Hamburg. Hinter den Kulissen: Wie läuft eine Obduktion ab? Wie erkennt man, woran ein Mensch gestorben ist? Und wie hält man Distanz zur Trauer?

Kalte Neonleuchten erhellen den Raum und werden von den blank polierten Flächen stählerner Tische reflektiert. Die Wände sind weiß gekachelt. Alles wirkt funktional, steril und kühl. Doch diese nüchterne Sachlichkeit ist genau das Umfeld, das es braucht, um dem Tod mit der gebotenen rechtsmedizinischen Professionalität zu begegnen.

Den Verstorbenen ihre letzten Geheimnisse entlocken, der Wahrheit auf den Grund gehen: Hier im Obduktionssaal der Gerichtsmedizin dringt Prof. Jan Sperhake in das Innerste eines Menschen vor, um das Rätsel von dessen Tod zu lösen. „Es sollte nicht beliebig bleiben, warum ein Mensch gestorben ist – gerade auch aus Respekt vor dem Leben“, sagt der 52-Jährige.

Todesursache: „War es Fremdverschulden?"

„Forensik ist ein unglaublich spannendes, facettenreiches Fach“, versichert Sperhake. „Ich finde es tatsächlich faszinierend, dass der Körper zugleich einfach, nämlich immer prinzipiell gleich, als auch komplex und individuell ist.“ Insbesondere sei es interessant und wichtig, bei Menschen, die aus ungeklärter Ursache verstorben sind, durch Obduktionen eine Todesursache herauszufinden. „Die Frage ist: War es Fremdverschulden? Und falls nicht, was war es dann? Welche Krankheit lag vor?“

Es sei von großer Bedeutung, beispielsweise von Angehörigen zu erfahren, ob der Verstorbene vor seinem Tod über gesundheitliche Probleme geklagt habe. „Wenn jemand am Herzinfarkt gestorben ist – und kurz vorher ist ihm nach einem Notruf trotz erheblicher Beschwerden vielleicht nur ein Schmerzmittel verschrieben worden?“ In solch einem Fall glaube die Witwe womöglich, ihr Mann hätte mit einer anderen Behandlung überleben können.

Experten untersuchen bei Tötungsdelikten Tatort

Da könne ein Obduktionsergebnis für eine etwaige rechtliche Auseinandersetzung zwischen den Ärzten und den Angehörigen des Verstorbenen von Bedeutung sein. „Es erdet einen, wenn man mit Hinterbliebenen in Kontakt ist und sieht, welche Bedeutung unsere Erkenntnisse für sie haben können. Das ist ein schönes Feedback“, erzählt der Rechtsmediziner.

Oft sehen die Experten einen Leichnam erst im Obduktionssaal. „Aber bei Tötungsdelikten machen wir uns ein Bild vom Tatort“, erzählt Sperhake. „Wie liegt das Opfer da? Wie sieht die Hausapotheke aus? Gibt es ärztliche Unterlagen?“ Eine Todeszeitbestimmung wird möglichst noch vor Ort vorgenommen, gegebenenfalls direkt dort auch eine äußere Leichenschau. Gibt es Verletzungen? Deuten sie auf Fremdeinwirken hin oder Selbstverletzungen?

Bei Obduktion drei Körperhöhlen geöffnet

Im Institut für Rechtsmedizin wird dann in der Regel vor der Sektion eine Computertomografie (CT) vom Leichnam erstellt. „Das ist unter anderem bei tödlichen Verkehrsunfällen wichtig, weil sich anhand des Knochenbruchmusters Hinweise für die Unfallrekonstruktion ergeben“, sagt der Rechtsmediziner. „Und in manchen anderen Fällen lässt sich die Todesursache schon im CT klären, weil wir so ein Projektil schon genau lokalisieren können. Ein CT friert den inneren Ist-Zustand eines Körpers gewissermaßen ein.“

Bei der Obduktion werden die drei Körperhöhlen eröffnet, also der Kopf sowie Brust- und Bauchhöhle. Die Arbeitsgeräte sind unterschiedliche Messer, Pinzetten und die Rippenschere, die optisch an eine Geflügelschere erinnert.

