Hamburg. Die forensische Anthropologin aus Schleswig-Holstein ist auch involviert in die Suche nach der seit 1999 vermissten Hilal Ercan.
Noch dringt nur wenig Tageslicht auf das Gelände. Es ist früh am Morgen, als etwa hundert Menschen auf einen Reiterhof in Dithmarschen einfallen. Wo scheinbar die Idylle herrscht, ist zwei Jahre zuvor ein Mann spurlos verschwunden. Wurde er Opfer eines heimtückischen Mordes? Eine, die mithelfen soll, das Verbrechen aufzuklären, ist Dr. Eilin Jopp-van Well. Die Schleswig-Holsteinerin kennt sich aus mit verborgenen Toten. Sie analysiert das Gelände, spürt Unregelmäßigkeiten auf, arbeitet sich in die Tiefe vor. Wenn es dort einen Leichnam gibt, versteckt, vergraben oder einbetoniert — die forensische Anthropologin findet ihn.
Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet die Wissenschaftlerin für das Hamburger Institut für Rechtsmedizin am UKE. Sie hat geholfen, Moorleichen deren Geheimnisse zu entlocken, Verschollene aus dem Zweiten Weltkrieg zu finden und deren sterblichen Überreste zu bergen. Sie ist involviert in die Suche nach der seit 1999 vermissten Hilal Ercan. Und die 50-Jährige sucht erfolgreich nach Opfern von Verbrechen, wie zum Beispiel nach dem Vermissten auf dem Dithmarscher Reiterhof vor gut zwei Jahren. „Es ist ein gutes Gefühl“, sagt sie, „wenn man dazu beiträgt, dass eine Tat aufgeklärt wird.“
Leiche in einer Reithalle vergraben
Der Besitzer des Reiterhofs war im April 2017 von seiner Partnerin zunächst als vermisst gemeldet worden. Knapp zwei Jahre später gab es überraschend Hinweise, der 41-Jährige sei nicht etwa aus freien Stücken untergetaucht, sondern sei ermordet und die Leiche in einer Reithalle vergraben worden. „Wir waren mit einem großen Aufgebot vor Ort“, erzählt Jopp-van Well. Etliche Helfer gruben jeweils mit einer Schaufel. „Abziehen“ nennt die Anthropologie es, wenn die oberste Schicht der Erde vorsichtig abgetragen wird.
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„In einer Ecke war schließlich eine deutliche Verfärbung in der Fläche zu erkennen.“ Die Expertin begann an besagter Stelle zu graben. „Ich arbeite mich von einer Seite zur anderen vor und von oben nach unten.“ Vorsichtig setzt sie ihre Kelle an und trägt den Boden zentimeterweise ab. „Wenn sich die Dichte des Bodens ändert, spüre ich das in der Kelle. Hier folge ich der Struktur“, erzählt die Anthropologin.
Unterstützung durch den Hamburger Zoll
In etwa zehn Zentimeter Tiefe stieß sie auf Haut und Gewebe. Vorsichtig legte sie die Struktur frei, die schließlich für die Expertin eindeutig als menschlicher Torso zu erkennen war. Sie grub weiter, um zu gucken, ob sie in der Grube noch mehr findet, beispielsweise ein Projektil. „Wichtig ist es, genau zu dokumentieren, wo jeweils etwas gefunden wurde.“ Zudem stieß Eilin Jopp-van Well in der Grube auf einen Abdruck genau dort, wo der Kopf zu dem Torso zu vermuten gewesen wäre. „Daraus haben wir geschlossen, dass dort mal ein ganzer Leichnam vergraben war und dann wohl zumindest in Teilen wieder ausgebuddelt wurde.“
Fündig wurde das Team in umliegenden Entwässerungsgräben, den sogenannten Wettern, wo Polizeitaucher Betonklötze in Form von Maurerbütten entdeckten. Durch Unterstützung des Hamburger Zolls, der einen mobilen Röntgenwagen zur Verfügung stellte, konnte der Beton noch am Fundort durchleuchtet werden: Darin waren die anderen Leichenteile verborgen. Eilin Jopp-van Well: „Und schon beim Röntgen des Kopfes vor Ort konnte man zwei Projektile erkennen.“
Opfer in einen Hinterhalt gelockt
Vor Gericht mussten sich schließlich die frühere Partnerin des Toten und deren neuer Lebensgefährte wegen Mordes verantworten. Es stellte sich im Prozess heraus, dass die Frau und ihr neuer Freund den früheren Partner beseitigen wollten, um ungestört ein neues Leben auf dem Reiterhof anfangen zu können.
Mit Hilfe der Tochter hatten die Täter ihr Opfer in einen Hinterhalt gelockt, wo der neue Freund der Mutter seinen Nebenbuhler mit zwei Schüssen in den Kopf tötete. Das Gericht verhängte gegen den 46-Jährigen und seine Geliebte jeweils lebenslange Haft wegen Mordes. In einem gesonderten Prozess wurde die zur Tatzeit 14 Jahre alte Tochter wegen Beihilfe zum Mord zu zweieinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt.
Prof. Klaus Püschel ist ihr Förderer
„Spannend ist, wenn ich mit Kelle und Pinsel Spuren finde und dazu beitragen kann zu sagen, wie der Tathergang gewesen sein kann“, sagt Jopp-van Well. Ursprünglich hatte sie eine Ausbildung zur Tischlerin gemacht, dann Archäologie und Anthropologie studiert. „Eigentlich wollte ich in Afrika nach Frühmenschen suchen“, erzählt sie. „Doch dann ist meine Leidenschaft für die Rechtsmedizin entflammt.“
Prof. Klaus Püschel, bis vergangenen Herbst Direktor des Instituts, habe ihr die Chance eröffnet, am Institut zu arbeiten. „Er ist mein Förderer und Ziehvater“, sagt die forensische Anthropologin, die nach ihrem Doktorgrad jetzt ihre Habilitationsschrift eingereicht hat.
