Hamburg. Terrorangriff auf die USA nahm in Hamburg seinen Anfang. So wurden aus Studenten der TU Harburg die Todespiloten. Das große Dossier.

Wer wüsste es besser als Wissenschaftler einer Technischen Universität: Wenn eine Kettenreaktion beginnt, ist sie kaum zu stoppen. Bemerkt man sie noch rechtzeitig? Oder kann man nur zusehen, wohin sie führt?

Prof. Dittmar Machule denkt am Morgen des 11. September 2001 keine Sekunde an seinen ehemaligen Studenten. Nicht an die 152 Seiten dicke Diplomarbeit, die er zwei Jahre zuvor an seinem roten abgewetzten Arbeitstisch in der TU Harburg gelesen hat. Auch nicht mehr an die Widmung, über die er kurz gestolpert war. Sie stammte aus dem Koran: „Mein Gebet und meine Opferung und mein Leben und mein Tod gehören Allah, dem Herrn der Welten.“

Ach, als gläubiger Student könne man schon mal dem Allmächtigen danken, eine Diplomarbeit bewältigt zu haben – so hatte Machule es abgetan.

11. September – Ein Tag, der die Welt verändert

Im Hamburger Rathaus beginnt ein vernieselter Spätsommertag, der schon den Herbst ankündigt. Auch hier sind alle ganz mit der Gegenwart beschäftigt. Olaf Scholz (SPD) ist Innensenator. Für 14 Uhr steht ein Termin im Einwohnerzentralamt in seinem Kalender. Es geht um ausreisepflichtige Straftäter.

In zwölf Tagen wird gewählt. Und Innere Sicherheit ist das beherrschende Thema. Die Drogenszene am Hauptbahnhof, Straßenkriminalität, vermeintlich zu lasche Strafen für Wiederholungstäter. Im Landesamt für Verfassungsschutz beginnt man erst, verstärkt auch Islamismus in den Fokus zu nehmen. Von „Gefährdern“ aus einer „salafistischen Szene“ spricht noch niemand.

Ein sonniger Morgen in New York

In New York City ist der Himmel am frühen Morgen ungewöhnlich klar, keine Wolke zu sehen. In Palm Beach, Florida, 2000 Kilometer südlich, wartet die Stew­ardess Karin Ewald auf ihren Flug nach Hause. Sie ruft ihre Tochter in ihrem gemeinsamen Appartement in Upper Manhattan an. Die geht nicht ans Telefon.

Sept 11 Attacks Secret Files
Eine Überwachungskamera am Flughafen von Portland (Maine) filmte Mohammed Atta (rechts im blauen Hemd) am 11. September um 5.45 Uhr, al-Qaida hatte ihm befohlen, bei der Tat „sauber“ und gut gekleidet zu sein. © AP Content | AP

Am Flughafen von Portland, Maine, steht der ehemalige Student von Prof. Machule. Es ist 5.43 Ortszeit, die Maschine nach Boston steht auf dem Rollfeld. Ein Mitarbeiter der Abfertigung erinnert sich später, wie er dem Mann noch zurief: „Mr. Atta, wenn Sie jetzt nicht gehen, verpassen Sie Ihren Flieger.“

In dieser Sekunde ist es zu spät.

11. September – Wenige Stunden verändern die Welt

Vier Stunden später stürzen sich Menschen aus den Fenstern des brennenden World Trade Centers. Bei Temperaturen von bis zu 800 Grad schmelzen die Stahlträger der Zwillingstürme, rauschen in die Tiefe. Ein klebriger Film aus Schutt und Dreck legt sich über die „Hauptstadt der Welt“.

Sechs Stunden später ist von einem islamistischen Terrorakt die Rede. US-Präsident George Bush spricht von Vergeltung. Die deutsche Bundesregierung verspricht den Amerikanern kurz darauf „uneingeschränkte Solidarität“.

24 Stunden später zerren Feuerwehrleute weiter Leichen aus brennenden Trümmerteilen hervor. 2996 Menschen aus 92 Nationen sind tot, darunter auch Mohammed Atta und 18 weitere Attentäter, es gibt mehr als 6000 Verletzte.

„Hamburg Cell“ – Ermittlungen in der Hansestadt

60 Stunden später ist die schmale, ansteigende Marienstraße in Hamburg-Harburg hell erleuchtet. Die CIA ist vor Ort und viele ausländische Journalisten. 72 Stunden später steht die Presse an der Technischen Universität. Nachrichten von der „Hamburg Cell“, der Hamburger Terrorzelle, gehen um die Welt. War hier der Anschlag geplant worden?

26 Tage später wird der „War on Terror“ Wirklichkeit. Mit Unterstützung der NATO beginnen die USA einen Krieg in Afghanistan, der auch 59 deutsche Soldaten das Leben kosten wird.

Kampf gegen den Islamismus geht weiter

20 Jahre später endet der Einsatz in einem Fiasko für den Westen. Diesmal sind es Afghanen, die vom Himmel stürzen, nachdem sie sich verzweifelt an Flugzeuge klammerten. Die Hintermänner des Anschlags, die überlebten, sind teilweise noch in Haft, teilweise beschäftigen sie auch die internationalen Sicherheitsbehörden noch immer. Der Kampf gegen den Islamismus, heißt es in Hamburg, sei keinesfalls gewonnen.

Der 11. September 2001 war eine Zäsur – nicht nur für die Weltpolitik, sondern auch für Hamburg. Der Anschlag veränderte die Stadt und brannte sich besonders in ihr Gedächtnis ein. Er veränderte aber auch die Menschen, die durch die Explosionen in New York zum Teil der Weltgeschichte wurden.

Juli 2001: Eine letzte Absprache

Der Treffpunkt ist die hübsche Küstenstadt Tarragona an der Costa Dorada. Die spanische Zeitung „El Pais“ wird später anhand von Ermittlungsakten des FBI von sechs Teilnehmern schreiben.

Ramzi Binalshibh ist direkt aus Hamburg angereist. Er ist Jemenit, 29 Jahre alt, ein recht kleiner Mann von 1,72 Metern, auf dessen Kopf sich eine Glatze bildet. Seit sechs Jahren lebt er in der Hansestadt, war mit gefälschten Papieren auf den Namen „Omar“ eingereist, hatte sich zwei Jahre im Studienkolleg eingeschrieben.

In seiner Begleitung ist ein Mann, dessen Beschreibung auf Said Bahaji passt. Bahaji ist ein unscheinbarer Mann, geboren im niedersächsischen Haselünne. Nach seiner Jugend in Marokko kehrte er nach Deutschland zurück. Er studierte Elektrotechnik an der Technischen Universität in Harburg.

Klare Aufgabenverteilung bei der Terrorzelle

Die beiden haben klare Aufgaben. Bahaji ist der „Buchhalter“ der Gruppe, unterhält Kontakte zu den Finanziers und Hintermännern der al-Qaida. Binalshibh ist der Logistiker. Versuche, selbst ein Visum für die USA zu bekommen, sind gescheitert.

Aber zwei weitere Männer mit Hamburger Vergangenheit kommen bereits aus den Vereinigten Staaten. Für die letzten Absprachen. Marwan al-Shehhi, ein erst 23 Jahre alter Saudi, der ebenfalls in Hamburg studiert hat. Und Mohammed Atta. Sie sollen Flugzeuge in das Herz ihres Feindes lenken und dabei selbst sterben.

Wie wurde Mohammed Atta zum Terroristen?

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Mohammed Atta entwickelte sich im Laufe der Zeit zum Anführer der Hamburger Terrorzelle, so die Ermittler später. © AP Content | AP Content

Viel wird darüber spekuliert werden, ob die Terroristen in Hamburg den Anschlagsplan selbst entwarfen. Weitgehend unstrittig ist, dass Atta damals der Kopf der Gruppe ist. Osama Bin Laden habe ihm viel Spielraum bei der Umsetzung der Pläne gelassen, führt später ein US-Staatsanwalt vor dem Hamburgischen Oberlandesgericht aus. „Alles Ermessen in taktischen Dingen und in der zeitlichen Planung lag bei Atta.“ Und: „Niemand wäre auf die Idee gekommen, Attas Autorität anzuzweifeln.“ Das gehe aus seiner Kommunikation mit anderen Verschwörern hervor.

