Hamburg. Stadt der Zukunft: Konzepte und Visionen für einzelne Stadtteile liegen bereits vor. Was Hamburg von Paris lernen kann.

Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, träumt von der „Stadt der 15 Minuten“ – Ville du quart d’heure. In einem Radius von 15 Minuten sollen die Pariser zu Fuß oder mit dem Fahrrad alles erreichen können, was man unbedingt zum Leben braucht: Supermarkt, Schulen, Cafés, Kindergärten, Ärzte, Sportangebote, Erholungsflächen im Grünen. Langfristig will die Politikerin die Autos aus der Stadt verbannen.

Während die „Stadt der 15 Minuten“ sich erst am Horizont der Planungen abzeichnet, gelang der Vorkämpferin der innovativen Mobilitätswende jetzt ein weiterer Erfolg. Sehr zum Ärger der Konservativen: Seit dem 30. August 2021 gilt in Paris auf den meisten Straßen ein Tempolimit von 30 Kilometern pro Stunde.

Die Einwohner wünschten sich sichere Radwege, breitere Bürgersteige, eine ruhigere Stadt und keine Angst mehr vor zu schnell fahrenden Autos, heißt es in der Administration der 62 Jahre alten Sozialistin. Sie beruft sich auf eine Umfrage, nach der fast 60 Prozent der Einwohner für Tempo 30 votierten.

Verkehr in Hamburg: Visionen und Konzepte für Stadtteile

Von einer solchen tiefgreifenden Mobilitätswende wie in der französischen Hauptstadt ist Hamburg noch weit entfernt. Wer die Dominanz des Autoverkehrs inspizieren will, muss nur als Fußgänger unterwegs sein. Am besten beim Versuch, die Ludwig-Erhard-Straße zu queren. Dort brausen innerhalb von 24 Stunden bis zu 60.000 Fahrzeuge entlang. Donnernde Lastwagen, Pendler, Touristen in ihren Fahrzeugen.

Doch längst hat angesichts des Verkehrs­infarkts auch in Hamburg ein Umdenken begonnen. Dabei gerät das bislang schwächste Glied in der Kette des Straßenverkehrs in den Blick: der Fußgänger. Dem rot-grünen Senat ist es nach eigenen Angaben klar, dass die Entwicklung neuer Mobilitätskonzepte für Fußgängerinnen und Fußgänger ein wichtiger Bestandteil des neuen Bündnisses für Rad- und Fußverkehr sein muss.

Zahl der in Hamburg zugelassenen Autos steigt

Für einzelne Stadtteile – wie die Neustadt mit der Ludwig-Erhard-Straße – liegen bereits Visionen und Konzepte vor. Auch Oppositionspolitiker, engagierte Bürger und Verkehrsexperten diskutieren gerade ihre Vorstellungen, wie eine fußgängerfreundliche Hansestadt in naher Zukunft aussehen könnte. Einen Abschluss des hamburgweiten Prozesses gebe es zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings noch nicht, sagte ein Sprecher der Verkehrsbehörde.

Konsens ist: Damit es zu einer nachhaltigen Renaissance des Fußverkehrs kommen kann, muss der öffentliche Raum neu aufgeteilt werden. Und der ist für Fußgänger äußerst knapp und überhaupt nicht fair verteilt. Denn zu lange, betont der Verkehrsclub Deutschland, wurde der Autoverkehr in der Stadt- und Verkehrsplanung bevorzugt.

Der fließende und ruhende Autoverkehr beansprucht deswegen bis heute in den meisten Städten den Großteil des öffentlichen Raumes. Während ein Mensch zu Fuß lediglich einen Qua­dratmeter benötigt, verbraucht ein Autofahrer bei einer Geschwindigkeit von 25 Kilometern pro Stunde mindestens 60 Quadratmeter.

Schon im antiken Rom hatten Fußgänger das Nachsehen

Die Zahl der in Hamburg zugelassen Pkw ist in den Jahren von 2015 bis 2021 von rund 750.000 auf 805.000 gestiegen, ergab eine Große Anfrage der CDU-Bürgerschaftsfraktion. Sie beanspruchen viel Parkraum, zumal es nur wenige Quartiersgaragen gibt. Zwar hat Hamburg einen im Vergleich zu anderen Städten nach wie vor hohen Anteil an Fußgängern, heißt es im Fußverkehrskonzept Neustadt.

Er liegt stadtweit bei 27 Prozent (Kfz: 35 Prozent; Bus/Bahn: 22; Radverkehr: 15). Dazu kommen jeweils noch die Pendler. Doch Beispiele anderer deutscher Städte zeigen, dass Hamburg damit im unteren Bereich der vergleichbaren großen Städte liegt. Berlin-Mitte zum Beispiel erreicht einen Fußverkehrsanteil von 35 Prozent.

Nicht erst in der automobilen Gesellschaft haben Fußgänger und Flaneure das Nachsehen. Schon im antiken Rom hatten Fußgänger unter rücksichtslosen Wagenlenkern zu leiden, weiß Martin Schlegel, Referent für Verkehrspolitik beim BUND. Julius Cäsar habe deshalb im Jahr 45 v. Chr. verfügt, dass der notwendige Wirtschaftsverkehr nachts stattzufinden habe. So konnten sich die Fußgänger tagsüber relativ gefahrlos auf den Straßen und Wegen bewegen.

Durch Bau der ehemaligen Ost-West-Straße wurde der Stadtteil zerschnitten

Nach der Erfindung des Automobils gerieten die Gehenden abermals unter Druck. Autobahnen wie die AVUS (Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße) in Berlin wurden mitten durch die Stadt gebaut. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Autolobby nirgendwo mehr zu bremsen. Auch in Hamburg nicht. „Seit 1963 durchschneidet die Ost-West-Straße (heute: Ludwig-Erhard- (westl.) und Willy-Brandt-Straße (östl.)) Hamburgs Altstadt“, so Frank Engel­brecht.

Er ist Pastor an der Hauptkirche St. Katharinen und setzt sich mit einem lokalen Bündnis für die Fußgänger ein. Einst, sagt er, sei die Hamburger Neustadt ein zusammenhängender Stadtteil gewesen. „Durch den Bau der ehemaligen Ost-West-Straße wurde der Stadtteil in zwei Teile zerschnitten: die nördliche Neustadt zwischen Großneumarkt und Alster und die südliche Neustadt um den Michel“, ergänzt Quartiersmanager Sascha Bartz.

Das Aktionsbündnis setzt sich nun für weitere Querungen der Ludwig-Erhard-Straße, längere grüne Ampelphasen für Fußgänger sowie zusätzliche Überwege für Passanten zwischen Michel und Neustadt, am Hopfenmarkt, an der Zollen­brücke sowie zwischen Altem Elbpark und Planten un Blomen ein.

Bezirks­amt Mitte legte 2020 „Fußverkehrskonzept Neustadt“ vor

Noch mehr Konkretes hat das Bezirks­amt Mitte 2020 mit dem „Fußverkehrskonzept Neustadt“ vorgelegt. Es ist das erste dieser Art im Bezirk Mitte. Weitere Querungen für Fußgänger werden an der Kaiser-Wilhelm-Straße und an der Dammtorstraße empfohlen. „Ebenso soll störendes Fahrradparken durch hochwertige Angebote wie Fahrradbügel an geeignete Stellen verlagert werden“, heißt es in dem Konzept. Die Gesamtkosten eines möglichen „Schwerpunktprogramms fußgängerfreundliche Neustadt“ werden auf etwa 1,2 Millionen Euro beziffert. Erwartet werde, dass Einzelhandel und Gastronomie vom Fußverkehr profitieren.

Ziel ist auch, die Zahl der Verkehrsunfälle mit verletzten und toten Fußgängern zu reduzieren. Bundesweit kamen im vergangenen Jahr 417 Fußgänger auf den Straßen ums Leben. 65 Prozent der Getöteten waren 65 Jahre und älter, berichtet der Deutsche Verkehrssicherheitsrat. Mehr als die Hälfte starben bei Unfällen während der Dunkelheit und Dämmerung. In Hamburg wurden im Jahr 2020 nach Angaben der Polizei neun Fußgänger tödlich verletzt – auch hier waren schlechte Lichtverhältnisse ins Spiel.

Sonja Tesch ist Hamburger Landessprecherin von FUSS e. V. Der Verein vertritt bundesweit die Interessen der Fußgänger und fordert „gut beleuchtete und gepflegte Gehwege“. Gerade an den Straßen mit Bäumen müssten sich die Fußgänger oft in einem dunklen Tunnel bewegen. „Das ist gefährlich bei den häufigen Stolperfallen, ist aber auch unangenehm für das subjektive Sicherheitsgefühl.“

Senat hat „Beleuchtungs­initiative“ gestartet

Um mehr für die Fußgänger zu tun, hat jetzt der Senat eine „Beleuchtungs­initiative“ gestartet – ein fester Bestand für den Fußverkehr der Zukunft. Dass einiges zu tun ist, beweisen diese Zahlen: In der Hansestadt gibt es rund 124.000 Leuchtmasten und Lampen im öffentlichen Raum, das sind 165 pro Quadratkilometer und damit weniger als in München (400) und Berlin (250).

