Kreis Pinneberg. 2020 entlassen ins Erwachsensein: Zwei Schulabgänger, deren Wege unterschiedlicher nicht sein könnten, berichten.

„Lost“. Das Jugendwort des Corona-Jahres lässt tief blicken. Es spiegelt ein Gefühl des Verlorenseins wider, wird mit „ahnungslos“, „unsicher“ und „unentschlossen“ übersetzt. Schnell – zu schnell? – stülpt es mancher einer ganzen Altersklasse über. Von „Generation Lost“ ist dann die Rede, gemeint sind die Jugendlichen und Schulabgänger, die jetzt eigentlich die Weichen für ihr weiteres Leben stellen wollen. Aber sind sie wirklich eine verlorene Generation? Wie fühlen sie sich, die im Corona-Jahr in die Welt der Erwachsenen entlassen worden sind? Was tun sie?

Das Abendblatt hat zwei Schulabgänger begleitet, beobachtet, sie reden lassen über große Pläne und geplatzte Träume, über Hoffnungen und Enttäuschungen, über Chancen und Perspektivlosigkeit.

Lara Burlein und Bendix Beyer haben im Sommer Abitur gemacht. Beide sind auf das Wolfgang-Borchert-Gymnasium in Halstenbek gegangen, beide sind im Corona-Jahr 18 Jahre alt geworden. Beide mussten ihre Pläne umschmeißen und sich neu ordnen. Während die eine gegen den Corona-Blues ankämpft, zelebriert der andere seine neue Freiheit.

Welche Träume sie hatten – und wie sie zerbrochen sind

Lara lebt mit ihren Schwestern und ihren Eltern in einem frei stehenden Familienhaus in Schenefeld. Im Souterrain befindet sich ein Zimmer, das auf die leere Rasenfläche hinter dem Haus ausgerichtet ist. Es ist das Zimmer der Schulabgängerin. Die junge Frau blickt auf die Bäume, die sich nackt gen Himmel strecken. Nur wenige Vögel verirren sich noch in die Baumkronen, sind doch viele bereits gen Süden geflogen. Vor dem Winter regt sich hier nicht mehr viel. Es herrscht Stille – ein Zustand, der sich auch auf Laras Leben übertragen lässt.

Die Corona-Zahlen sind hoch, und die Politik verabschiedet immer wieder neue Regeln. Das bedeutet mangelnde Planungssicherheit für Unternehmer. Die schicken ihre Angestellten in Kurzarbeit und halten sich mit der Vergabe von Praktikums- und Ausbildungsplätzen zurück. Davon ist Lara betroffen. Das Virus und seine Folgen haben ihren Lebensplan umgeworfen.

Die junge Frau wollte nach dem Abitur die Organisation Pro Namibian Child unterstützen. Ein Gespräch gab es schon. Und dann hätte sie ein Praktikum im Eventmanagement absolvieren wollen. So war der Plan. „Das wurde nichts“, sagt Lara. Ihr höfliches Lächeln verzieht sich zu einer schmalen Linie – ganz so, als hätte sie in etwas Saures gebissen.

Die Corona-Krise macht Laras Pläne zunichte

Ihr Traum, nach dem Abschluss an den Südatlantik zu fliegen und anschließend in Deutschland Berufsluft zu schnuppern, hat sich ausgeträumt – jedenfalls für die Zeit der Corona-Politik. Denn zum einen ist Namibia von Risikogebieten umgeben; die Infektionszahlen könnten über die Grenze schwappen und Lara zur Abreise zwingen. Zum anderen ist es nahezu aussichtslos, in einer Branche anzufangen, die gerade ums Überleben ringt. Deshalb fühlt sich die 18-Jährige „lost“. „Ich hänge in der Schwebe, weiß nicht, wann es weitergeht, wie ich mein Leben gestalte und was mit mir passiert. Ich fühle mich nutzlos. Das ist kein schönes Gefühl. Ohne Corona wäre das nicht so stark gewesen.“ Ohne Corona hätte sie eher die Chance gehabt, eigenständiger zu werden, sagt sie.

Seit dem Abitur hat sich für Lara nicht viel verändert: Sie lebt zu Hause, bewirbt sich und hilft ihrer Mutter mit den Familienpferden im Stall.