Wie der Ägypter Mohammed Atta seinen Hass entwickelte und zum Terroristen wurde, wird auch 20 Jahre später noch teilweise im Dunkeln liegen. Atta war bereits ein studierter Architekt, als er 1992 nach Hamburg kam. Hier studierte er bis 1999 Stadtplanung an der TU Harburg. Sicher ist, dass ein Waschbetonbau am Steindamm 103 in St. Georg eine Rolle spielte: die Al-Quds-Moschee, der erste Treffpunkt für gewaltbereite Dschihadisten in Hamburg. Alle insgesamt acht Mitglieder der Terrorzelle waren häufige Besucher, beteten dort.

Der Plan für den Anschlag steht

Die Weltpresse wird versuchen, an jeden Wegbegleiter von Mohammed Atta heranzukommen, jeden Kommillitionen, mit dem er mehr als ein paar Worte wechselte. Bei Volker Hauth waren es viele Gespräche, über Jahre, einmal lebten sie drei Wochen lang unter einem Dach bei einer Feldstudie in Aleppo. Hauth studierte und arbeitete in der TU Harburg mit Atta zusammen an Projekten, diskutierte über Stadtplanung und die große Politik. „Zuerst war er distanziert, fast schon norddeutsch“, erinnerte sich Hauth später einmal in der „SZ“. Das habe er nie ganz abgelegt.

Atta habe sich nach seinem Studium in der Entwicklungszusammenarbeit engagieren wollen, die Meinungsfreiheit im Westen geschätzt und einen starken Gerechtigkeitssinn gezeigt, ohne je von Gewalt zu sprechen. „Über die USA hat er so viel geschimpft wie ich“, wird Hauth sagen. Und sich die Wandlung nie ganz erklären können. „Mohammed gönnte sich selber keine Auswege“, so Hauth gegenüber der „SZ“. „Er muss so unter Druck gestanden haben, und wenn man nicht den Deckel hebt, macht es irgendwann wumm.“

Nach dem Treffen in Tarragona ist der Anschlagsplan ausgereift. Wenige Wochen später kaufen die in den USA lebenden Attentäter die Flugtickets.

10. September 2001: Die Schläfer setzen sich ab

Die Drei-Zimmer-Wohnung in Harburg ist verlassen. Für insgesamt sieben Islamisten, die eindeutig der Terrorzelle zugeordnet werden, war sie über Jahre der Lebensmittelpunkt gewesen. Eine „Terror-WG“, wie der Boulevard titeln wird.

Nun ist von ihnen nur noch ein Mann in Deutschland: Mounir al-Motassadeq. Kein Anführer der Terrorzelle, aber ein Helfer. Indem er sich etwa um die Post und Überweisungen kümmerte, die Reisen der anderen verschleierte.

Said Bahaji und Ramzi Binalschibh, der Buchhalter und der Logistiker, haben sich in Richtung Pakistan abgesetzt. Binalschibh war das, was die Behörden einen „Schläfer“ nennen, für den das Studium in Hamburg nur Tarnung war. Und einer der Magneten, die auch weitere Muslime und Studenten unbemerkt in den Strudel der Radikalisierung zogen.

Von weltoffen zu radikal islamistisch

Einer von ist Ziad Jarrah. Er „wirkte nach außen freundlich und weltoffen, sympathisch und fleißig“, hält das Oberlandesgericht später fest. Der Libanese hatte christliche Schulen besucht, hielt die islamischen Regeln nicht streng ein, soll gern Alkohol getrunken haben. „Dies änderte sich mit zunehmendem Kontakt Jarrahs zu dem strenggläubigen Atta und dessen Bekannten“, so das Gericht.

Ziad Samir Jarrah bei Hochzeitsfeier in Beirut
Ziad Jarrah war kein strenggläubiger Muslim, bis er mit den Islamisten in Kontakt kam. Er hatte offenbar auch Zweifel an dem Plan (hier bei einer Hochzeit im Februar 2001 in Beirut). © picture alliance

Neben Atta und Marwan al-Shehhi macht sich nun auch Ziad Jarrah dafür bereit, sein Leben für den Tod von Amerikanern zu geben. Jarrah soll den United-Airlines-Flug 93 kapern und die Maschine in das Kapitol lenken, wie sein Komplize Binalshibh später sagt.

Ein Attentäter spielte mit dem Gedanken, auszusteigen

Ein Jahr zuvor hat Jarrah eine Märtyrerbotschaft gedreht, unter Anleitung der Propagandisten von al-Qaida in der Wüste Afghanistans. Ein Video zeigt die Entstehung der Aufnahmen. Jarrah wirkt da kaum zu allem entschlossen, er trägt eine Brille mit braven runden Gläsern, lächelt immer wieder, bricht ab, scheint abgelenkt.

Er solle dramatischer sein, sagt ein Mann aus dem Off. Später wird auch bekannt, dass Jarrah eine deutsche Freundin hatte, noch in letzter Minute über ein Aussteigen aus der Operation nachgedacht habe. Aber Ziad Jarrah entschließt sich, der Mann zu sein, den er in dem Video darstellt.

11. September: Der Anschlag

American-Airlines-Flug 11 steht in Boston auf dem Rollfeld. Mohammed Atta sitzt fast ganz vorn in der Economy Class, Platz 8D. Bevor die Maschine startet, telefoniert er ein letztes Mal. Es hat funktioniert, Gott ist groß. Sie sollen beten, sobald sie drin sind. So stand es in der Anleitung, die ihnen al-Qaida gab.

Mohammed Atta trägt ein leuchtend blaues Hemd, seine Schuhe sind poliert. Ein weiterer Terrorist direkt neben ihm. Zwei weitere vorn in der First Class, Reihe 2, noch einer zwei Reihen hinter Atta.

Am anderen Ende der Leitung ist Marwan al-Shehhi. Auch er und seine Gruppe haben es geschafft. Sie sitzen an Bord von United-Airlines-Flug 175, in der Warteschlange auf dem Rollfeld hinter Atta. Die Sicherheitsschleuse war kein Problem; niemand wurde auf die Teppichmesser im Handgepäck aufmerksam. „Thank you Sir, we wish you a pleasant flight“, haben sie am Gate gesagt.

Kaum Kontrollen, keine verstärkten Cockpit-Türen

Atta und al-Shehhi müssen denken, dass sie das Richtige tun. Es gibt damals noch keine strengen Kontrollen auf alle scharfen Gegenstände und Flüssigkeiten. Keine verstärkten Türen zu den Cockpits. Fliegen, das ist noch der schöne Traum, dem Karin Ewald ihr halbes Leben verschrieben hat.

Sie feiert an diesem Tag ihren 65. Geburtstag. Und sie will bloß nach Hause. 44 Jahre zuvor ist sie aus Hamburg nach Amerika gegangen, um eine Stewardess zu sein, die Welt zu sehen. Erst bei Eastern Airlines und Pan Am, damals ein glamouröser Job wie in „Catch me if you can“, dann mit Delta auf internationalen Routen. Sie freut sich auf ihr kleines Appartement, ein schönes Essen. „New York ist die ganze Welt in einem“, sagt Ewald. Nicht nur ein Symbol, sondern die Freiheit selbst.

Der „Fluch Allahs“ für Lügner

Um 8.14 Uhr ignoriert das Cockpit von American-Airlines-Flug 11 kurz nach dem Start eine Aufforderung der Bodenkontrolle, die Flughöhe zu steigern. In derselben Minute hebt United-Airlines-Flug 175 ab. Auf den Boardingkarten steht „LAX“, Los Angeles, als Ziel.

Es kann rohe Gewalt gewesen sein, mit der sich Mohammed Atta Zutritt zum Cockpit verschaffte. Ein Passagier wird noch vor dem Aufprall im World Trade Center erstochen – ein Israeli, der eine militärische Sonderausbildung genossen hatte. Vielleicht haben Atta und die Terroristen aber auch eine List genutzt, gelogen, um einen Überraschungsmoment zu schaffen.

So wie er es auch kurze Zeit später an diesem Morgen tut, obwohl der Koran für Lügner den „Fluch Allahs“ vorsieht.