Gelände wird mithilfe eines Geo-Radars gesichtet
Bei einer anthropologisch-archäologischen Suche und der Frage, wo innerhalb eines bestimmten Areals ein Leichnam zu finden sein könnte, beginnt die Expertin mit der sogenannten Prospektion. „Das heißt, ich schätze das Gelände ein, gucke mir beispielsweise den Baumbestand an und versuche herauszufinden, was sich seit dem Verschwinden der gesuchten Person verändert hat“, erzählt die Expertin. Das gilt, wenn es sich um einen Vermissten handelt, der beispielsweise seit zehn, zwanzig oder dreißig Jahren verschwunden ist, und ebenso wenn es um die Suche nach einem verschollenen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg geht.
Bei größeren Arealen wird das Gelände zunächst mithilfe eines Geo-Radars gesichtet. „So bekommt man ein Bild der unterirdischen Strukturen, ähnlich einer sonografischen Aufnahme“, erklärt die Expertin. Wird ein bestimmtes Areal als „verdächtig“ eingeschätzt, zieht die Anthropologin den Boden ab und legt sogenannte Suchschnitte an. „Ich erkenne anhand der Verfärbung des Sediments und der Dichte, ob dort mal gegraben wurde. Dann spüre ich das in der Kelle und kann mich daran entlangarbeiten. Wenn ich dann ein Rechteck sehe, etwa schulterbreit, dann schreit das danach, dass da jemand liegt.“
Hat sie das Versteck für einen Leichnam entdeckt, geht Eilin Jopp-van Well in einer Grabgrube systematisch vor. „Ich will herausfinden, ob der Körper vollständig ist. Wie er liegt: in Rücken- oder Bauchlage oder auch kopfüber? Ist er verdreht, sind die Beine angezogen?“
Cold Cases sind für sie eine wichtige Arbeit
Die Wissenschaftlerin hat beispielsweise im Jahr 2017 die sterblichen Überreste von Birgit Meier ausgegraben, einer Frau, die spurlos verschwunden und deren Schicksal 28 Jahre lang ungeklärt war — bis ihr Leichnam unter der Betonplatte einer Schraubergrube unter der Garage eines Friedhofsgärtners gefunden und dieser Mann als Mörder entlarvt war.
„Die Cold Cases, also die lange zurück liegenden Fälle, sind für mich eine ganz wichtige Arbeit.“ So half sie im Fall des im Zweiten Weltkrieg vermissten italienischen Soldaten Alberto Roscini, dessen Witwe und danach dessen Sohn 70 Jahre lang nach den sterblichen Überresten des Verschollenen gesucht hatten.
Fündig wurden die Familie und ihre professionellen Helfer auf dem Öjendorfer Friedhof, wo Roscini in einem anonymen Grab lag. Er wurde erneut beigesetzt — diesmal in Perugia, Seite an Seite mit seiner 1986 verstorbenen Frau.
Geschichten, die ans Herz gehen
„Das ist das Größte für mich, wenn ich bei der Aufklärung solcher Schicksale helfen kann“, sagt Eilin Jopp-van Well. „Das sind die Geschichten, die ans Herz gehen. Deshalb liebe ich auch meinen Job so sehr: Ich mag das Suchen und Forschen. Und wenn man dann in Kontakt tritt mit Hinterbliebenen, zu ihnen nach Hause eingeladen wird — das ist ein tolles Gefühl.“
Auch in den Fall Hilal Ercan, die vor mehr als 22 Jahren spurlos verschwand, war die Anthropologin schon mehrfach involviert. Das damals zehn Jahre alte Mädchen war zuletzt am 27. Januar 1999 an einem Einkaufszentrum in Lurup gesehen worden, seitdem verliert sich jede Spur von der Schülerin. Um das Mädchen zu finden, wurde die damals größte Suchaktion seit dem Zweiten Weltkrieg ausgerufen. Vergeblich.
Suche nach Vermissten lohne sich immer
Über Jahre vernahm die Polizei immer wieder Zeugen. Im Jahr 2003 wurde erstmals im Volkspark nach dem Mädchen gesucht, nachdem ein verurteilter Kinderschänder einen Mord an Hilal gestanden hatte — und das Geständnis kurz darauf widerrief. 2018 meldete sich erneut ein Zeuge, der offenbar 19 Jahre zuvor etwas Verdächtiges in dem Waldstück beobachtet hatte. An der darauf folgenden Suche war Eilin Jopp-van Well maßgeblich beteiligt. Ebenso wie bei einer weiteren Suchaktion nach Hilal in der Kiesgrube in Rissen.
„Die Polizei sagt mir üblicherweise in solchen Fällen, warum wir graben“, erzählt die Schleswig-Holsteinerin. „Aber ich erfahre nicht alle Details.“ Im Volkspark hätten sie „bis zum sogenannten gewachsenen Boden gegraben. Also bis zu einer Tiefe, in der noch nie gegraben wurde. Wir haben nichts gefunden. Doch selbst wenn sich herausstellt, dass da nichts ist, hilft das weiter: Es ist ein Indiz, dass man etwas ausschließen kann.“
Die Suche nach Vermissten lohne sich jedoch immer, erklärt die Expertin. „Auch im ungünstigsten Fall halten sich Knochen ein paar hundert Jahre.“