Kein Auslandsaufenthalt, aber der Gang zur Uni

Bendix lebt ganz anders. Bevor das Virus um die Welt ging, hatte er einen Vierjahresplan. „Ich kann quasi zu jedem Zeitpunkt sagen: Ich will erst das und dann das machen“, sagt er. Allerdings hat sich die Reihenfolge dann doch geändert: Statt ins Ausland zu gehen, danach Praktika zu absolvieren und im kommenden Wintersemester zu studieren, macht er es andersrum: Im Sommer arbeitet er in der Baufirma seines Vaters. Im November startet er mit dem Bachelorstudium Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Nach Corona möchte er ins Ausland – aber nicht mehr, wie ursprünglich geplant, nach San Francisco und Honolulu. „Ich finde das jetzt kulturell ein bisschen flach.“ Stattdessen will er nach Kathmandu oder in eine Stadt in Vietnam. Vielleicht auch als Auslandssemester. Und Bendix hat noch mehr Ideen: Er strebt einen Master und vielleicht eine Promotion an, überlegt, Unternehmer, Politiker oder Journalist zu werden.

Das Virus hat Bendix in seiner Berufswahl nicht aufgehalten. „Ich würde sogar sagen, es war gut für mich, weil ich mehr arbeiten konnte. Die erzwungene Selbstständigkeit durch Corona hat mich erwachsener gemacht. Das hat viel gebracht hinsichtlich meiner Charakterbildung. Ich bin zielstrebiger geworden.“

Er sagt, im Zuge der Pandemie sei er erst zweimal „ein bisschen lost“ gewesen – bei der wirren Online-Anmeldung fürs Studium und am Freitag, den 13. März.

Etwa 1100 Mädchen und Jungen haben Abi gemacht

An diesem Tag übt Bendix in Kleingruppen für die mündliche Englischprüfung. Alles läuft wie gewohnt. Doch dann ertönt eine Stimme durch den Lautsprecher. Der stellvertretende Schulleiter verkündet das weitere Corona-Vorgehen: Homeschooling ab Montag und neue Termine für einige Abiprüfungen, darunter Bendix’ mündliche. „Der Moment war gruselig. Das hatte was Apokalyptisches“, sagt er. Doch dann ist etwas Positives passiert, mit dem er nicht gerechnet hat. „Die Lehrerin, die uns sonst immer wegen unserer Ellenbogenmentalität kritisiert hat, wurde in dem Moment sehr nahbar. Das war da so ein kollektiver Zusammenhalt. Man hat sich in dieser Situation verbunden gefühlt.“

Die mündliche Prüfung wird mit zehn von 15 Punkten Bendix’ schlechteste Prüfung. „Das lag aber an mir und nicht an Corona“, sagt er. Insgesamt hat er einen Notendurchschnitt von 1,8 erreicht. Auch Laras ist mit 2,3 besser als der Mittelwert. Der liegt im Kreis Pinneberg bei 2,5. Etwa 1100 Mädchen und Jungen haben Abi gemacht. Die Zahlen aus dem Vorjahr sind ähnlich.

Lara Burlein hat ihr Abitur im Chaos-Sommer absolviert. Sie ist verloren in ihrer Berufsplanung und kämpft gegen den Corona-Blues an.
Lara Burlein hat ihr Abitur im Chaos-Sommer absolviert. Sie ist verloren in ihrer Berufsplanung und kämpft gegen den Corona-Blues an. © Laura Kosanke

Und doch ist alles anders als sonst: Statt Abistreich, Abschlussreise, Abiball haben sie Abstand gehalten und Alltagsmasken getragen. Kein ausgelassenes In- den-Armen-Liegen und Anstoßen. Stattgefunden hat lediglich eine offizielle Zeugnisübergabe für die einzelnen Profilklassen: Jeder hat auf einem Stuhl gesessen, das Zeugnis abgeholt und am Ende Fotos gemacht. „Die Lehrer haben sich viel Mühe gegeben, aber es war kein Feiern“, sagt Lara. Wie sie gefeiert hat? „Ich habe zu Hause kurz gejubelt und mich dann gefragt: Was jetzt?“

Beruflich hat sie noch keine Antwort auf diese Frage gefunden. Was den Abi-ball angeht, plant sie, den ihrer jüngeren Schwester – sie ist nächstes Jahr fertig – ein Stück weit auch als ihren eigenen zu zelebrieren.

