Hamburg. Täter führte Polizei offenbar selbst zur Leiche. War es Mord oder Totschlag? Warum das Sexualdelikt nun im Vordergrund steht.
Sharif A. sitzt im weißen Polohemd vor dem Schwurgericht und wartet darauf, dass es endlich losgeht. Seit zehn Monaten sitzt der Angeklagte nun schon in U-Haft, und er weiß, dass ihm eine lange Freiheitsstrafe droht. Wie viele Jahre es im Falle einer Verurteilung werden, dürfte entscheidend davon abhängen, ob sich letztlich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Rechtsposition durchsetzt: Während die Anklagebehörde ihn für den Vergewaltiger und für den Mörder der 20 Jahre alten Viktoria L. hält, sieht das Gericht bisher nur einen „hinreichenden Tatverdacht“ wegen Totschlags. Diese Konstellation dürfte den weiteren Prozessverlauf prägen.
Gleich zu Beginn der Verhandlung am Montag taucht die erste Ungereimtheit auf. Nach seinem Geburtsdatum gefragt, antwortet Sharif A.: 8. Februar 1998. Als das Gericht nach einer Altersangabe fragt, die in einer weiteren Personalie des Angeklagten steht und ihn als 26-Jährigen ausweist, weicht er aus. Fragen mit Bezug zu diesem delikaten Thema hat das Gericht am Montag denn auch „vorerst zurückgestellt“.
Prozess: Angeklagter soll 20-Jährige getötet haben
Der also 23 Jahre alte Angeklagte, der sichtlich älter aussieht, soll die junge Frau unter Drogen gesetzt, sie vergewaltigt und erstickt haben – all das im Keller ihres Elternhauses am Rahel-Varnhagen-Weg in Neuallermöhe. Die Staatsanwaltschaft hat ermittelt, dass Sharif A. ihr am Abend des 9. Januar je mindestens eine Tablette Methaddict und Tramadol gab und die 20-Jährige die Opiate konsumierte. Sodann habe er die eingeschränkte Widerstandsfähigkeit der Betäubten ausgenutzt, um sie zu vergewaltigen.
Doch ein winziger Rest an Handlungsfähigkeit sei der 20-Jährigen geblieben, sie habe sich gewehrt. Um auch ihren letzten Widerstand zu brechen und die Vergewaltigung fortsetzen zu können, soll Sharif A. seine Jeans auf das Gesicht seines Opfers gepresst oder den Kopf der 20-Jährigen derart kräftig auf seine auf dem Boden liegende Hose gedrückt haben, dass sie keine Luft mehr bekam und erstickte. Erst am folgenden Nachmittag bat Sharif A. einen Passanten, die Rettungskräfte zu alarmieren. Offenbar führte er die Sanitäter dann selbst zur Leiche im Keller, flüchtete aber, als die Polizei anrückte. Die Beamten fassten ihn in Tatortnähe.
Sexualdelikt von besonderer Bedeutung
Die Staatsanwaltschaft hat die Tat als Mord angeklagt. Sie geht davon aus, dass Sharif A. die Vergewaltigung nur beenden konnte, indem er sein Opfer umbrachte. Daher liege auch eines der sieben sogenannten „Mordmerkmale“ vor, hier: „Ermöglichung einer Straftat“. Das Schwurgericht hingegen sieht – nach Aktenlage – „keine hinreichenden Beweise“ für eine Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall.
Weil aber die Mordanklage an dem Sexualdelikt „hängt“, bleibt nach dem gerichtlichen Eröffnungsbeschluss nur Totschlag übrig. Das hat gravierende Folgen: Während Totschläger nur „in besonders schweren Fällen“ eine lebenslange Freiheitsstrafe bekommen können, steht auf Mord zwingend „lebenslänglich“. So spitzt sich der Prozess auf die Frage zu, ob der Geschlechtsverkehr an jenem Abend einvernehmlich war – oder eben nicht.
Viktoria L. berichtete Polizei von Stalker
Anwältin Claudia Krüger vertritt die aus der Ukraine stammenden Eltern von Viktoria L. in der Nebenklage. Die These vom einvernehmlichen Sex stehe im Widerspruch zur Vorgeschichte von Täter und Opfer. Kennengelernt habe Viktoria L. den Angeklagten im Sommer 2020 auf Facebook, möglicherweise hätten sie gemeinsam ein paar Mal Drogen genommen. Immer wieder habe der Angeklagte der 20-Jährigen gesagt, er wolle Sex mit ihr, sie sei „seine Frau“. Zwei- bis dreimal täglich habe er sie angerufen. Seine Avancen hätten Viktoria L. indes kalt gelassen. Einmal sei sie von ihm geschlagen worden, so Krüger.
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Mitte Dezember 2020 berichtete sie der Polizei von einem Mann, der ihr nachstellte, einem „Stalker“. Dabei gab sie das Facebook-Profil des Angeklagten und seine Telefonnummer an. Nachdem sie auf der Wache Anzeige erstattet hatte, ließ sie einen Zeugenfragebogen aber unbeantwortet. Ermittlungen kamen daher nicht in Gang. Warum sich bei dieser Ausgangslage Täter und Opfer im Januar zu einem Treffen verabredeten, ist unklar.
Prozess: „Eltern schockiert und traurig“
Viktoria L. hatte gerade erst eine Ausbildungsstelle gefunden, als sie gewaltsam im Keller ihres Elternhauses starb. „Für Eltern ist es das Schlimmste, wenn das eigene Kind, zumal durch eine Gewalttat, stirbt“, sagt Nebenklagevertreterin Krüger dem Abendblatt. Die Eltern könnten die mit nur einem Satz begründete Eröffnungsentscheidung der Strafkammer nicht nachvollziehen. „Sie sind schockiert und traurig“, so Krüger. „natürlich hoffen sie auf die Höchststrafe in diesem Fall.“ Das letzte Wort in der ist allerdings noch nicht gesprochen.
Sharif A. war vor allem mit kleineren Delikten wie „Schwarzfahren“ in Erscheinung getreten. Seine erste Freiheitsstrafe – 15 Monate auf Bewährung – erhielt er 2020 wegen Abgabe von Betäubungsmitteln. Eine vorläufige Duldung des Libyers lief im April dieses Jahres aus. Am 29. Oktober wird weiterverhandelt. Auf die Frage der Vorsitzenden Richterin, ob da mit einer Erklärung des Angeklagten zu rechnen sei, hieß es von den Verteidigern, dies werde „erwogen“. Ein Urteil in diesem Verfahren wird nicht vor dem 21. Dezember erwartet.