Hamburg. Nach wie vor bestehe eine starke salafistische Szene, sagt Verfassungsschutzchef Torsten Voß. Auch Afghanistan bereite Sorgen.

Der martialisch anmutende Aufmarsch auf dem Steindamm am 28. Mai löste bei vielen Beobachtern blankes Entsetzen aus, darunter Ali Ertan Toprak. Der Hamburger Christdemokrat twitterte fassungslos: „Wir dürfen die Straße nicht länger diesen islamistischen Antisemiten überlassen!“

Dutzende religiöse Extremisten, in schwarzer Uniform und mutmaßlich von der verbotenen radikal-islamistischen Gruppierung Hizb ut-Tahrir (HuT) gesteuert, zogen mit judenfeindlichen Parolen und Kindersärgen über die Straße. Der Aufzug erinnerte Hamburg daran, dass die Stadt Heimat einer vitalen islamistischen Szene ist – und daran ändern auch die guten Nachrichten des Hamburger Verfassungsschutzes nur wenig.

Afghanistan: Sind Anschläge auf Europa zu befürchten?

Zwar sinkt die Zahl der Salafisten, die ein traditionelles islamisches System anstreben, und der „gewaltorientierten“ Dschihadisten seit gut drei Jahren – zurzeit ist sie auf dem tiefsten Stand seit sechs Jahren (Höchststand 2017: 780).

Wie das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) auf Abendblatt-Anfrage mitteilte, ordnete der Nachrichtendienst dem Spektrum bis Ende September nur noch 550 Personen zu: 282 Salafisten, 268 Dschihadisten. Das sind noch einmal 120 oder fast 20 Prozent weniger als im Dezember 2020. 65 Prozent besitzen demnach die deutsche oder die doppelte Staatsangehörigkeit.

Doch nach wie vor geht der Verfassungsschutz von mehr als 1600 Islamisten aus, die in Hamburg leben – auch im bundesweiten Vergleich ein Spitzenwert. Grund: Die Rückgänge bei den Salafisten/Dschihadisten seien „durch Zugänge insbesondere im Bereich der Hizb ut-Tahrir und anderer islamistischer Organisationen ausgeglichen worden“, hieß es aus der Behörde.

Keine Führungspersonen, Themen und Aktionsmöglichkeiten

Allein Hizb ut-Tahrir hatte im Vorjahr 300 Anhänger (2019: 250), die Furkan-Gemeinschaft zählt in Hamburg 170 Mitglieder. Im Fokus steht auch das Islamische Zentrum (IZH) mit der „Blauen Moschee“ an der Außenalster. Zuletzt hatte die Behörde auf Basis neuer Erkenntnisse schwere Vorwürfe erhoben: Das IZH sei ein direkter Außenposten des iranischen Regimes. Das IZH wies die Vorwürfe zurück.

Torsten Voß, Chef des Hamburger Landesamts für Verfassungsschutz
Torsten Voß, Chef des Hamburger Landesamts für Verfassungsschutz © picture alliance / dpa / Ulrich Perrey | dpa Picture-Alliance / Ulrich Perrey

Unter LfV-Chef Torsten Voß, der 2014 die Amtsgeschäfte übernahm, war die Zahl der in Hamburg identifizierten Salafisten auch deshalb sprunghaft angestiegen, weil diese Gruppe durch eine intensivierte Ermittlungsarbeit ins „Hellfeld“ gezogen worden war. Den strukturellen Rückgang erklärt die Behörde jetzt vor allem mit dem Fehlen von Führungspersonen und dem Schwund von Themen und Aktionsmöglichkeiten.

Terrormiliz IS weniger attraktiv für Islamisten

So waren Ausreisen nach Syrien und den Irak gestoppt, Koranverteilungsstände verboten worden. Kaum noch eine Rolle spiele zudem der Konflikt in Syrien und im Irak, einst das verbindende Thema der Salafisten in Hamburg. „Durch den Niedergang des ,Islamischen Staates‘ (IS) hat dieser seine Attraktivität eingebüßt“, sagte Voß dem Abendblatt.