Vorlesungen laufen in Corona-Zeiten digital ab

Die Schulzeit ist für Bendix Geschichte. Für ihn ist eine neue Zeit angebrochen: Studienbedingt hat er den Familiensitz in Tangstedt verlassen, lebt nun in der Eigentumswohnung der Eltern in Hamburg-Rotherbaum. Vom Wohnzimmer aus kann er direkt aufs Unigebäude schauen.

Hinter einem der Fenster sitzt sein Politikprofessor und bereitet die Einführungsvorlesung vor. Bendix sitzt schon bereit. Stift und Block liegen neben ihm auf der Couch, den Laptop hält er in der Hand. Sein Blick schweift aus dem Fenster und auf den Unikomplex. „Der Typ sitzt zwei Häuser weiter. Das ist total verrückt.“

Die Vorlesung startet. Auf Bendix’ Bildschirm erscheint der Professor. Der Mann mit dem weißen Haar, der dunklen Hornbrille und dem Schnäuzer spricht über Immanuel Kant, Jeremy Bentham und die bevorstehenden Online-Tests. Mehr als 300 Studierende sind zugeschaltet, zeigen ihr Gesicht in der Videokonferenz – darunter auch Bendix.

Kontakte knüpfen über den Gruppenchat

Er gähnt in die Kamera. Ein Möbellieferant hat ihn am Vormittag aus dem Bett geklingelt. Dabei hatte er bis tief in die Nacht noch ein Date mit einer Kommilitonin. Er hatte sie bei einer Videokonferenz in der Einführungswoche kennengelernt. Der Vorlesungston knackst, als der Professor ein Video aus dem „Lernraum“ abspielt – „als Gemeinschaftserlebnis“, sagt der Mann.

Bendix stöhnt und schließt das Fenster auf dem Bildschirm. Im „Lernraum“ ruft er dasselbe Video auf und drückt auf Play. Der schlechte Ton hat ihn gestört. So läuft er ohne Probleme. Als er fertig ist, wählt er sich wieder in die Vorlesung ein. Der Professor erklärt gerade, dass die Studierenden nach jedem Video einen Multiple-Choice-Test machen müssen. Dann ist die Vorlesung vorbei, und das Handy vibriert. Ein Kommilitone ruft an.

Bendix hat ihn im Gruppenchat der Politik-Erstsemester kennengelernt und mit ihm eine Lerngruppe gegründet. Sie sprechen über die Vorlesung.

Als Bendix auflegt, hat er Hunger und holt einen Sack mit gefrorenen Weinbergschnecken aus der Tiefkühltruhe. Er gönnt sich die Delikatesse als nachträglichen Geburtstagsschmaus. Am 29. Oktober ist er volljährig geworden, hat mit seinen Freunden gefeiert, bis zu 15 Personen sind in Hamburg an dem Tag noch erlaubt.

Endlich 18! Aber wie feiern im Chaos-Corona-Jahr?

Lara hat ihren 18. Geburtstag am 15. Mai nicht richtig feiern können. In Schleswig-Holstein waren Treffen mit nur zwei Haushalten erlaubt. Und auch im Sommer, als die Corona-Regeln lockerer waren, hat sie sich gegen eine große Party entschieden. Sie sagt: „Auf so halbe Sachen habe ich keine Lust. Wenn, dann richtig.“

So geht es ihr auch mit der Berufsfindung. Sie weiß nicht, ob sie zur Uni will. „Ein Studium will ich eigentlich nicht machen, sofern es mich nicht wirklich interessiert. Das ist für mich nicht sinnvoll. Lieber ist mir eine Ausbildung.“ Doch nach Monaten des Stillstands denkt sie nun doch über eine akademische Laufbahn nach. Bis sie weiß, wo es hingeht, bekämpft sie die persönliche Perspektivlosigkeit mit einer festen Tagesroutine.

Sie arbeitet im Stall. Jeden Tag hilft sie ihrer Mutter mit den Familienpferden. Gemeinsam betreuen die beiden Frauen die Tiere, teilen sich die Arbeit. In der Küche hängt dafür eine große Holztafel mit den Aufgaben, die tagtäglich anfallen.