Ein Fehler der Terroristen alarmiert die Flugaufsicht

Um 8.24 Uhr geht im Boston Con­trol Center ein Funkspruch aus dem Cockpit ein. Zu hören ist Atta, wie er offenbar mit den 76 Passagieren spricht. Möglicherweise hat er aus Versehen einen Knopf zu viel gedrückt. Er wirkt nicht aufgeregt, nicht wütend. Atta: „Wir haben einige Flugzeuge, bleiben Sie einfach ruhig, und wir werden okay sein. Wir kehren zum Flughafen zurück.“

Flugaufsicht: „American Airlines 11, versuchen Sie uns anzurufen?“

Atta: „Niemand bewegt sich, alles wird gut.“ Noch mal, nicht bewegen, „sonst gefährden Sie sich selbst und das Flugzeug. Bleiben Sie einfach ruhig.“

„Entführtes Flugzeug auf dem Weg nach New York“

Die Flugaufsicht in Boston ist alarmiert, sie verfolgt die Route des Flugzeugs, aber es dauert 13 Minuten, bis der Luftraumschutz um einen Kampfjet gebeten wird.

Fluglotse: „Hi, Boston Center, TMU hier, wir haben ein Problem, wir haben hier ein entführtes Flugzeug auf dem Weg nach New York (...) und wir brauchen jemanden, der einige F-16 losschickt (...).“

Der diensthabende Sergeant: „Ist das die echte Welt oder eine Übung?“

Fluglotse: „Nein, es ist keine Übung und kein Test“.

Seargant: „Ok, hey, ah, warten Sie eine Sekunde.“

Der Sergeant dreht sich um und ruft seinen Kollegen zu. „Hey, hey, hey, hey, hey, hey, hey, ernsthaft (...), absolut.“

Fünf Minuten später, um 8.42 Uhr, sind die Abfangjäger startbereit. Mohammed Atta lenkt das Flugzeug in eine leichte Kurve.

„O mein Gott, wir sind zu tief.“

In derselben Minute übernehmen die Terroristen auch United-Flug 175. Beide Piloten werden erstochen. Marwan al-Shehhi, der junge ehemalige Student der TU, nimmt im Cockpit Platz.

Am Newark International Airport in New Jersey startet United-Airlines-Flug 93. An Bord sind Ziad Jarrah und drei weitere Terroristen. Jarrah hat seiner Freundin einen Abschiedsbrief geschrieben. „Ich bin nicht von Dir geflüchtet, aber ich habe gemacht, was ich machen sollte“, heißt es darin. „Du solltest ganz stolz darauf sein, (...) und Du wirst das Resultat sehen.“

Um 8.44 Uhr gibt es die letzte Meldung von Bord des American-Airline-Fluges. Die Stewardess Amy Sweeney brüllt im hinteren Teil des Flugzeugs in einen Hörer: „Wir fliegen niedrig, niedrig, viel zu niedrig. Ich sehe Gebäude, ich sehe Wasser. O mein Gott, wir sind zu tief.“

Einschlag ins World Trade Center um 8.46 Uhr

Um 8.46 Uhr ist die Startfreigabe für die Abfangjäger erteilt. Sie stehen in Otis, Massachusetts. Aber sie haben keine genauen Koordinaten und keine Flughöhe von American-Flug 11.

Viele derjenigen, die in dieser Minute in den oberen Stockwerken des Nordturmes des World Trade Centers aus den Fenstern sehen, erleben diesen Moment wie in Zeitlupe.

Der riesige Rumpf der Boeing 767, der mit dumpfem Brummen auf sie zu rauscht und immer größer zu werden scheint, wie ein Ballon. Die Gesichter der Männer im Cockpit, das sie durch die Fensterschlitze erkennen können.

Fast 3800 Liter Kerosin explodieren beim Aufschlag in einem Feuerball. Es regnet Papier und Schutt, der Boden erbebt, der Turm neigt sich sofort ein Stück. Alle Passagiere und Hunderte Mitarbeiter der Büros zwischen dem 94. und 98. Stock sind sofort tot.

Sirenen füllen die Innenstadt, mehrere Tausend Notrufe gehen bei der Polizei in kürzester Zeit ein.

„Mach sofort den Fernseher an.“

In Hamburg sitzt Olaf Scholz im Einwohnerzentralamt. Draußen nieselt es bei 18 Grad Temperatur. Sein Handy klingelt. Der Führungsdienst der Polizei ist am Apparat und berichtet: Der Nordturm des World Trade Centers brennt, eben laufen erste Bilder über CNN. Scholz glaubt nicht an ein Unglück, wie er sich später erinnert, sondern geht von einem Anschlag aus. Auch Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) wird informiert. Er ist gerade in Wilhelmsburg, um sich über die Planung für die Internationale Gartenschau 2013 auf der Elbinsel zu informieren. Runde bricht den Termin ab.

Rund um die Welt verbreitet sich die Nachricht, oft mit demselben einfachen Satz: „Mach sofort den Fernseher an.“

Zweites Flugzeuge schlägt im Südturm ein

Um 8.56 Uhr dämmert Mitarbeitern der Flugsicherung, dass auch United-Flug 175 entführt worden ist. Auf Ansprache reagiert das Cockpit nicht mehr.

Zur gleichen Zeit schaltet auch der American-Airlines-Flug 77, der in Washington gestartet war, seinen Transponder ab. Fünf Terroristen haben das Cockpit übernommen.

Vielen Mitarbeitern von Büros im Südturm wurde gesagt, dass sie ruhig und an Ort und Stelle bleiben sollen. Offenbar soll geordnet evakuiert werden.

Um 9.02 Uhr ist der amerikanischen Luftabwehr klar, dass ein zweites Flugzeug entführt worden ist. Kameramänner, die den brennenden Nordturm filmen, hören United-Flug 175 über sich.

Die Maschine schlägt in Seitenlage in den Südturm zwischen der 77. und 85. Etage ein. Die Menschen in den etwa 30 darüberliegenden Stockwerken sitzen in der Falle. Flugzeugteile von United 175 durchschlagen das Gebäude und fliegen mehrere Blocks weit.

Fassungslosigkeit und Entsetzen

Im Hamburger Einwohnerzentralamt steht Olaf Scholz (SPD) mit einer Handvoll entsetzter Mitarbeiter vor einem Fernseher, der in einem der Büros läuft. Die Bilder der Rauchsäulen im Herzen New Yorks brennen sich ein. „Das Entsetzen war sofort spürbar“, wird Scholz später erzählen. „Niemand sagte ein Wort – wir waren sprachlos.“

Auch der Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes ist aus einer Besprechung vor einen Fernseher geeilt. Erst am Morgen hatte Reinhard Wagner einen Termin im amerikanischen Generalkonsulat. Die Amerikaner wollten sich über die Sicherheitslage in Hamburg informieren, über die Bedrohung durch Links- und Rechtsextremismus, al-Qaida wurde nicht angesprochen, auch nicht von den Amerikanern.

Im Hamburger Verfassungsschutzbericht des Jahres 2000 wird Al-Qaida-Führer Osama Bin Laden zwar erwähnt. Die bundesweit 2500 Anhänger umfassenden Organisationen, so heißt es dort, „beschränkten sich vornehmlich auf interne Veranstaltungen“ und „erörterten die sie bewegenden Ereignisse im Sinne ihrer ideologisch-religiösen Zielsetzungen und verhielten sich dabei höchst konspirativ“. Zu Hamburg steht nur ein Satz: „Es gibt Hinweise darauf, dass es auch in Hamburg Einzelpersonen gibt, die den ,Mujahedi‘ zuzurechnen sind.“

Drittes Flugzeug nimmt Kurs auf Washington D.C.

Um 9.24 Uhr läuft die Evakuierung beider Türme des World Trade Centers zügig an. Der gesamte Verteidigungsapparat der USA reagiert nun. Auch in Flug 93 erscheint eine Nachricht im internen Kommunikationssystem: „Vorsicht vor jedem Eindringen in das Cockpit. Zwei Flugzeuge haben das World Trade Center getroffen.“

Vier Minuten später stürmen die Terroristen das Cockpit dennoch. Sie töten die Piloten und zerren ihre Leichen in die Pantry. Fluglotsen in Cleveland hören die Schreie an Bord.

Ziad Jarrah übernimmt das Steuer. Vier Minuten später hört die Flugkon­trolle eine Durchsage, in der ein Mann mit arabischem Akzent sagt: „Ladies and Gentlemen, hier der Captain“, beinahe als wäre er ein Junge bei einem Spiel. Man habe eine Bombe an Bord. Um 9.37 Uhr aber teilt der Mann mit: „Sie haben unsere Bedingungen erfüllt, wir kehren zum Flughafen zurück. Also bleiben Sie bitte sitzen.“ Dass das Flugzeug schon Kurs auf Washington D.C. nimmt, statt zurück nach Newark, sagt er nicht.

„Ich weiß, dass wir alle sterben werden“

In Hamburg fährt Innensenator Scholz, begleitet von seinem Pressesprecher Christoph Holstein, zurück in seine Behörde am Johanniswall. Der Innensenator sagt alle weiteren Termine ab und bereitet die weitere Abstimmung vor.

Ebenfalls um 9.37 Uhr kracht der entführte American-Flug 77 in das Pentagon. Bei dem Aufschlag sterben alle 64 Insassen und 125 Menschen am Boden.

Die Passagiere von Flug 93 glauben dem „Captain“ nicht. Mehrere Männer wählen auf dem Handy die Nummer ihrer Liebsten, der Empfang ist teilweise schlecht, sie wirken gefasst. „Ich weiß, dass wir alle sterben werden“, sagt der Kalifornier Thomas Burnett. „Wir sind drei und werden jetzt etwas unternehmen.“ Zum Abschied nennt er seine Frau „Honey“ und sagt, dass er sie liebt.

ATTACKS PLANE CRASH
A Salvation Army band plays during a worship service near the site where United Airlines Flight 93 crashed during Tuesday's terrorist hijacking, Sunday, Sept. 16, 2001, in Shanksville, Pa. (AP Photo/Gene J. Puskar)
Passagiere sorgten mit einer Revolte dafür, dass die Entführer den Flug 93 bei Shanksville abstürzen ließen. Ihres Heldenmuts wurde später gedacht. © picture alliance /AP Photo | Gene J. Puskar

Amerikanischer Luftraum wird gesperrt

Die Stewardess Karin Ewald kann von ihrem Hotelzimmer in Palm Beach aus sehen, wie in engem Takt Dutzende Flugzeuge landen. Zum ersten Mal in der Geschichte haben die amerikanischen Behörden den Luftraum gesperrt. Im Fernsehen erzählen Kameramänner, die den Anflug der entführten Maschinen gefilmt haben, aber nichts realisiert haben. „Die dachten, das müsse ein Dreh für einen Film sein“, sagt Karin Ewald.

An Bord von Flug 93 machen sich die Passagiere dafür bereit, das Cockpit zu stürmen. Sie wollen mit ihrer Tat das Leben von Unschuldigen retten.

Sind auch Anschläge in Deutschland zu erwarten?

An der TU Harburg werden Seminare unterbrochen, es gibt nur noch die Ereignisse in New York. Dieser Tage steht ein Symposium zum Thema „Sicherung von Hochbauten“ auf dem Terminplan. Der Architekt des World Trade Centers, Minoru Yamasaki, litt unter Höhenangst. Er hat die Türme so konzipiert, dass die massive Außenwand einen großen Teil der Statik trägt, statt mehr zen­trale Stützen zu verbauen. Dass eine Boeing 767 sie und mehr als die Hälfte der Pfeiler des gesamten Bauwerks durchschlagen könnte, war unvorstellbar.

Olaf Scholz und Christoph Holstein haben die Innenbehörde erreicht. In Kürze, um 16 Uhr deutscher und 10 Uhr US-Ostküstenzeit, soll eine Krisensitzung beginnen. Sind auch Anschläge in Deutschland zu erwarten? Welche Gebäude müssen geschützt werden?

World Trade Center: Südturm stürzt um 9.59 Uhr ein

15th anniversary of 9/11 terror attacks in New York
Diese Aufnahme entstand nach dem Kollaps des Südturmes. 29 Minuten später stürzte auch der Nordturm ein. © EPA/ ABC NEWS | NEW YORK CITY POLICE

Um 9.59 Uhr halten die Stahlträger des Südturms in New York nicht mehr. Das Gebäude bricht zusammen und begräbt mehrere Hundert Menschen unter sich. Die Überlebenden sind von Staub und Schutt bedeckt, viele verletzt, sie irren wie Gespenster durch die Straßen von Manhattan. Schnell ist die Staubschicht so dick, dass auch Rettungsfahrzeuge nur noch langsam vorankommen oder sich kurzzeitig festfahren.

Nach einem Kampf von Entführern und Passagieren lenken die Terroristen Flug 93 um 10.02 Uhr zu Boden. Ziad Jarrah brüllt dabei „Allahu Akbar“. Das Flugzeug schlägt auf einem Acker bei Shanksville in Pennsylvania auf. Alle 44 Insassen sind tot. Aber weitere Todesopfer konnten durch den Einsatz der Passagiere verhindert werden. Der Absturzort bekommt später den Beinamen „Feld der Ehre“. Die Freundin von Jarrah erhält seinen Abschiedsbrief nie.

Blutende, staubige Wunden im Herzen New Yorks

September 11th Terrorist Attacks
Police officers and civilians run away from New York's World Trade Center after an additional explosion rocked the buildings Tuesday morning, Sept. 11, 2001. In unprecedented show of terrorist horror, the 110-story World Trade Center towers collapsed in a shower of rubble and dust Tuesday morning after two hijacked airliners carrying scores of passengers slammed into the sides of the twin symbols of American capitalism. (AP Photo/Louis Lanzano)
In New York flüchteten die Menschen vor der Wolke aus Staub und Schutt . © picture alliance / AP Photo | Louis Lanzano

Seit dem Einschlag funktioniert im Nordturm des World Trade Centers keiner der knapp 100 Fahrstühle mehr. Viele Ersthelfer kämpfen sich über die fensterlosen Treppenaufgänge nach oben, um die dort eingeschlossenen Menschen zu retten. Die Einsatzleitung will sie nach dem Einsturz des Südturmes abziehen. Aber die Zeit reicht nicht mehr.

Um 10.28 Uhr kollabiert auch der Nordturm. Er reißt mindestens 1000 weitere Menschen in den Tod. Auch mehr als 300 Feuerwehrleute verlieren im Zuge des Anschlags ihr Leben.

Im Herzen der Welthauptstadt klafft eine blutende, staubige Wunde. Auch das World Trade Center 7, ein Stahlbau halb so groß wie die Zwillingstürme, brennt und stürzt Stunden später ein.

Das Archivbild vom 11.09.2001 zeigt eine Frau, die sich nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York durch den Staub kämpft und Schutz in einem Bürogebäude sucht.
Eine Frau, die sich nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York durch den Staub kämpft und Schutz in einem Bürogebäude sucht. Bei dem Anschlag starben fast 3000 Menschen. © picture alliance / dpa

US-Präsident George Bush spricht in einem ersten Statement von einem Terrorakt. Die Bedeutung des Moments ist klar. Die Blattmacher von „Bild“-Zeitung und „FAZ“ entwerfen unabhängig voneinander dieselbe Schlagzeile: „Nichts wird mehr so sein, wie es war.“

Verstärkter Schutz für amerikanisches Generalkonsulat

Am Johanniswall wählt sich die Spitze des Sicherheitsapparates in eine Schaltkonferenz mit Innenminister Otto Schily (SPD), dem Bundeskriminalamt und dem Verfassungsschutz ein. Könnten die Anschläge ein Signal für weitere Taten an anderen Orten der Welt sein?

In Hamburg wird beraten, ob die Hochhäuser an der Mundsburg zum Ziel einer Terrorattacke werden könnten, doch am Ende entscheidet man sich gegen eine Räumung. Scholz ordnet an, dass das amerikanische Generalkonsulat und jüdische Einrichtungen verstärkt geschützt werden. Dabei deutet noch nichts darauf hin, wie stark die Stadt bald im Fokus stehen wird.

Bürgerschaftswahlkampf wird gestoppt

Später am Abend bespricht sich Scholz, der auch SPD-Landesvorsitzender ist, telefonisch mit Bürgermeister Runde. Beide sind einer Meinung: Der laufende Bürgerschaftswahlkampf wird erst einmal gestoppt. Die Staatsflagge am Rathausturm bekommt einen Trauerflor.

Bürgermeister Runde telefoniert mit US-Generalkonsulin Susan Elbow. Die beiden kennen sich gut. Dann wird er von Scholz über die Lage ins Bild gesetzt. Anschließend lässt er sich mit dem Bundeskanzleramt in Berlin verbinden. „Wir waren von den Bildern zutiefst erschüttert“, erinnert sich Christoph Holstein. Und doch: „Das Ganze schien weit weg zu sein. Wir hatten das Gefühl, das hat nichts mit uns zu tun.“ Noch.

Blumenmeer vor der Generalkonsulat

Am Abend fährt Scholz zum amerikanischen Generalkonsulat. Vor Hamburgs „Weißem Haus“ an der Außenalster liegt bereits ein Blumenmeer. Kerzen brennen. Ein Panzerwagen ist zum Schutz aufgefahren. Scholz gibt vor Ort dem „heute journal“ ein Interview. Vor dem Schlafengehen spricht Scholz zu Hause lange mit seiner Frau Britta Ernst über das Ereignis, über die Opfer. Die Aufnahmen von Menschen, die aus den Fenstern der Türme springen, berühren ihn. „Man wird diese Bilder nicht los.“

GERMANY ATTACKS REAX
Hamburg's Minister of the Interior Olaf Scholz gestures during a press conference in Hamburg, northern Germany, on Thursday, Sept.13, 2001. Police in Hamburg searched an apartment Wednesday evening where two man believed to be linked to the terror attacks in the United States once lived, police said. The apartment had been uninhabited since February 2001. (AP Photo/Fabian Bimmer)
Der damalige Innensenator Olaf Scholz (SPD) bei der Pressekonferenz nach Bekanntwerden der Terrorzelle © AP Photo / picture alliance | Fabian Bimmer

Karin Ewald geht ins Bett und weiß nicht, wie es weitergeht. Sie wollte sich eine Zahnbürste in einem nahe gelegenen Einkaufszentrum kaufen, wenigstens. Männer mit Maschinengewehren bewachten den Eingang. Später wurde die Mall geschlossen. Ihr Arbeitgeber Delta hat auch keine Informationen, was als Nächstes passiert.

al-Qaida-Fibel im Gepäck von Atta

Am Logan International Airport wird der Koffer von Mohammed Atta gefunden. Er war nicht mehr rechtzeitig in American-Airlines-Flug 11 verladen worden. Darin ist ein Testament, verfasst und unterschrieben in Hamburg im Jahr 1996. Und ein arabisches Schriftstück, eine Fibel, die ihm al-Qaida gab.

Der verschlossene, aber scheinbar friedliche Stadtplaner hat die Worte darin aufgesogen. Jeder Schritt war vorgezeichnet. „Wenn ihr das Flugzeug betretet: O Herr, öffne alle Türen für mich“, stand dort. „Ich erbitte deine Vergebung. Ich bitte dich, erleuchte meinen Weg. Ich bitte dich, erlöse mich von meiner Last.“

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12. September: „Spur führt nach Hamburg“

Viele Sonnenstunden und nur vereinzelt Schauer, vermerkt der Wetterbericht. Aber wen schert das. Die Erschütterung über den Anschlag hängt wie Blei über Hamburg, viele haben die Ereignisse noch bis in den späten Abend am Fernseher verfolgt. Comedy-Sendungen wurden aus dem Programm genommen. MTV und Viva spielen für unbestimmte Zeit statt Britney Spears und NSYNC nur „Only Time“ von Enya in Dauerschleife.

Im Rathaus der Hansestadt werden Kondolenzlisten ausgelegt. „Es fehlen die Worte, um auszudrücken, was in der Seele brennt“, schreibt einer.

Cousin eines Attentäters in Hamburg?

Die Nachricht, die die traurige Stille zerreißt, kommt um 18.06 Uhr. Nicht von Nachrichtendiensten, nicht durch offizielle Fernschreiben oder Kommuniqués von Regierungen oder Diplomaten. Sondern durch eine Pressemeldung des Springer-Auslandsdienstes (SAD).

Unter Berufung auf FBI-Kreise meldet der SAD in sieben kurzen Zeilen, dass Mohammed Atta, der als einer der Attentäter ausgemacht worden ist, einen Cousin namens Marwan al-Shehhi in Hamburg habe. Er soll in der Martinstraße 54 in 21073 Hamburg gewohnt haben, vermutlich, heißt es weiter, sei der Martin-Leuschel-Ring in Harburg gemeint.

Reporter kommt auf die Spur der Terroristen

Kurz darauf ist André Zand-Vakili, damals Polizeireporter der „Welt“ in Hamburg und heute für das Abendblatt tätig, unterwegs nach Harburg. Im Martin-Leuschel-Ring findet er keine Hausnummer 54, es gibt sie nicht. Auch sonst ist es in der Straße ruhig. Keine Polizei, kein Hinweis auf irgendeine Verbindung zu den Attentätern vom 11. September. André Zand-Vakili, den die meisten Menschen kurz Zand nennen, kennt sich aus, er stammt aus Harburg. Hier gibt es zwei weitere Straßen mit ähnlichem Namen, die Maret­straße und die Marienstraße. Er fährt zur Marienstraße.

Dort ist es so ruhig wie am Martin-Leuschel-Ring. Eigentlich will er schon wegfahren, doch aus einem Haus schaut eine Frau heraus, die Arme auf der Fensterbank verschränkt. Auch ihr ist keine Polizei aufgefallen. Aber dann erzählt sie von Männern, die im Haus mit der Nummer 54 gewohnt hatten, die lange Bärte und orientalische Kleidung getragen und immer laut gebetet hatten. Zand ist auf der Spur – und er ist der Erste.

„Was ist mit der Terroristenwohnung?“

Um kurz nach 19 Uhr ruft er die Pressestelle der Polizei an. Auch die Behörden haben festgestellt, dass es am Martin-Leuschel-Ring keine Hausnummer 54 gibt, und suchen fieberhaft nach der richtigen Adresse. In der Polizeipressestelle ist Jörg Lauenroth am Apparat.

Zand: „Was ist mit der Terroristenwohnung?“

Lauenroth: „Welche Terroristenwohnung?“

Zand: „Na, die Wohnung, in der die Terroristen gewohnt haben, die in das World Trade Center geflogen sind.“

Lauenroth: „Wo?“

Zand: „In der Marienstraße 54.“

Lauenroth: „Ich klär das.“

Terroristen haben Verbindung nach Hamburg

Der Rest ist Geschichte. Um 19.10 Uhr gibt Lauenroth die richtige Adresse an seine Kollegen weiter. Um 19.39 Uhr wird das Haus abgesperrt, um 19.50 Uhr das Bundesinnenministerium informiert. In einem internen Diagramm der Innenbehörde wird Zand-Vakili als entscheidender Hinweisgeber vermerkt.

GERMANY ATTACKS INVESTIGATION
A police car stands in front of a house in Hamburg, northern Germany, Thursday, Sept.13, 2001. Police in Hamburg searched an apartment in this house Wednesday evening where two men believed to be linked to the terror attacks in the United States once lived. The apartment has been uninhabited since February 2001.
13. September: Ein Polizeiauto vor dem Wohnhaus an der Marienstraße 54 in Harburg, in dem die Hamburger Terroristen jahrelang unbehelligt blieben. Der heutige Abendblatt-Reporter André Zand-Vakili lieferte den entscheidenden Hinweis. © picture alliance | AP Content

Für Olaf Scholz bedeutet die Nachricht die bis dahin größte Prüfung seiner politischen Laufbahn. Seine erste Reaktion? „Wilde Entschlossenheit“, erinnert er sich später. Wenn der Terror eine direkte Verbindung zu Hamburg hat, ist die Aufklärung mit aller Kraft voranzutreiben, um eventuelle Mittäter aufzuspüren – so seine ersten Gedanken. „Wir konnten nicht warten, bis uns eine offizielle Anfrage des FBI erreicht hätte, sondern mussten sofort handeln.“

Amerika taumelt und weint

Ein ungewöhnliches Vorgehen – und der Beginn einer „ganz schwierigen Zeit“, so Scholz. „Es war eine Situation, in der man alles richtig machen musste – am Ende auch, um sich selbst nicht ein Versäumnis vorwerfen zu müssen.“

Der Polizeiapparat wird hochgefahren. Im Lagezentrum des Präsidiums in Alsterdorf wird das Vorgehen koordiniert. Dort treffen gegen 20 Uhr auch Scholz, sein damaliger Staatsrat Dirk Reimers und Behördensprecher Christoph Holstein ein. Im Lagezentrum laufen auf den Bildschirmen die verschiedenen Nachrichtensender mit den Bildern aus New York, Washington und Pennsylvania.

Die Trümmer in Manhattan stapeln sich noch auf der Höhe eines fünfstöckigen Hauses, darin teilweise noch kleinere Brände. Die Feuerwehrleute, die viele Kollegen verloren haben, stemmen sich gegen fauligen Geruch, geschmolzene Stahlteile und die eigene Erschöpfung. Amerika taumelt und weint. Fast 10.000 Menschen gelten als vermisst.

Polizei betritt die Terroristenwohnung

An der Marienstraße bauen auch andere Medienvertreter ihre Kameras auf, sieben Journalisten sind bereits im Haus. Drei Zivilfahrzeuge der Polizei fahren mit Blaulicht vor. Um 20.09 Uhr wird die Marienstraße 54 offiziell als Terroristenwohnung eingestuft, um 20.47 Uhr die „Türöffnung über Schlüsseldienst veranlasst“, heißt es im Einsatzprotokoll der Polizei, das dem Abendblatt vorliegt.

Im Schein einer Taschenlampe tastet sich Kriminalhauptkommissar Uwe Jäkel in die 58-Quadratmeter-Wohnung vor. Links ein leeres Zimmer, rechts ein leeres Zimmer, geradeaus das Bad. Die Wände sind frisch gestrichen. Der Boden blank, die Küchenschränke leer. Es riecht noch etwas nach Putzmittel.

Wohnung ist penibel gereinigt

So wie die Al-Qaida-Führung sie mahnte, „sauber“ bei den Anschlägen zu sein, hatten sie auch die Wohnung hinterlassen. Selbst Spezialisten können nur an den Sanitäreinrichtungen noch Spuren der Attentäter finden.

Die Vernehmungen der Nachbarn beginnen. Sie berichten den Beamten von vier bis acht arabischen Personen, die hier ausgingen, viele hätten Bart oder Turban getragen.

Terror in USA: Suche nach Hintermännern - Spur nach Hamburg
Spezialeinheiten durchsuchten auch zahlreiche andere Adressen – und trafen dort Frauen und Kinder aus dem Umfeld der Terroristen an © AP Content | picture alliance

Reinhard Wagner vom Verfassungsschutz beruft für 21 Uhr eine Krisenrunde ein. „Ich war geschockt über den Bezug zu Hamburg“, erinnert er sich. Wagner und seine Mitarbeiter müssen schnell ein Puzzle zusammensetzen, von dem sie zuvor nur wenige Teile kannten. Zwar lag der Fokus zuvor auch auf ausländischen Extremisten, jedoch vor allem am rechten und linken politischen Rand.

Verfassungsschutz beobachtet nur einzelne Islamisten

Die Zahl der Stellen beim Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz war von gut 200 im Jahr 1990 auf 125 abgebaut worden. Die Begründung dafür war der Wegfall der Spionagetätigkeit durch die DDR. Vor dem 11. September hatten sie einzelne Islamisten beobachtet – „ohne dass wir aber Erkenntnisse über die Strukturen und Vorhaben hatten“.

Jetzt sind die Hinweise wertvoll, weil einige der Verdächtigen, wie sich herausstellt, zum Umfeld der Selbstmord-Attentäter gehören. „Was wir gesammelt hatten, erschien plötzlich in ganz anderem Licht“, erinnert sich der Verfassungsschutzchef. Eilig werden bis zum Morgen Erkenntnisse an das Landeskriminalamt übermittelt.

Attentäter als Studenten an der TU eingeschrieben

Verdächtiger
This undated photo shows Marwan Al-Shehhi, 23, identified as being from the United Arab Emirates, who was reportedly on the passenger list of United Airlines flight 175, and who German authorities have identified 13 September 2001 as one of the primary suspects in Germany in the 11 September 2001 terrorist attacks on US soil. Flight 175 dove into the second tower of the World Trade Center in New York. dpa (Nicht für Zeitschriften und TV, Urhebernennung WTVJ-NBC6 obligatorisch) +++ dpa-Bildfunk +++
Marwan al-Shehhi war mit 23 Jahren der jüngste Attentäter. Er lenkte ein Flugzeug in den Südturm. © picture alliance / dpa

Um 22.19 Uhr sendet das Bundeskriminalamt per Fax eine FBI-Liste von Verdächtigen. Mohammed Atta, 33 Jahre alt, und Marwan al-Shehhi werden darin als Passagiere von zwei der abgestützten Flugzeuge geführt. Die Beamten fragen Einwohnermelde- und Ausländerzen­tralregister auf diese und die übrigen Namen ab. Die Bestätigung: Al-Shehhi war in der Wilhelmstraße 30, Atta in der Marienstraße gemeldet. Schnell wird ermittelt, dass beide an der TU Harburg als Studenten eingeschrieben sind.

Um 23.55 Uhr rücken das Mobile Einsatzkommando, die Spurensicherung und ein Sprengstoffsuchhund an. Bis zum Morgengrauen werden weitere sieben Wohnungen mit der Begründung „Gefahr im Verzug“ überprüft, vier davon durchsucht – an der Bunatwiete, dem Schleemer Ring, Op de Wisch, Dortmunder Straße und Hansastraße.

Sprengfallen oder Bewaffnete?

Die Spezialkräfte gehen mit extremer Vorsicht vor. Haben die mutmaßlichen Terroristen Sprengfallen hinterlassen? Könnten gar bewaffnete Islamisten noch vor Ort sein? In der Wohnung im ersten Stock links der Bunatwiete 23, wo der Logistiker der Terrorzelle, Said Bahaji, gemeldet ist, trifft die Polizei nur eine arabische Frau und ein sechs Monate altes Baby an.

Seit Stunden versuchen die Ermittler, Kontakt zum Vermieter der Wohnung an der Marienstraße aufzunehmen. Doch das Büro von Thorsten Albrecht ist an diesem Abend verwaist. Es ist 22.30 Uhr, als sein Handy klingelt. Albrecht fährt gerade über die Autobahn. „In dem Moment denkt man nicht viel“, beschreibt er den Augenblick, als er erfährt, dass die Attentäter seine Mieter waren. „Er war ein netter Mieter“, wird Albrecht der „New York Times“ über Atta sagen.

„Vom Zuschauer zum Betroffenen“

Von Ende 1998 bis Anfang 2001 hatte Atta zusammen mit Said Bahaji und Ramzi Binalshibh in der Wohnung gelebt. Gekannt hat der Vermieter alle drei. Sie waren in seinem Büro in Altona. Jetzt findet er es „unangenehm, bei einem solchen Weltgeschehen vom Zuschauer zum Betroffenen zu werden, in die erste Reihe zu rücken“.

Olaf Scholz ist die ganze Nacht im Lagezentrum der Polizei vor Ort, ebenso wie sein Sprecher Christoph Holstein, Polizeipräsident Justus Woydt, sein Stellvertreter Wolfgang Sielaff und Polizeisprecher Reinhard Fallak.

Der folgende Tag wird heftig werden

Kurz nach 1.30 Uhr wird der Kanzler der TU Harburg, Jörg Severin, vom Klingeln seines Haustelefons aus dem Schlaf gerissen. Am Apparat ist Polizeipräsident Woydt.

„Wir müssen an Ihren Datenbestand“, sagt Woydt, sonst nichts.

Severin: „Jetzt?“

Stille. Dann, nach einigen Sekunden, fragt Severin: „Mein Gott, New York?“

Woydt: „Ja, jetzt, schnell.“

Nur 15 Minuten später steht Severin mit hastig übergeworfenen Klamotten im Computerraum der Universität. Aber er kennt das Passwort für die Datenbank aller Studierenden nicht. Eine Mitarbeiterin wird von der Polizei geweckt und mit Blaulicht nach Harburg gefahren.

Christoph Holstein bleibt bis zum Morgen im Lagezentrum, vor seinen Augen entsteht das Bild einer Terrorzelle. Scholz fährt kurz nach Hause. Er bringt seinem Sprecher ein frisches weißes Hemd mit. Denn es ist klar: Der folgende Tag wird heftig werden.

13. September: Tränen und Applaus

Beamte tragen in der Frühe einige Bleche mit belegten Brötchen in den Führungsstab. Christoph Holstein schaut einen Moment lang versunken aus dem Fenster und fragt: „Was ist, wenn sich herausstellt, dass wir Fehler gemacht haben?“

Im Erdgeschoss des Präsidiums beginnen zwei Polizisten damit, mehr als 100 Stühle aufzureihen und ein Podium zu errichten. Für eine Pressekonferenz. Um 5.40 Uhr gibt Hamburg die Ermittlungen an die Generalbundesanwaltschaft ab. Olaf Scholz hatte selbst darauf gedrängt, er befürchtet ein Chaos bei den Zuständigkeiten. Ein leitender Polizist hatte schon im Laufe der Nacht von einem „dicken Hund“ gesprochen, dem man hier begegnet sei. Zu dick selbst für die Polizei der Millionenstadt Hamburg.