Leichnam wird nach Sektion zugenäht

„Wir wollen wissen, ob wir eine innere Todesursache finden. Wir gucken nach allem, was von der Norm abweicht. Wir wissen, wie die Organe aussehen sollten, wie die Knochen. Wir schauen, was in dem konkreten Fall anders ist. Gibt es beispielsweise Entzündungs­herde oder Blutungen? Wenn aber alles normal aussieht, hat das auch eine Aussagekraft.“

Dann werde nach anderen Todesursachen geforscht, etwa einer Vergiftung. Zur Routine gehöre es, kleine Proben von den Organen unter anderem für mikroskopische Untersuchungen zu entnehmen. Nach einer Sektion wird der Leichnam wieder zugenäht. Alle Eingriffe an und in den Körper geschähen mit Vorsicht, betont Sperhake. „Aufbahrungen sind auch nach Sektionen kein Pro­blem. Es ist nicht so, dass da etwas zerstückelt wird.“

Kind in Obhut drogensüchtiger Mutter gegeben

Immer wieder hat der forensische Experte auch Kinder obduziert, etwa den zwei Jahre alten Kevin aus Bremen. Das Kleinkind verstarb im Jahr 2006, irgendwann im Sommer. Genauer weiß das keiner. Zwar stand der Junge unter der Vormundschaft der Stadt Bremen, doch wirklich ernsthaft gekümmert hat sich offenbar niemand von offizieller Seite. Nach dem Tod des Kindes sprach der Bürgermeister von einem „unverzeihlichen Versagen der zuständigen Behörden“.

Obwohl Kevin bereits im Babyalter immer wieder mit schweren Verletzungen, vor allem Knochenbrüchen, im Krankenhaus behandelt werden musste, wurde er jedes Mal in die Obhut seiner drogensüchtigen und vollkommen überforderten Mutter und deren ebenfalls rauschgiftabhängigen Lebensgefährten Bernd K. gegeben. Dabei hatten wiederholt Ärzte den Verdacht geäußert, die Verletzungen seien Folgen von Misshandlungen.

Leichnam des Kindes in Kühlschrank eingepfercht

Insbesondere nach dem Tod von Kevins Mutter, die im November 2005 an einem Milzriss starb, häuften sich die Zeichen schwerer Vernachlässigung. So konnte Kevin mit zwei Jahren noch nicht laufen, war teilweise stark unterernährt – und hatte immer wieder Frakturen. Doch das Jugendamt entschied, dass der Junge zurück zu seinem Ziehvater Bernd K. sollte.

Von der Behörde hat den Jungen nun niemand mehr gesehen. Geschweige denn hat jemand entschieden gehandelt. Als dann doch endlich eine Familienrichterin alarmiert war und den Jungen von der Polizei und mit Unterstützung des MEK aus der Wohnung von Bernd K. holen lassen wollte, war es längst zu spät. Die Ermittler fanden nur noch den Leichnam des Kindes – eingepfercht in einen Kühlschrank.

Kevin sein ganzes Leben lang misshandelt

Wie schwer Kevin fast sein ganzes Leben lang misshandelt worden war, wurde bei der Obduktion deutlich. „Wir haben 26 Frakturen an unterschiedlichen Körperstellen festgestellt, die alle auf Gewalteinwirkung zurückzuführen waren“, erzählt Sperhake. „Wir haben selten ein so schwer misshandeltes Kind gesehen.“ Als Todesursache ermittelte der Experte eine sogenannte Fettembolie.

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Aus einem der zuletzt gebrochenen Knochen hatte sich das Mark herausgelöst und war über den Blutkreislauf in die Lunge geschwemmt. Kevins kleines Herz konnte zuletzt gegen die verstopfte Lunge nicht mehr ankämpfen. Kevins Ziehvater Bernd K. wurde schließlich wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie Misshandlung von Schutzbefohlenen zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Wie hält man den Umgang mit dem Leid der Opfer aus?