Nun will der Senat bis 2024 pro Jahr eine halbe Million Euro für mehr Lampen an Straßen und Plätzen investieren, selbstverständlich auf der Basis von Strom aus regenerativen Energien. „Die zusätzliche Beleuchtung wird ein wichtiger Beitrag für die Stärkung der Verkehrssicherheit und für die Mobilitätswende in Hamburg werden“, sagt Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne).

Fußgänger haben keine wirtschaftliche Lobby

Zur optimalen Planung für den Fußverkehr der Zukunft gehören auch breitere und vor allem sichere Wege ohne Stolperfallen. Die CDU-Bürgerschaftsfraktion hat deshalb vorgeschlagen, ein „Bündnis fürs Zu-Fuß-Gehen und bessere Gehwege“ in Hamburg zu schließen. Hamburg müsse eine Sanierungsoffensive für Gehwege starten, damit aus Stolperfallen endlich wieder Bürgersteige werden, sagt der Vorsitzende der CDU-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, Dennis Thering.

Außerdem seien Gehwege oft viel zu schmal, Mülltonnen, E-Scooter, Laternen und herausragende Bodenplatten versperrten den Weg. Um fußgängerfreundlich zu werden, braucht die Stadt breite und gepflegte Gehwege, fordert Sonja Tesch. Die Räume zwischen den Bäumen sollten nicht von geparkten Autos genutzt werden. „Ein besonderes Ärgernis sind die noch immer vorhandenen und teilweise sogar neu geplanten gemeinsamen Geh- und Radwege sowie die Gehwege mit dem Schild ‚Radfahrer frei‘“, sagt Tesch.

Dass es erfolgreiche politische Aktivitäten gibt, den öffentlichen Raum verstärkt für Fußgänger zu öffnen, zeigt der Jungfernstieg. Seit Oktober 2020 ist die Flaniermeile – Deutschlands erste (1883) asphaltierte Straße – weitgehend autofrei. Nur Taxis und Busse sowie Liefer- und Müllwagen dürfen zwischen 21 Uhr und 11 Uhr die Straße an der Binnenalster befahren. Radfahrer, so die Regelung, sollen nur noch die Fahrbahn benutzen. Dadurch haben Fußgänger mehr Platz auf der Promenade am Wasser.

Weg um die Außenalster ist Eldorado für Gehende

Ein Eldorado für Gehende – Spaziergänger, Jogger und Flaneure – ist in Hamburg traditionell der Weg um die Außenalster und seit einiger Zeit zudem der „2. Grüne Ring“ rund um die Innenstadt. Wer hier als Spaziergänger unterwegs ist, will weder per pedes zur Arbeit hetzen oder einkaufen, sondern entspannt und gesundheitsbewusst unterwegs sein. Der 2. Grüne Ring führt, rund zehn Kilometer vom Rathaus entfernt, vom Jenischpark im Westen über den Altonaer Volkspark, das Niendorfer Gehege, die Boberger Niederung bis zum Rüschpark. Der Fußgänger wähnt sich in den einzelnen Etappen wie in einer Urlaubslandschaft: Da gibt es romantische Seen, Dünen, kleine Flüsse, Parks und Laubwälder.

Die Erschließung dieser Strecke und das neue Leitsystem für Spaziergänger in der City – zum Beispiel auf den Landungsbrücken – zeigen, dass sich einiges für Fußgänger tut. Zwar haben sie noch immer keine starke wirtschaftliche Lobby. Denn das Bundesumweltamt kommt in einer Studie zu dem Schluss, „dass sich mit dem Fußverkehr keine direkten wirtschaftlichen Interessen vergleichbar der Automobilindustrie oder teilweise auch der Fahrradindustrie verknüpfen“. Anders als der Fahrradverkehr gelte der Fußverkehr „als unwichtig, unattraktiv und wenig zeitgemäß“.

Doch weil immer mehr junge Menschen nach Hamburg in die Innenstadt ziehen, hat ein Umdenken eingesetzt. Sie fahren aus ökologischen Gründen lieber auf Carsharing ab als auf den Besitz eines eigenen Autos. Und zum Einkaufen sind sie mit dem Lastenfahrrad unterwegs. Eine Studie zur Mobilität in Deutschland hat ergeben, dass im Unterschied zum ländlichen Raum der Fußverkehr in Me­tropolen wie Hamburg zugenommen hat. Tägliches Zufußgehen kommt demnach überproportional oft bei den 14- bis 19-Jährigen vor – und bei den mehr als 70-Jährigen.

„Wir hoffen“, sagt Sonja Tesch von FUSS e. V., „dass die Politik und die Behörden endlich verstehen, dass Gehen die Stadt belebt und als einzige Fortbewegungsart soziale Kontakte ermöglicht.“ Und dann verweist sie auf eine Stadt, an der sich Hamburg orientieren könnte: Paris, die Stadt der 15 Minuten – Ville du quart d’heure.