Gleichzeitig hat der Verfassungsschutz einen immensen Druck auf die Szene aufgebaut, indem er öffentlich auf breiter Front aufklärte und seine Erkenntnisse in Ermittlungsverfahren mit Hamburger Bezug einflossen. Gebrauch machen die Nachrichtendienstler von Observationen, dem Überwachen von Telefonen und E-Mail-Accounts sowie der Informationsgewinnung durch „Quellen“ – das sind Menschen, die extremistische Organisationen für die Behörde unterwandern.

IS-Rückkehrer: Individuelle Gefährdungsbewertungen

Von Entwarnung könne indes keine Rede sein. „Auch wenn in Hamburg die Zahlen weiter gesunken sind, besteht nach wie vor eine vergleichsweise starke salafistische Szene in Hamburg“, so Voß weiter. Zudem habe sich der IS weltweit in Zellen reorganisiert. „Es besteht immer noch die Gefahr durch Einzeltäter.“ Auch die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan sei ein Thema. „Wir müssen uns die Entwicklung genauer anschauen, inwieweit dort ein Rückzugsraum für Terroristen entsteht und dort möglicherweise Anschläge in Europa vorbereitet oder geplant werden.“

Insgesamt 86 Hamburger Islamisten sind bisher nach Syrien ausgereist, etwa ein Drittel kam dort ums Leben, 36 sind in die Hansestadt zurückgekehrt. Weil von diesen Rückkehrern – IS-Mitglieder, teils kampferprobt – grundsätzlich noch eine Gefahr ausgehen kann, stehen sie unter besonderer Beobachtung der Hamburger Sicherheitsbehörden. „Es gibt individuelle Gefährdungsbewertungen, mit jedem wird gesprochen, es werden individuell und abgestimmt Maßnahmen gefahren, gegebenenfalls Ermittlungsverfahren geprüft“, sagt ein Beamter.

Acht IS-Frauen kehrten aus Nordsyrien zurück

Zu den Rückkehrern gehört auch die 24 Jahre alte Hamburgerin Daniela G., die sich 2014 dem IS angeschlossen, per Messenger für dessen Ideologie geworben und ihre kleinen Kinder im Umgang mit Waffen geschult haben soll. Sie wurde am 29. September festgenommen.

Am 6. Oktober ließ die Bundesanwaltschaft die Hamburgerin Solale M. am Flughafen Frankfurt festnehmen – sie war eine von acht IS-Frauen, die die Bundesregierung gemeinsam mit 23 Kindern in einer Chartermaschine aus Nordsyrien ausfliegen ließ. Sie soll 2014 eine Tochter aus einer früheren Beziehung gegen den Willen des Kindsvaters ins syrische IS-Gebiet mitgenommen haben.

Die Tochter und einen Sohn erzog sie im Sinne der radikal-islamistischen Lehre des IS und „setzte sie der Willkürherrschaft, ideologischer Indoktrination und Kampfhandlungen aus“, so die Bundesanwaltschaft. Gegen sie wird auch wegen Kindesentziehung ermittelt. Mit ihren Kindern saß sie seit 2017 in einem Camp in Nordsyrien fest, bevor die Bundesregierung sie jetzt zurückholte.

21 Gerichtsverfahren mit IS-Bezug in Hamburg

Ebenfalls im Flieger saß eine 33 Jahre alte IS-Rückkehrerin aus Bremen, die am 6. Oktober in Frankfurt mit einem Hamburger Haftbefehl festgenommen wurde. Ihr Mann soll bei Kampfeinsätzen eine „unbestimmte Anzahl von Menschen, darunter auch Kinder“ getötet, sie selbst an öffentlichen Bestrafungsaktionen gegen „Ungläubige“ in der syrischen Stadt Tal Abyad teilgenommen haben. Gegen sie wird unter anderem „wegen Kriegsverbrechen gegen das Eigentum und sonstige Rechte“ ermittelt.

Sollte es zur Anklage kommen, würde vermutlich in Hamburg verhandelt werden. In den vergangenen fünf Jahren sind am Hanseatischen Oberlandesgericht 21 Verfahren mit IS-Bezug eingegangen. Zuletzt war Omaima A., Witwe des IS-Top-Terroristen Denis Cuspert alias Rapper Deso Dogg, unter anderem wegen der Versklavung zweier Jesidinnen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden