Hamburg. Stephanie Krawehl ​betreibt den unkonventionellen Lesesaal in den Stadthöfen in der Hamburger Innenstadt.

Das kleine Geheimnis des urigen Kunststoffhundes auf der Kasse kennen nur Eingeweihte. Der putzige, pinkfarbene Pudel verfügt über die spielerische Begabung, mit dem Kopf wackeln zu können. Auch das unterscheidet ihn von seiner Besitzerin. Stephanie Krawehl ist eine selbstbewusste Persönlichkeit, die einen aufrechten Gang bevorzugt – in jeder Lage. Den Begriff Dickschädel empfindet sie keinesfalls als Beleidigung. Ihre Buchhandlung führt sie nach ureigener Fa­çon. Der Name des unkonventionellen Ladens in der Hamburger Innenstadt ist Programm: Lesesaal.

Lesesaal ist Buchhandlung, Café und Erinnerungsort

Die nicht gerade watteweiche Lage an der Stadthausbrücke, auf dem denkmalgeschützten Gelände des früheren Gestapo-Hauptquartiers der Nazis, erfordert ein passendes, würdiges Konzept. Der Lesesaal beinhaltet neben einer klassischen Buchhandlung ein Café sowie einen Erinnerungsort als Gedenkstätte. Lesestoff von der Bestsellerliste, Ratgeber oder Reiseführer sind nicht im Angebot, jedoch zügig bestellbar. Umso präsenter sind kleine, unabhängige Verlage, politische Inhalte, Frauenthemen Die Stammkundschaft weiß diese Note zu schätzen.

Bis zur Verwirklichung ihres Traums, der über das Geschäftliche weit hinausgeht, musste Frau Krawehl über Hürden hüpfen, Tücken austricksen, Konsequenz beweisen. Dass die 57-jährige Unternehmerin, die nach dem Abitur als ausgebildete, dreisprachige „Europasekretärin“ an den Berufsstart ging, über einen Bruch in ihrer persönlichen Lebensgeschichte ans aktuelle Etappenziel gelangte, macht dieses Kapitel so besonders. Auch wenn es während des fast dreistündigen Gesprächs nicht nur einmal Grund zum Schlucken gab, nahm die Buchhändlerin einen Satz nicht in den Mund: „Das aber bitte nicht schreiben.“ Sie steht zu dem, was war. Und wie es war.

Leidenschaft zu Büchern schon in Kindertagen geweckt

Zum Beispiel zu Beginn der Jahrtausendwende, als fast gar nichts mehr ging. Die alleinerziehende Mutter, die von Hartz IV lebte, war seelisch am Ende. Burn-out. Die Terrorangriffe in New York an 11. September 2001 erlebte sie in einer Klinik. Ein Teil ihres ursprünglich sortierten Daseins war aus den Fugen geraten. Der Kraftakt, sich aus den psychischen Fesseln zu befreien, machte sie dauerhaft stark. „Letztlich kommt man mit allem klar, wenn man weiß, dass man auf dem richtigen Weg ist“, sagt sie selbst dazu. Es waren alles andere als leichte Monate seinerzeit.

Dabei begann das Leben behütet. Seite an Seite mit ihrer Schwester wuchs Stephanie wohlsituiert in Blankenese auf. Die Eltern führten eine anno 1828 gegründete hanseatische Im- und Exportfirma. „In jedem Zimmer standen Bücher“, erinnert sie sich. Und bei der Buchhandlung Kötz in den Elbvororten hatte der Vater für seine Töchter ein spezielles Arrangement getroffen.

Die Kinder und später Jugendlichen durften nach Herzenslust stöbern – und ausgewählte Exemplare mit nach Hause nehmen. „Ponyhof war ich nie“, sagt sie. Am Monatsende beglich der Vater die Rechnung. So wurden die Wurzeln für eine lebenslange, innige Leidenschaft gelegt.

Kontante ist Krawehls Tochter Pauline

Bevor Stephanie Krawehl sich die Freiheit nahm, ihr Faible für Bücher auszuleben, beschritt sie unterschiedliche Berufswege. Stationen waren ein Jahr in Paris, kurze Zeit der Otto Versand, sieben Jahre als Vertriebsleiterin einer Hamburger Handelsagentur. Im Auftrag des Fernsehkultursenders Arte übersetzte sie französische Texte. Anschließend organisierte sie Veranstaltungen für den Jüdischen Salon am Grindelhof.

Zwischendurch hatte Frau Krawehl ihr Leben auf komplett neue Gleise gestellt. Feste Konstante war stets ihre 1993 geborene Tochter Pauline. Die Literaturwissenschaftlerin lebt aktuell in Schottland, präsentiert Online-Buchtipps für das Geschäft ihrer Mutter. Und sie ist an dem kleinen Geheimnis des pinkfarbenen Pudels mit dem Wackelkopf beteiligt. Das tierische Spielzeug stammt von ihr.

Halten wir kurz inne. Von einer charmanten Kioskverkäuferin mit Schokoeis und stillem Mineralwasser versorgt, eilen wir im Höchsttempo durch aufregende Jahrzehnte. Unter dem Strich waren sie zielführend. So wie der Beschluss, 2001 mit einem Studium der Germanistik und Romanistik zu beginnen. Der Geldnot gehorchend, stieg sie kurz vor dem Magister aus. Hartz IV reichte nicht, um gemeinsam mit Pauline über die Runden zu kommen. Nach dem Scheitern der ersten von zwei Ehen musste sie im Alleingang ihre Frau stehen. „Wir brauchten nicht viel zum Leben“, sagt sie.