Wohnungsdurchsuchungen und traurige Gewissheit

Olaf Scholz besteht jedoch auch darauf, die Weltöffentlichkeit bei der Pressekonferenz selbst zu informieren. Generalbundesanwalt Kay Nehm ist dagegen. Scholz, schon damals gut vernetzt und mit beträchtlichem Sendungsbewusstsein ausgestattet, schaltet seine Parteifreundin, Bundesjustizministerin Hertha Däubler-Gmelin, ein. Er darf die Pressekonferenz halten. Unterdessen wird auch die Wohnung von Ziad Jarrah an der Hansastraße durchsucht.

Der Präsident der TU Harburg, Christian Nedeß, erfährt erst am Morgen von den Neuigkeiten. Vom Auto aus ruft Nedeß gegen 7 Uhr in der Früh sein Büro an, das um diese Zeit üblicherweise noch verwaist ist. Kanzler Jörg Severin nimmt den Hörer ab. „Sind wir betroffen?“, fragt Nedeß. Die Antwort: „Leider ja.“

Hamburg, der „Geburtsort des Terrorismus“?

Es ist die extremste Erfahrung für Nedeß in seiner Karriere. Die Gewissheit, dass zwei der Todespiloten hier ihre Tage verbrachten. Inmitten der anderen Studierenden in der Mensa aßen, in den Bibliotheken saßen, über den zwischen sanften Hügeln gelegenen Campus gingen. Unauffällig, unerkannt.

Ständig klingelt danach das Telefon, die Medien, das FBI. Die Amerikaner werden Hamburg öffentlich als „Geburtsort des Terrorismus“ betiteln. Hinter den Kulissen ist der Umgang mit den deutschen Behörden zurückhaltender. „Die Amerikaner haben ja auch gewusst, dass sie einiges verpasst hatten“, erinnert sich der Verfassungsschützer Manfred Murck einmal rückblickend.

Bürgermeister Ortwin Runde und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) wollen an diesem Morgen ein starkes Signal der Solidarität setzen. Sie rufen die Hamburger dazu auf, im Gedenken an die Tausenden von Terroropfern um 10 Uhr für zehn Minuten die Arbeit ruhen zu lassen. Auch Busse und Bahnen des HVV stehen für fünf Minuten still. Viele Hamburger Kirchen öffnen ihre Türen für Andachten und stille Gebete.

Keine Hinweise auf Terrorgefahr in Hamburg

80 Journalisten sind um 11 Uhr bei der Pressekonferenz von Olaf Scholz vor Ort, darunter Vertreter von Medien aus der ganzen Welt. „Die Hamburger Polizei hat zu einem frühen Zeitpunkt (...) konsequent und entschlossen gehandelt“, erklärt Scholz. Diesen Ruhm will er sich nicht nehmen lassen. „Sie hat wie die Polizisten der Vereinigten Staaten in kurzer Zeit – wir sind noch nicht einmal 24 Stunden mit diesem Fall befasst – einen bedeutsamen Beitrag zur Aufklärung der furchtbaren Anschläge geleistet“, wird er in der Pressemitteilung zitiert. Es gebe keine Hinweise auf Terrorgefahr in Hamburg. Trotzdem blieben die Schutzmaßnahmen vorerst bestehen.

Scholz wird sich auch ausdrücklich vor den Hamburger Verfassungsschutz stellen. Keiner der Hamburger Behörden hätten Informationen vorgelegen, mit denen man die Anschläge hätte verhindern können, erklärt Scholz. Verfassungsschutzchef Wagner, selbst Mitglied der CDU, rechnet ihm die Rücken­deckung hoch an: „Die Anschläge sind hochkonspirativ geplant und vorbereitet worden.“

An der TU Harburg kursieren Gerüchte

Kurz vor 13 Uhr geht TU-Chef Christian Nedeß zum Audimax der Hochschule. Eilig wurde eine Vollversammlung einberufen, per Telefonkette. Nedeß denkt, er werde vor seiner Hochschule sprechen. Doch ihn erwarten auch viele Dutzend Journalisten und Kamerateams aus aller Welt im überfüllten Saal.

Unter den Studierenden kursieren bereits zahllose Gerüchte, Atta und weitere Attentäter hätten Flugzeugtechnik an der TU studiert und ihren Anschlag in Simulatoren auf dem Campus geübt. Die schlimmsten kann Nedeß entkräften. Aber: „Die Vermutungen, die Attentäter hätten in Hamburg gewohnt und an der TU studiert, scheinen sich zu bewahrheiten.“ Als er sagt, einer von ihnen habe „sogar acht Jahre studiert, sein Diplom erworben und nach dem Abschluss mit dem Status eines Studenten weiterstudiert“, geht ein Raunen durch den Saal.

Schweigemarsch und Gedenkveranstaltung

Die damalige Wissenschaftssenatorin Krista Sager (GAL), die ebenfalls gekommen ist, ringt mit den neuen Erkenntnissen und den Tränen. Als sie bei ihrer Ansprache schluchzend absetzen muss und ihre Stimme bricht, helfen ihr die Studierenden mit einem tosenden Applaus. Im Laufe ihrer Rede wird Sager kämpferisch. „Wir sind zu Recht stolz auf diese Universität, auf ihre Internationalität. Und die werden wir verteidigen.“

Zur selben Zeit ziehen mehr als 2000 Kinder und Jugendliche in einem Schweigemarsch vom Hauptbahnhof zur Moorweide. Rund 20.000 Menschen versammeln sich später im Gedenken an die Opfer auf dem Rathausmarkt. „Hamburg steht fest zu seinen amerikanischen Freunden“, sagt Bürgermeister Runde.

Hamburg: Trauer um Opfer der Terrorserie in den USA
Wie hier (l.) am amerikanischen Generalkonsulat nahmen die Hamburger großen Anteil an dem Leid in den USA. © picture alliance / dpa

Hunderte Schicksale, unendlicher Schmerz

In Manhattan, an öffentlichen Gebäuden und einfachen Zäunen, kleben noch Hunderte Plakate. Auf allen steht „Missing“, als letzter bekannter Aufenthaltsort der Vermissten nur knappe Angaben, etwa „WTC, 85. Stock“. Ein WDR-Journalist fotografiert eines von ihnen, auf dem „Bitte findet meinen Daddy“ steht, darauf das Bild eines jungen Vaters mit Baby auf dem Arm. Hunderte Schicksale, unendlicher Schmerz.

Die Retter sind erschöpft, und ihnen läuft die Zeit davon. Wer noch unter den Trümmern eingeklemmt ist und atmet, wird nicht mehr lange überleben können. Und die Helfer nicht zu sich rufen können, wenn auch die Akkus aller mit ihnen verschütteten Handys leer sind.

14. September: „Wir waren viel zu naiv“

Die Baracke an der Kasernenstraße auf dem Campusgelände ist versiegelt. Die Behörden haben nun Gewissheit, dass die Terroristen nicht nur an der TU Harburg studierten, sondern sich regelmäßig trafen. Zu einer „Islam-AG“. Mohammed Atta rief sie bereits 1999 ins Leben, wurde dazu beim Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) vorstellig. Der sah kein Problem. Es sei Atta, den hier alle „Amir“ nannten, eben um einen Gebetsraum gegangen. Wer wolle das an einer weltoffenen Universität verbieten?

Hamburger Terrorzelle (oben l-r) Zakariya Essabar, Abdullah Binalshibh, Said Bahaji, (unten l-r) Mounir El Motassadeq, Mohammed Atta und Abdelghani Mzoudi.
Bilder der Attentäter vom 11. September und der Hamburger Terrorzelle: (oben l-r) Zakariya Essabar, Abdullah Binalshibh, Said Bahaji, (unten l-r) Mounir El Motassadeq, Mohammed Atta und Abdelghani Mzoudi. © picture alliance / dpa

Sie konnten es nicht wissen. Nicht, dass Atta, al-Shehhi und weitere Attentäter bereits im Jahr 1999 nach Afghanistan gereist waren, um sich zu Soldaten des „Heiligen Krieges“ ausbilden zu lassen. Nicht, dass es später offenbar auch ein Treffen mit dem irakischen Geheimdienst gibt. Nicht, dass der Wahn ihrer Studenten spätestens noch ein Jahr früher begonnen haben muss, als Atta für einige Zeit vom Campus verschwand.

