schließlich Zweidrittel für den Abbruch des Arbeitskampfs: Am 6. Februar 1897 ist der Streik vorbei.
Die Folgen
Auf den ersten Blick ist es ein Triumph der Unternehmer. Sie feiern den Sieg über den „Terrorismus der Sozialdemokratie“ und hoffen auf die Zerschlagung der Gewerkschaften. Zunächst wird nur jeder zehnte Arbeiter wieder eingestellt, die Löhne sinken kurzfristig sogar noch. Außerdem verlangen die Arbeitgeber vor der Wiedereinstellung den Austritt aus der Gewerkschaft. Adolf von Elm rät den Arbeitern, alles Verlangte zu unterschreiben – und dennoch in der Gewerkschaft zu bleiben. Viele machen es so.
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Wenn auch nicht sofort, so hat sich der Kampf für die Arbeiter dennoch gelohnt. Die eingesetzte Senatskommission tagt 59-mal; sie spricht mit Arbeitern und Gewerkschaftern, was einer Anerkennung gleichkommt – ein großer politischer Erfolg. Außerdem kommt es nun endlich zu Reformen. Die Lohnzahlung in den Kneipenhinterzimmern wird verboten, und es wird eine staatliche Heuerstelle geschaffen – die verhassten Heuer-Baasen gibt es nicht mehr. Außerdem wird ein besserer und billigerer Fährverkehr im Hafen geschaffen.
Streik am Hafen: Durchsetzung von Tarifverträgen
Mittelfristig gibt es viele weitere Fortschritte. Die Löhne ziehen bald an, und mit dem Bau der Hochbahn und des Elbtunnels zu Beginn des neuen Jahrhunderts kommen die Arbeiter problemlos in den Hafen. 1913 wird eine paritätisch besetzte Vermittlungsagentur für Hafenarbeiter geschaffen – die Zeit der Baase und der unternehmerkontrollierten Arbeitsvermittlung ist endgültig vorbei. Vor allem aber gibt es endlich Tarifverträge: Schon 1898 hatten die Schauerleute den Anfang gemacht, 1913 sind sie flächendeckend eingeführt Und die Gewerkschaften sind in Hamburg stärker denn je.
Hermann Blohm bleibt sein Leben lang ein erbitterter Gegner der Arbeiterbewegung. Seine Werft ist, vor allem wegen der maritimen Aufrüstung des kaiserlichen Deutschlands, hochprofitabel. Er stirbt 1930 in Hamburg.
Carl Legien bleibt bis zu seinem Tod 1920 in Berlin Chef des Dachverbandes der Deutschen Gewerkschaften. 1918 handelt er das „Stinnes-Legien-Abkommen“ aus, das unter anderem den Acht-Stundentag und die Schaffung von Betriebsräten vorsieht. 1920 organisiert er einen Generalstreik und bringt so den rechtsgerichteten „Kapp-Putsch“ zum Scheitern.
Adolf von Elm wird der führende Kopf der „Produktion“, der Dachgesellschaft der Genossenschaften mit eigenen Ladenketten, Fabriken, Wohnungen und vielem mehr. Er ist der Gründer der Volksfürsorge und stirbt 1916 in Hamburg – den Trauerzug begleiten Zehntausende.