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Sushi mit der Tochter war Luxus mit Seltenheitswert

Wenn es der Etat zuließ, gönnte sich das Mutter-Tochter-Team Sushi. Das war Luxus mit Seltenheitswert. Rund sechs Jahre jobbte Stephanie Krawehl in einem Buchlädchen in Eimsbüttel. Im Februar 2011 schließlich wagte sie ein eigenes Geschäft. „Ich bin ungern eine Angestellte, die von oben Befehle empfängt“, erkannte sie. „Ich wollte etwas Eigenes machen.“

In einem ehemaligen Geschäft für Kinderkleidung und Design in Eimsbüttel eröffnete sie ihren Lesesaal, eine kleine, feine Buchhandlung. Ohne Kredit und Bürgen ging gar nichts. Auf 40 Quadratmetern, anfangs ausgestattet mit Ikea-Regalen, gestaltete sie ein Bücherreich nach ihrem Gusto. Zwei Schaufenster trugen zum Erscheinungsbild bei.

Ihr Grundgedanke, zwar Bücher für jedermanns Geschmack, aber keine Massenware feilzubieten, stieß auf Widerhall. Die erste von mittlerweile vier Ehrungen mit dem Deutschen Buchhandlungspreis für eines der besten Fachgeschäfte hierzulande verlieh Rückenwind. In dieser Ära zwischen 2011 und 2018 arbeitete die Unternehmerin im Schnitt 60 Stunden pro Woche. Geöffnet war der Lesesaal werktags zwischen 10 und 19 Uhr, zudem am Sonnabend. Da sich der Laden nach dreijähriger Durststrecke rechnete, konnten bisweilen Aushilfen angeheuert werden.

Kulturbehörde bat um Konzept für Buchhandlung in Stadthöfen

„Ich war immer schon eine Leseratte und habe für die Sache Buch gebrannt“, schildert Frau Krawehl ihre Erfahrung. Lesen sei eine Lebenseinstellung: „Gute Bücher spiegeln eine Menge wider.“ Umso erfreulicher, wenn die Saat aufgeht. Die Buchhändlerin engagierte sich vielfältig. Mehr von Idealismus als Gewinnstreben inspiriert, organisierte sie Büchertische. Im Januar 2017 trat die Kulturbehörde an sie heran – mit der Bitte, ein Konzept für eine Buchhandlung in den künftigen Stadthöfen zu entwickeln, also an historisch bedeutendem Ort.

Das Ergebnis: Im Mai 2018 wurde Stephanie Krawehls Lesesaal erster Mieter im neuen Quartier an der Stadthausbrücke. 60 von insgesamt 375 Quadratmetern Ladenfläche stehen dem Buchgeschäft zur Verfügung. Der Kredit aus der Startphase in Eimsbüttel wurde abgelöst; ein neuer aufgenommen. Getilgt ist er noch nicht.

„Lesen eröffnet Räume und Welten“

Statt mit Ikea wie zuvor in Eimsbüttel durfte sie die Einrichtung nun wunschgemäß gestalten. Die Kosten für solide Handwerksarbeit wurden übernommen. Dazu gehören Holzparkett und aus dunklem Holz gezimmerte Regale. Da „erklärungsbedürftige“ Bücher zum Sortiment zählen, wird Beratung großgeschrieben: „Wir verkaufen, für was wir persönlich stehen.“ Belletristik sowie Kinder- und Jugendbücher nehmen den größten Platz ein. Aus Prinzip wolle man nicht auf Lager haben, was alle anbieten. Eine Nische zu besetzen und auszufüllen sei die Kunst.

„Lesen eröffnet Räume und Welten“, philosophiert sie mit Blick in den Park. Sie möchte zum Stöbern einladen. Zur behaglichen Atmosphäre tragen zwei Sessel und rollende Servierwagen mit Taschenbüchern und Krimis bei. „Wir sind keine politische Buchhandlung“, stellt Frau Krawehl klar, „aber wir haben eine Haltung.“ Wir, das sind ihr Mitstreiter Wolf Gierens und die für soziale Medien zuständige Halbtagskraft Roma Maria Mukherjee. Als gewählte Vertreterin der unabhängigen Einzelhändler betätigt sich die Inhaberin im Plenum der Handelskammer.

Das Geheimnis der pinkfarbenen Pudel

 Und weil sie ihren Beruf als Geschenk begreift, Arbeit mithin nicht als Belastung sieht, ist Stephanie Krawehl umfassend im Einsatz. Stichworte sind Open-Air-Lesungen auf dem Innenhof, die seit fast zehn Jahren organisierte Initiative „Vorgelesen bekommen“, die Interviewreihe „Stephanie fragt nach“ oder ein Shop bei Instagram.

Um Miete zu sparen und Abwechslung zu leben, zog die Buchhändlerin vor vier Jahren aus Eimsbüttel auf die Veddel, in einen 1928 errichteten Backsteinbau nahe der S-Bahn. Motto: Immer wieder mal die Perspektive wechseln. Durch den Umzug in eine kleinere Wohnung musste sie sich von einem Großteil ihrer privaten Bibliothek trennen – schweren Herzens.

Für ihre Sammlung pinkfarbener Pudel aber blieb Platz. Nicht nur im Regal, auf dem Schreibtisch oder im Laden auf der Kasse. Sondern auch als Tätowierung am linken Handgelenk. Im passenden Farbton, natürlich. Tochter Pauline folgte diesem Schritt. Auch wenn es für eine intensive Bindung keines Blickes bedarf.