Als er wiederkam und seine Diplomarbeit im Fach Stadtplanung fertigstellte, hatte er sich einen langen Bart wachsen lassen, wirkte noch verschlossener als zuvor. Mehr war da nicht.

„Ausgenutzt und auf eine brutale Art hinters Licht geführt“

Was ist bloß passiert?

Prof. Dittmar Machule
Prof. Dittmar Machule von der TUHH vor einem Bild und mit Plänen von Ausgrabungen der Stadt Tall Munbaqa in Nord Syrien
Prof. Dittmar Machule von der TUHH vor einem Bild und mit Plänen von Ausgrabungen der Stadt Tall Munbaqa in Nord Syrien © Pressebild.de | Bertold Fabricius

Die Frage nagt an Prof. Dittmar Machule, er kann es zuerst nicht glauben. Er hatte seinen Studenten Mohammed Atta als besonders strebsamen Mann kennengelernt. Erst als der Wissenschaftler Kontakt zur Flugschule in Florida aufnimmt und sich von den Fluglehrern Attas dessen typische Gesten, Ausdrucks- und Verhaltensweisen schildern lässt, begreift er die Realität. „Ich fühle mich ausgenutzt und auf eine brutale Art wissentlich hinters Licht geführt“, sagt er später. Die Diplomarbeit Attas, sagt Machule, sei dennoch eine „ernsthafte, ehrliche Arbeit“, davon bleibt er überzeugt.

Flugschule in Venice in Florida
Eine der beiden Übungsmaschinen der privaten Flugschule Huffman Aviation in Venice (Florida), in denen Atta das Fliegen lernte. © picture alliance /wisedpa

Die Eltern des Attentäters in Ägypten erreichen seit dem Anschlag Briefe. Sie verurteilen seine Tat nicht. Sondern beglückwünschen die Eltern zu ihrem Sohn. „Das waren nicht einzelne. Das waren Hunderte“, wird ein leitender Beamter der Hamburger Innenbehörde sich später erinnern. Die Ermittlungen zeichnen den Pfad der Terroristen immer klarer. „Die Erkenntnisse zeigten, das wir viel zu naiv bei dem Thema islamistischer Terrorismus gewesen waren.“

USA erklären den „War on Terrorism“

Vier Tage nach dem Attentat will sich die Weltmacht USA aus ihrer Ohnmacht befreien. Mit aller Kraft wird versucht, die geflüchteten Terroristen zu verfolgen. Präsident George W. Bush steigert seine Vergeltungsrhetorik, die Nato hat den Bündnisfall ausgerufen. In zwei Tagen wird Bush vom „War on Terrorism“ sprechen. Osama Bin Laden streitet noch jede Beteiligung ab.

Karin Ewald kann endlich nach Hause. Ein Flieger bringt die Mitarbeiter der Fluggesellschaften zurück in die „Festung New York“, es ist Abend, als die Maschine im Landeanflug auf den LaGuardia Airport über Lower Manhattan und „Ground Zero“ schwebt. Alles ist erleuchtet von Baustrahlern, die verbliebenen Trümmer dampfen noch immer. „Es war unwirklich“, sagt sie später. „Man hat aber auch gespürt, dass es für Amerika ein Erwachen ist. Dass man jetzt weiß, stark, aber nicht unangreifbar zu sein.“

Epilog: Eine andere Welt

Das Ergebnis der Bürgerschaftswahl am 23. September 2001 ist eine Zeitenwende in Hamburg: Der Rechtspopulist Ronald Schill erringt mit seiner Partei 19,4 Prozent der Stimmen, Ole von Beust (CDU) wird mit seiner Unterstützung neuer Bürgermeister. Für die SPD und Olaf Scholz bedeutet das eine traumatische Erfahrung. Nie wieder, schwören Genossen bereits damals, wolle man wegen der Inneren Sicherheit eine Wahl verlieren.

Einige Tage, nachdem die Identität aller Todespiloten geklärt ist, nehmen die US-Geheimdienste eine Frau in das Zeugenschutzprogramm auf. Sie kann noch immer nicht erklären, wie das alles zusammenpasst. Der Mann, den sie liebte. Und die Tat, die er beging. Sie hatte noch versucht, sich zu wehren, als Ziad Jarrah plötzlich von ihr ein frommes Verhalten forderte. Hinterfragt, was mit ihm passierte. Hatte ihm in einer E-Mail geschrieben, dass Frauen nach ihrer gemeinsamen Religion mehr Rechte hätten, als er das vielleicht wisse.

Er, der frühere Sonnyboy, hatte angedeutet, dass er in den Dschihad ziehen könnte. Trotzdem heirateten sie. In der Al-Nur-Moschee, nicht dort, wo Jarrah und sein Freundeskreis sonst beteten. Er habe sich geschämt, weil sie keinen Schleier trug, erzählt sie später einmal.

Al-Quds-Moschee als Keimzelle des Terrors

Die Al-Quds-Moschee am Steindamm, das wird nach dem Anschlag erst allmählich klar, war der Nährboden für die Hamburger Terrorzelle. Es tauchen die Bilder der Hochzeit des Terroristen Said Bajaji auf, auch Filme, wie im Jahr 2000 etwa der bekannte Islamist Mohammed Fazazi in der Moschee mehrere Predigten mit Aufrufen zum Dschihad hielt. Eine Blackbox, in der der Hass über Jahre unbemerkt gären konnte.

Al Kuds Moschee - Al Kuds Moschee Steindamm 103 Eingang Mitte des Hauses - Moschee liegt im 1. Obergeschoss. Hier trafen sich alle Terrorpiloten und Unterstützer
Die Al-Quds-Moschee am Steindamm 103 gilt als Keimzelle des islamistischen Terrors in Hamburg. Auch hielten bekannte Islamisten aus dem Ausland dort Hasspredigten. Ihren Familien erzählten die Attentäter nichts von den Anschlagsplänen. © HA | Michael Arning

Bis sich das ändert, dauert es auch nach dem Anschlag noch Jahre. Die Al-Quds-Moschee benennt sich in Taiba-Moschee um, der Trägerverein wechselt. Aber die Hintermänner und ihre Botschaften bleiben dieselben, so der Verfassungsschutz. Erst 2010 wird die Moschee von der Stadt geschlossen. „Der Spuk ist vorbei“, sagt der dann amtierende Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU). Das gilt aber keineswegs für die dschihadistische Szene. Sie wächst über Jahre weiter an. Eine Gefahr von islamistischem Terror aus und in Hamburg bestehe grundsätzlich weiter, betont der Verfassungsschutz bis heute regelmäßig.

„Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan

Am 7. Oktober 2001 beginnt der NATO-Einsatz unter Führung der USA in Afghanistan. Nach einer internationalen Studie wird der „Krieg gegen den Terror“ am Hindukusch, im Irak und in Pakistan insgesamt 1,3 Millionen Todesopfer bis zum Jahr 2015 fordern.

Die Wohnung an der Marienstraße steht bis Ende 2002 leer. Dann ziehen zwei Studenten ein, die sich an der Vergangenheit nicht stören. Bis heute machen vereinzelt Touristen Fotos von dem Haus an der Einbahnstraße.

9/11 – Nichts wird so sein, wie zuvor

Im internationalen Luftverkehr werden dauerhafte und teilweise drastische Veränderungen eingeführt. Zusätzliche Kontrollen und Zugangsbeschränkungen, enge Höchstgrenzen für Flüssigkeiten und fast ausschließlich Plastikbesteck für die Verpflegung an Bord.

Es dauert einige Wochen, bis Karin Ewald nach dem 11. September 2001 wieder auf einem internationalen Flug arbeitet. „Erst mit einem mulmigen Gefühl“, sagt sie, „aber man tut eben trotzdem seinen Job“. Die Erinnerung wird bleiben, auch im Alltag. Bis heute. Wenn am Eingang zu jedem Museum eine scharfe Kontrolle wartet, wenn ein herrenloses Gepäckstück sofort kurze Angst auslöst. Was in Hamburg seinen Anfang nahm, „hat einiges wohl für immer verändert“, sagt Karin Ewald.

Die Welt wurde ein nervöserer, vorsichtigerer Ort.