Hamburg. Bendix Beyer ist einer von vielen: Er studiert seit einem Jahr, war aber noch nie im Seminarraum. Was er bisher erlebt hat.
Bendix Beyer will es erst nicht zugeben, lässt seinen Frust dann aber doch raus: Der 18-Jährige ist enttäuscht. Das erste Jahr an der Uni hatte er sich anders ausgemalt. Mit einer spaßigen Ersti-Woche, persönlichen Treffen und wilden Partynächten. Stattdessen saß er allein vor seinem Laptop und lernte die anderen Studierenden über Zoom kennen. Kommenden Montag kommt Bendix ins dritte Semester, studiert endlich in Präsenz „Politikwissenschaft“ (PoWi) an der Uni Hamburg. Vorab lässt er das vergangene Jahr Revue passieren. War es ein verlorenes? Und was soll das neue Semester bringen?
Bendix sitzt vor dem Brunnen im Von-Melle-Park. Er sucht nach Worten, lässt dabei den Blick über die Gebäude der Uni gleiten. „Ich war schon teilweise ein bisschen lost“, sagt er. Lost bedeutet ahnungslos, unsicher und verloren. Es ist das Jugendwort des Jahres 2020. Zu der Zeit hatte Bendix schon einmal seine Geschichte im Abendblatt erzählt, sprach über sein Abitur, den Wechsel von der Schule zur Uni und wie er das erste Mal wegen der Corona-Regeln „ein bisschen lost“ war.
Das Gefühl der Verlorenheit wich, holte ihn im zweiten Semester dann aber wieder ein. Er erinnert sich: Weil die Uni digital ablief, ließ er es immer mehr schleifen. Stattdessen steckte er seine Energie in ein Tech-Start-up, für das er noch heute 17 Stunden pro Woche als Werkstudent arbeitet. Das tat und tut ihm nicht gut. Deshalb hört er bald auf.
Trotz Corona: Noten der Erstsemester haben sich verbessert
In seinen Noten spiegelte sich die fehlende Motivation allerdings nicht wider. „Ich bin im guten Einser-Bereich“, sagt Bendix kleinlaut. Er mag Angeber nicht und will nicht wie einer rüberkommen. Hastig fügt er an: „Vielleicht ist PoWi nicht schwer. Die sind schon wohlwollend. So richtig Probleme hat bei uns kaum einer.“ Mit Blick auf Bendix’ Semester und die älteren Jahrgänge sind die Noten im Schnitt offenbar besser geworden, wie zwei Professoren berichten.
„Die Ergebnisse in meinen Veranstaltungen sind durch die Bank einen Tick besser als in den Vorjahren“, sagt Peter Niesen, Professor für Politische Theorie. Bendix kennt ihn schon fast ein Jahr lang, machte in der Vorlesung „Theorien- und Ideengeschichte“ seine Bekanntschaft. Mehr als 300 Studierende waren online zugeschaltet. Der Professor mit der dunklen Hornbrille und dem weißen Haar sprach über die Philosophen Immanuel Kant und Jeremy Bentham. „Die Diskussionen mit den Anfängern und Anfängerinnen waren sehr gut“, sagt Niesen rückblickend.
Uni Hamburg: Professoren prüften mittels Take-Home-Exams
Damit sich alle mit dem Thema beschäftigen mussten, stellte der Professor nach jedem Termin einen verpflichtenden Test online. Zum Ende des Semesters folgte ein sogenanntes Take-Home-Exam. Das ist eine Klausur, die Studierende digital und ohne Hilfe lösen mussten. Die Studierenden konnten die Aufgaben bewältigen, weshalb Niesen feststellt: „Ich glaube nicht, dass man von einer verlorenen Generation sprechen kann.“
Auch Studiendirektor Professor Kai-Uwe Schnapp kommt zu dem Schluss, dass Bendix’ Jahrgang sowie der aus dem Vorjahr eher besser geworden sind. Er selbst habe keine Noten an die Erstsemester vergeben, sie jedoch kennenlernen dürfen. Sein Fazit: „Die Studienleistungen sind an einigen Stellen sogar besser geworden. Systematische Verschlechterungen habe ich dagegen nicht beobachtet.“ Ob die Digitallehre oder der intensivere Kontakt von Lehrenden zu Studierenden dazu geführt haben? Schnapp vermutet es.
Präsenzlehre für das Wintersemester geplant
Oder haben die Studierenden sich während der Prüfungen möglicherweise vernetzt? Ihre Ergebnisse verglichen? „Ich glaube nicht. Dafür hätten sie keine Zeit gehabt“, sagt der Studiendirektor. Spätestens bei den nächsten Präsenz-Prüfungen wird sich zeigen, ob er richtig lag. Allerdings werden ihm zufolge auch im kommenden Semester nicht alle Veranstaltungen online stattfinden. Viele Studieneinheiten bekämen dafür einen Präsenzanteil. Denn das kurze Flurgespräch zwischen den Vorlesungen oder die kurze Nachfrage vor dem Seminar beim Professor hätten vielen Studierenden gefehlt. Auch Bendix, der beides nur aus dem Gymnasium kennt.
Er sagt, das Alleinsein habe ihm nicht so sehr zugesetzt wie anderen. „In meinem Freundeskreis gibt es viele, die schlechter damit zurechtkommen.“ Doch obwohl er ihm zufolge nicht groß darunter gelitten hat, findet Bendix es klasse, sich endlich in der Mensa, im Seminarraum oder Vorlesungssaal verabreden zu können. „Im dritten Semester erlebe ich, wie es eigentlich sein sollte: Dass man sich ein wahnsinnig großes Netzwerk aufbaut. Dass weniger frontaler Unterricht und mehr Seminare stattfinden.“
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Einen Vorgeschmack auf das analoge Studentenleben durfte er schon kosten. Vor zwei Wochen war er im Molotow auf dem Kiez feiern, zuvor schon ein paarmal auf der Schanze. Außerdem durfte er vergangene Woche als Tutor die neuen Erstis an der Uni begrüßen, durchweg in Präsenz und ohne Maskenpflicht. Das Resümee des bald 19 Jahre alten Studenten: „Sozial gesehen läuft es immer besser.“