Laras Routine sieht so aus: Um 6.30 Uhr klingelt der Wecker. Dann zieht Lara ihre Reiterklamotten und Stallschuhe an, fährt mit ihrem gebrauchten Land Rover zum Stall. Der riecht nach Pferd; im Kofferraum transportiert sie Pferdedecken. „Den Weg könnte ich blind fahren“, sagt Lara und fährt auf den Parkplatz vor dem Stall. Dort angekommen, verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Ihr Mund formt sich zu einem echten Lächeln – und als sie die Pferde sieht, strahlen ihre Augen. Die Alltagssorgen scheinen vergessen.

Mit der Arbeit auf dem Gestüt gegen den Corona-Blues

Lara fährt jeden Tag zum Gestüt und kümmert sich um Hengst Teddy und die anderen Familienpferde.
Lara fährt jeden Tag zum Gestüt und kümmert sich um Hengst Teddy und die anderen Familienpferde. © Laura Kosanke

Die Tiere wiehern, stöhnen, haben Hunger. Lara schiebt die Futterkarre, schaufelt Hafer und Pellets in die Boxen. Hengst Teddy möchte raus auf die Koppel. Lara streichelt ihm über die Nüstern. „Du musst noch drinnen bleiben“, sagt sie. Aber Teddy schiebt sich weiter nach vorn. „Ey!“, Lara schnipst mit den Fingern, und das Tier geht ein paar Schritte zurück.

Im Stall ist Lara die Anführerin. Sie weiß, was zu tun ist, und macht es. Dort arbeitet sie bis in den späten Mittag, bringt ihre Pferde zur Koppel und wieder zurück, füttert und pflegt sie, mistet aus und räumt auf. Am Nachmittag fallen noch mehr Arbeiten an. Seit einigen Wochen kümmert sich die junge Frau auch noch um die Stuten und Hengste der anderen Besitzer – das bringt noch mehr Routine und einen vollen Tag. Und obwohl sie sich bei den Pferden wohlfühlt und so viel zu tun hat, sagt Lara: „Ich weiß wirklich nichts mehr mit mir anzufangen.“

Die Arbeit auf dem Gestüt bietet ihr keine Perspektive. Sie will nicht ihr Leben lang auf dem Hof arbeiten. „Die Arbeit ist ein Knochenjob und für mich nur ein Hobby.“ Sie weiß schon viel über Pferde und wird nicht mehr viel lernen, sagt sie. Lara reitet seit 15 Jahren, hat Preise im Springreiten gewonnen, und im Sommer hat sie schon ein Praktikum auf dem Landgestüt Redefin in Mecklenburg-Vorpommern absolviert. Ihr Wunsch ist es, einfach mal wegzufahren: Raus aus dem Alltagstrott. Raus aus dem Norden. Raus aus dem Corona-Blues.

Und ein Teil ihres Wunsches wird wahr: Am letzten Montag im November zieht sie wegen eines Jobangebots ins niedersächsische Mühlen. Dort arbeitet sie als Assistenzreiterin, erzieht die Pferde anderer. Sie gibt ihrem Leben einen neuen Anstrich, ein kompletter Tapetenwechsel ist es aber nicht. Denn dem Alltagstrott im Stall entkommt sie nicht. Deshalb bewirbt sich die 18-Jährige weiterhin auf Praktika, hat sich sogar vom Eventmanagement zur Pressearbeit umorientiert, steht für einen Praktikumsplatz mit einem Hamburger Unternehmen in Kontakt. Eine Zusage hat sie noch nicht erhalten, aber ihre Hoffnung ist groß. Sobald sie eine Zusage erhält, kommt sie zurück.

Die Schulabgänger: (k)eine verlorene Generation

Lara und Bendix haben seit ihrem Schulabschluss unterschiedliche Wege beschritten: Die eine ringt um einen richtigen Tapetenwechsel, der andere feiert ihn. Sie fühlt sich „lost“, er nicht. Stimmen die beiden 18-Jährigen trotzdem zu, dass sie und ihre Altersgenossen unter den Begriff „Generation Lost“ fallen?

Er sagt: „Das kann man nicht so pauschalisieren. Es gibt Leute, die wissen, was sie machen wollen, und Leute, die wissen es nicht. Ich würde sagen, es gibt zielstrebige Leute, auf die Corona keinen Einfluss hatte, aber auch die, die keine Ahnung hatten. Für sie war es schwieriger.“

Sie widerspricht: „Ich finde, das passt ganz gut. Wir wurden aus der Schule entlassen, haben gedacht, wir haben tausend Möglichkeiten, und dann kommen immer mehr Einschnitte.“