Hamburg. Globalisierung nach 1871: Ein Buch beschreibt, wie rasant sich das angeblich so rückwärtsgewandte Deutschland damals entwickelte.
Von Kaisers Zeiten haben viele Menschen ein fest gefügtes Bild – geprägt von dekadenten Adligen, Pickelhauben und Gartenlauben-Lektüre. Diese Vorstellung wurde über Jahrzehnte durch karikierende Filme gefestigt. In den Hauptrollen: „preußische“ Krawallheinis und obrigkeitshörige Untertanen, der deutsche Michel eben, der von Kolonien und einer mächtigen Flotte träumte, Säbelrasseln gut findet – und ansonsten den im Traditionellen verhafteten Konservatismus pflegt.
Dass das in vielem nur ein Klischee ist, zeigt das Buch „Das vernetzte Kaiserreich“ des Kölner Historikers Prof. Jens Jäger. „Das Kaiserreich war moderner, als wir denken“, schreibt der in Hamburg geborene Autor. „Der junge Nationalstaat trieb den technischen Fortschritt voran und nahm aktiv an der um 1880 beginnenden Globalisierung teil.“
Gemeinsame Identität von Deutschland
Dadurch, dass die Reichsgründung im Jahr 1871 relativ spät erfolgt war, hatte das Kaiserreich in der Tat einiges nachzuholen. Die einzelnen Regionen mussten zusammenwachsen, eine gemeinsame Identität entwickeln, und auch unter den europäischen Großmächten wollte sich Deutschland behaupten. Ergebnis war eine nationale und auch internationale Verknüpfung, unter anderem von Kommunikations-, Reise- und Handelswegen.
Vereinfach beschrieben: Das Land wurde intern und parallel mit der ganzen Welt vernetzt – national und transnational. Die logistischen Meisterleistungen, die damals in zum Teil kaum fassbarer Geschwindigkeit glückten, faszinieren noch heute. Schnelle Eisenbahn- und Schiffsverbindungen entstanden, die Telefonnetze und das Postwesen wurden rasant weiter entwickelt. Dabei gelang eine Auf- und Ausbauleistung, die höchstens mit dem Wiederaufbau nach einem Krieg zu vergleichen ist.
Hamburg: Schlüsselrolle bei Vernetzung
Jäger macht dabei deutlich: Vernetzung gab es damals bereits – auch wenn nur wenige diesen Begriff gekannt beziehungsweise benutzt haben dürften. Und: Hamburg, der zweitgrößten Metropole und bedeutendsten Hafenstadt des Reichs, kam dabei eine Schlüsselrolle zu. Hamburg als Tor zur Welt – diese heute etwas abgegriffene Definition war damals in einem nie zuvor gekannten Maße Realität.
Einige Beispiele: Zwischen 1871 und 1913 erhöht sich die Zahl der Schiffe, die den Hafen frequentieren, um das Dreieinhalbfache, die Tonnage um den Faktor sieben. Im Jahr 1895 legen im Schnitt täglich zehn Schiffe in Richtung Großbritannien ab, in das übrige Europa fünf. Insgesamt verzeichnet die Hafenbehörde in diesem Jahr mehr als 9400 Schiffsbewegungen. Aber Hamburgs Lage an der Elbe ermöglichte auch den Weitertransport der Waren aus Übersee per Binnenschiff – das wird oft übersehen. Und zum Ausbau der natürlichen Wasserwege kamen im Kaiserreich noch die großen Kanalprojekte hinzu, etwa der zwischen 1887 und 1895 erbaute heutige Nord-Ostsee-Kanal.
Telefonverbindung von Berlin nach Hamburg
Noch 1881 hatte es in Deutschland nur etwas mehr als 2000 Kilometer Telefonleitungen gegeben, die fast ausschließlich in Großstädten lagen. Diese Zahl hatte sich schon vier Jahre später verzehnfacht. Die längste Telefonverbindung führte im Jahr 1887 übrigens über rund 300 Kilometer von Berlin nach Hamburg. In einer der zeitgenössischen Quellen heißt es dazu: „Die Lautwirkung beim Sprechen war klar und kräftig und die Verständigung eine gute“.
