Hamburg. Helga Melmed verbrachte viele Jahre im KZ. Die Jüdin sagt: „Ich habe alles vergeben, aber ich kann nicht vergessen.“

Sie will aufrecht stehen und mit erhobenem Haupt hineingehen. Doch ihre Knie versagen. Helga Melmed ist zu schwach, um die Rampe ins Lagerhaus G am Dessauer Ufer hochzulaufen. Weil es nicht anders geht, setzt sie sich in einen Rollstuhl und lässt sich fahren. Dabei hätte es für sie Symbolkraft gehabt, nach all den Jahren zu zeigen: Ich bin stärker als meine Widersacher, niemand kriegt mich klein.

Die Nazis hatten Melmed als 16 Jahre altes Mädchen in dem Gebäude eingesperrt. Der Speicherkomplex diente im Zweiten Weltkrieg als Außenlager des KZ Neuengamme für 3500 Zwangsarbeitende. Die meisten waren jüdisch, so wie sie selbst. Am Donnerstag ist die Holocaust-Überlebende zurückgekehrt an den Ort des Verbrechens. Durch ihren Besuch will sie die Geschichte vor dem Vergessen bewahren. Schon am Abend zuvor hielt sie einen Vortrag und erzählte, dass die Nazis sie nicht einmal, sondern viermal deportiert haben. All das hat sie offenbar nur überstanden, weil sie sich im polnischen Getto mit drei „Camp-Schwestern“ zusammentat. Melmed erinnert sich zurück:

Lódz, 1941

Als der erste Deportationszug aus Berlin im Getto Litzmannstadt anrollte, dauerte es nicht lange, da verlor sie ihre Eltern und wurde zur Waise. „Eines Tages zogen die SS-Männer meinen Vater auf den Marktplatz. Sie brachten ihn und die anderen Männer dazu, im Kreis zu laufen, nutzten sie als Zielscheibe. Er wurde erschossen.“ Kurz darauf folgte der nächste Schlag: Ihre Mutter litt an einem „gebrochenen Herzen“, wurde krank und starb am 14. Geburtstag der Tochter. Das rettete Melmed mutmaßlich das Leben.

Denn der Älteste des Gettos, Chaim Mordechaj Rumkowski, wählte das Mädchen als eins von acht Waisenkindern aus, die mit einer „Haushälterin“ in einer Wohnung leben sollten. Dort lernte sie ihre vier Camp-Schwestern kennen. Die Aufseher zwangen sie nicht mehr, in einer Fabrik Knöpfe anzunähen, sondern gaben ihr leichtere Arbeiten. „Ich habe die Unterwäsche der Damen genäht“, sagt Melmed.

Auschwitz, 1943

Das polnische Getto wuchs, hatte bald keinen Platz mehr für die vielen Gefangenen. Also deportierten die Nazis die acht Waisen nach Auschwitz. Weil sie in zwei Zügen waren, sahen die Camp-Schwestern die anderen vier Waisenkinder nie wieder.

Melmed vermutet, sie wurden getötet. „Wir wussten, was dort passierte. Alle wussten es. Als wir ankamen, sahen wir den Rauch aufsteigen, rochen das verbrannte Fleisch.“ Alle vier dachten, das sei ihr Ende. Schließlich brachten die Nazis die Mädchen zu den Duschen. Nackt, kahl rasiert, in Todesangst. „Wir dachten, wir würden vergast. Aber die Duschen waren nur Duschen.“

Hamburg, 1944

Monate später wurden sie erneut deportiert, dieses Mal ins Außenlager des KZ Neuengamme. Sie erinnert sich, wie sie in sehr dünner Kleidung und vor Kälte zitternd ankam. Als sie bei ihrem Besuch durch das Lagerhaus fährt, zeigt sie auf zwei Stellen am Boden, die mit Metallplatten zugeschraubt wurden. „Darunter sind große Löcher.“ Von dort, erzählt sie, konnte sie in den Keller und durch die kleinen Löcher in der Wand aufs Wasser schauen. „Wir haben davon geträumt, durch die Löcher zu fliehen.“ Doch dafür waren die Löcher zu klein.

Aufzeichnungen zufolge mussten die KZ-Insassen in Raffinerien und zerstörten Hafengebäuden Aufräumarbeiten verrichten. Auch später, als die Nazis die Mädchengruppe ins Außenlager nach Sasel brachten, schleppten sie schwere Trümmerteile, um neue Häuser zu bauen. „Die Soldaten richteten dabei Waffen auf uns. Wäre eine zusammengebrochen, hätten sie uns getötet“, sagt Melmed.

Bergen-Belsen, 1944

Doch auch in Sasel konnten die Camp-Schwestern nicht bleiben. Sie mussten zu Fuß bis ins KZ Bergen-Belsen laufen, gingen Hand in Hand. Denn Melmed war sehr krank. Sie hatte Typhus und Tuberkulose, wäre gefallen, wenn ihre drei Schutzengel sie nicht festgehalten und durch den Matsch gezogen hätten. „Großartige Mädchen. Wir waren aus verschiedenen Ländern und trotzdem eine Einheit.“ Egal wie schlimm die Qualen waren, die vier hielten zusammen.

Die Camp-Schwestern überlebten, weil sie im April 1945 von den britischen Alliierten befreit wurden. „Alle tanzten und sangen, auch wenn ich nichts davon mitbekam. Ich habe nur Lärm gehört, weil ich so krank war“, sagt die 94-Jährige heute. Das Rote Kreuz brachte sie zur Kur nach Schweden. Schließlich emi­grierte sie auf Wunsch ihrer Tante in die Vereinigten Staaten, wo sie als Krankenschwester arbeitete, heiratete und vier Kinder zur Welt brachte.

Zwei von ihnen begleiten Melmed in Hamburg. Ihnen möchte sie alles erzählen und ihnen auch die Wut nehmen, für das, was ihrer Mutter einst geschah. Sie selbst sagt: „Ich habe alles vergeben, aber ich kann nicht vergessen.“ Und sie will es auch nicht. Ihre Geschichte soll weiterleben: in ihr, in ihren Kindern und den nächsten Generationen.