Hamburg. Studie der Berufsgenossenschaft deckt ein Tabu bei Gesundheitsdiensten und in der Wohlfahrtspflege auf. Was Betroffene tun können.
Schichtdienst, Personalmangel, chronische Rückenschmerzen schon in jungen Jahren – die harten körperlichen Anforderungen an Pflegekräfte und die Besonderheiten des Jobs führen häufig zu Erschöpfungssymptomen. Die psychischen Belastungen kommen hinzu. Viele verlassen den Beruf, für den sie ausgebildet wurden, ehe sie zehn Jahre darin gearbeitet haben. Was bislang fast komplett ausgeblendet wurde bei den seelischen Herausforderungen, vor denen Pflegekräfte stehen, ist das Thema sexualisierte Gewalt. Wie ein unsichtbares Tabu schwingt es mit im täglichen Kontakt zwischen Pflegebedürftigen und ihren Betreuern.
Die in Hamburg beheimatete Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) hat nun in einer Studie untersuchen lassen, wie viele Beschäftigte in den Bereichen, die sie überblickt, bereits einmal eine sexuelle Belästigung und oder sexualisierte Gewalt erlebt haben von Menschen, die von ihnen beruflich betreut und gepflegt werden.
62,5 Prozent erlebten im letzten Jahr sexuelle Belästigung
Dabei kam heraus: 62,5 Prozent der Befragten gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal nonverbale sexuelle Belästigung und Gewalt erlebt zu haben. 67,1 Prozent hatten verbale und 48,9 Prozent körperliche sexuelle Belästigung und Gewalt erlebt. Diese Gewalt ging jeweils von den von ihnen gepflegten oder betreuten Personen aus.
Zur verbalen sexuellen Belästigung zählen auch Beleidigungen auf sexueller Basis oder unangemessene Aufforderungen zur Annäherung. Zur nonverbalen sexuellen Belästigung gehört unter anderem, wenn Pflegekräfte nicht zufällig Zeuge einer sexuellen Handlung (auch Selbstbefriedigung) wurden. Außerdem zählen in diesem Zusammenhang exhibitionistische Handlungen der Betreuten dazu.
Hohe Betroffenenrate im Gesundheits- und Sozialwesen
Nach der Studie der Berufsgenossenschaft ist die Betroffenenrate im Gesundheits- und Sozialwesen besonders hoch. Die Erfahrungen der Beschäftigten unterschieden sich je nach Branche erheblich. Pflegekräfte hatten besonders häufig verbale Belästigung erlebt. In Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sei nonverbale Belästigung häufiger vorgekommen als in anderen Branchen.
Für die Studie wurden insgesamt 901 Beschäftigte aus 60 Einrichtungen befragt, zum Beispiel aus Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Ziel war es laut Berufsgenossenschaft, ein „differenziertes Wissen zu erhalten über die Verbreitung sexueller Belästigung und Gewalt, die von Patienten und Patientinnen, Klienten und Klientinnen oder Bewohnern und Bewohnerinnen sowie deren Angehörigen ausgeht“. Dabei habe auch die Frage im Mittelpunkt gestanden, wie oft die sexualisierte Gewalt oder Belästigung vorkomme und welche Auswirkungen sie auf die Beschäftigten habe.
Weitreichende Folgen von sexueller Belästigung
Auffällig sei gewesen, dass es „statistische bedeutsame Zusammenhänge“ zwischen dem Auftreten von sexueller Belästigung und Gewalt und dem psychischen Befinden der Befragten gebe: „Wenn Beschäftigte angaben, häufiger sexuelle Belästigung und Gewalt erlebt zu haben, berichteten sie auch vermehrt über Depressivität, emotionale Erschöpfung und psychosomatische Beschwerden.“
Gleichfalls wurde untersucht, wie bekannt verschiedene Konzepte und Unterstützungsangebote für die Pflegekräfte im Hinblick auf sexuelle Belästigung und Gewalt in den betrieblichen Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens seien. Wenn man die Beschäftigten nach den betrieblichen Unterstützungsangeboten zur Prävention von sexueller Belästigung und Gewalt und zu Hilfe für Betroffene befragte, haben 32,5 Prozent angegeben, nichts über Maßnahmen ihres Arbeitgebers zu wissen.
Arbeitgeber sollten über Hilfsmaßnahmen informieren
„Informieren Arbeitgeber über Präventions- und Hilfsmaßnahmen, signalisieren sie ihren Beschäftigten damit auch, dass diese sexuelle Belästigung und Gewalt nicht hinnehmen müssen.“ Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege ist die gesetzliche Unfallversicherung für nicht staatliche Einrichtungen im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege. Sie ist für knapp neun Millionen Versicherte in mehr als 665.000 Unternehmen zuständig.
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Nach eigenen Angaben unterstützt die Berufsgenossenschaft Unternehmen dabei, möglichen Übergriffen auf Beschäftigte vorzubeugen und sie darauf vorzubereiten, was nach einem Vorfall zu tun ist. Eine wichtige Rolle komme den Führungskräften zu, „die beispielsweise in Seminaren für das Thema sensibilisiert werden und erfahren, wie sie ihre Beschäftigten schützen können“.
Hohe Zahlen bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz
Dabei arbeitet die Berufsgenossenschaft mit dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) zusammen. Der bff hat ein Projekt mit dem Titel „make it work!“ aufgelegt, in dem es darum geht, eine „gewalt- und diskriminierungsfreie Arbeitskultur“ zu schaffen. Der bff schätzt, dass mindestens jeder vierte Arbeitnehmer sexuelle Gewalt, Belästigung oder Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt hat.
Am stärksten von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen ist auch nach einer vergleichenden Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes das Gesundheits- und Sozialwesen. Erst danach kamen die Bereiche Erziehung und Unterricht oder der Handel und das verarbeitende Gewerbe.