Wie hält Rechtsmediziner Sperhake den Umgang mit dem Leid sehr junger Opfer aus? „Wenn ich beispielsweise im Autoradio einen Beitrag höre über ein misshandeltes Kind, dann muss ich ausschalten“, erzählt der 52-Jährige. „Da bin ich zu dünnhäutig. Bei einer Obduktion allerdings gibt es eine Art professionellen Mantel, den man da anlegt. Der Kittel schafft emotionalen Abstand.“

Auch die kleine Lara Mia, die gerade mal neun Monate alt werden durfte, hat der Hamburger aufs Genaueste untersucht. Das Mädchen hatte am 11. März 2009 in der Wohnung seiner damals 17 Jahre alten Mutter und deren 20 Jahre alten Lebensgefährten tot in seinem Bett gelegen. „Lara Mia war erkennbar stark unterernährt. Es gibt dann bei so einem Säugling eine Diskrepanz zwischen dem sehr kleinen Körper und einem Gesicht, das eher zu einem alten Menschen passen würde.“ Lara Mia wog nur noch 4,8 Kilogramm. Etwa das Doppelte wäre normal gewesen.

Rechtsmediziner analysierten nicht nur Körper

Die Rechtsmediziner haben bei dem kleinen Mädchen alles analysiert. Neben einer Obduktion gab es klinisch-chemische Untersuchungen des Blutes. „Es gibt bestimmte Schlüsse, die man daraus ziehen kann. Wir gucken beispielsweise nach Elektrolyt-Verschiebungen und sehen das Skelett genau an.“ Außerdem wurden weggeworfene Einkaufszettel aus dem Haushalt der Familie ausgewertet, die zugeführte Babynahrung kalorisch analysiert. „Die Eltern haben sich um das Kind gekümmert, aber völlig unzureichend“, ist Sperhakes Fazit.

Außerdem stellte die Polizei alles, was an Fotos von Lara Mia zu finden war, den Rechtsmedizinern zur Verfügung. „Es war eindeutig, dass sie zu Anfang ein properer Säugling war, dann immer weiter abmagerte. Später gab es keine Fotos mehr.“ Die Mutter von Lara Mia wurde schließlich zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt, der Stiefvater erhielt drei Jahre und neun Monate Haft.

Plötzliche Säuglingstode in Hamburg

Sehr intensiv hat sich Sperhake in seinem Berufsleben auch mit dem plötzlichen Säuglingstod befasst. „Vergangenes Jahr war das allererste, in dem es in Hamburg keinen solchen Todesfall gab“, erzählt der Rechtsmediziner. Immer wieder hatte er die genauen Umstände analysiert, unter denen die bis zu einem Jahr alten Kinder überraschend gestorben waren, und letztlich mehrere Risikofaktoren festgestellt.

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„Jetzt gibt es konkrete Empfehlungen, das ist allmählich generationenübergreifendes Wissen: Die Wohnung soll rauchfrei sein, und die Kinder sollten wenigstens im ersten halben Jahr gestillt werden. Sie sollten auf dem Rücken schlafen und nicht unter einer dicken Decke liegen.“

1400 Obduktionen jährlich am Hamburger Insitut

Rund 1400 Obduktionen werden am Hamburger Institut für Rechtsmedizin pro Jahr vorgenommen. „Oft kann man durch diese Untersuchungen auch für die Lebenden lernen“, erläutert Sperhake, „zum Beispiel durch die Obduktion der Corona-Opfer. Die Sektionen haben geholfen, die Folgen des Virus für den menschlichen Körper besser zu verstehen. So haben wir etwa herausgefunden, dass Thrombosen gehäuft vorkamen.“ Diese Erkenntnis wurde später in der Intensivmedizin bei der Behandlung von Erkrankten genutzt.

Deutlich mehr als Tote untersuchen die forensischen Experten auch überlebende Opfer von Gewalt, dokumentieren die Verletzungen, wollen feststellen, ob bestimmte Schädigungen beispielsweise eher durch einen Faustschlag oder vielleicht sogar durch einen Baseballschläger verursacht wurden. So können die Experten dazu beitragen, bei Prozessen zur richtigen Einschätzung und Bewertung eines Übergriffs zu kommen. „Wir Sachverständigen helfen dem Gericht, die medizinischen Fakten zu verstehen. Unsere Gutachten können für einen Freispruch, eine Verurteilung und das Strafmaß entscheidend sein“, sagt Sperhake. „Wir können nicht alles aufklären. Aber vieles.“