Dass die zunehmende Globalisierung auch neue Herausforderungen an die Kriminalitätsbekämpfung stellte, realisierten damals nur einige Spezialisten. Ganz vorne mit dabei war Hamburgs Polizeichef (von 1900 an) und späterer Polizeipräsident, Gustav Roscher, der unermüdlich mit internationalen Experten auf diesem Gebiet zusammenarbeitete und weit vernetzt war. Von 1889 an gab es dazu Tagungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV), bei denen es um Rechtsfragen, Kooperationsmöglichkeiten und wissenschaftliche Erkenntnisse bezüglich der Kriminalitätsbekämpfung ging.
Internationale Kriminalistische Vereinigung in Hamburg
Im Jahr 1905 tagte die IKV in Hamburg, wo sich französische und deutsche Experten für die Kooperation aller großen Polizeibehörden stark machten. Als 1923 die Internationale kriminalpolizeiliche Kommission als Vorläuferorganisation von Interpol gegründet wurde, war das laut Jens Jäger „die verspätete Umsetzung der Vernetzungsbemühungen aus der Vorkriegszeit“.
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Da die Möglichkeiten der politischen Teilhabe im Kaiserreich für Normalbürgerinnen über Jahrzehnte kaum möglich war, engagierten sich viele Menschen in Vereinen, Kreisen und sonstigen Verbindungen um ihre Interessen durchzusetzen oder zumindest vorzubringen. Wie Jäger nachweist, brachte es der Ausbau der Kommunikationswege mit sich, dass diese Verbindungen Gleichgesinnter immer einflussreicher werden konnten und den Druck auf die Politik sukzessive erhöhten. „Nicht die mitgliederstärksten Vereine waren am einflussreichsten, sondern jene, die die relevantesten Gruppen integrierten, am besten vernetzt waren und (...) besonders geschickte Öffentlichkeitsarbeit betrieben“, schreibt Jens Jäger.
Frauenvereine stellten Forderungen an Senat
Das war eine durchaus zweischneidige Sache. So kämpften beispielsweise Frauenvereine unter anderem erfolgreich für moderne Geburtshilfe oder eine Betreuung lediger Mütter. Der Bau der Frauenklinik Finkenau in Hamburg ging maßgeblich auf eine Petition zurück, welche die hamburgischen Frauenvereine im Jahr 1909 beim Senat einreichten und in der sie eine moderne Entbindungsanstalt forderten.
Auf der anderen Seite gab es bekanntlich die aggressive Agitation von Flotten und Kolonialvereinen, die in ihrer Radikalität sogar viele konservative Politiker übertrafen. Diese klassische „Vereinsmeierei“ hat viel Schaden angerichtet und das Image auch von Bürger- und Heimatvereinen langfristig gleich mit lädiert. Zu Unrecht, wie Jens Jäger schreibt. Denn diese Vereine, die nach der Reichsgründung in großer Zahl auch in Hamburg entstanden, wollten gar nicht ohne weiteres im riesigen neuen Staatsgefüge aufgehen und mehr oder weniger unsichtbar mit dem Strom schwimmen.
„Neubestimmung der eigenen Identität"
Im Gegenteil. „Vieles spricht dafür“, so Jäger, „dass die lokal organisierte Heimatbewegung gerade deswegen Zulauf erhielt, weil die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Dynamik den Blick für die Verhältnisse vor Ort schärfte.“ Die Mitglieder hätten sich die zentrale Frage gestellt, „wer man war und sein wollte“. Und weiter: „Es ging um nichts weniger als die Neubestimmung der eigenen Identität angesichts von Nationalisierung und Globalisierung.“
Es hätte alles so schön sein können – war es aber bekanntlich nicht. Vor 1914 war Deutschland diejenige europäische Großmacht, die am intensivsten Handel mit anderen Nationen betrieb und am engsten mit diesen vernetzt und verflochten war, weist Jäger nach. Das habe nicht nur für die Wirtschaft gegolten, sondern „eigentlich für alle gesellschaftlichen Bereiche“. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs betrieben deutsche Reedereien, das nur als ein Beispiel, 28 Postdampferlinien in alle Welt. Aber: „Daraus erwuchs keine allgemeine ,globale’ oder humanistische Grundhaltung der Deutschen“, schreibt Jens Jäger, „auch wenn eine solche in vielen Reformbewegungen und Teilen der Bevölkerung durchaus anzutreffen war.“
Vor- und Nachteile der Vernetzung – einst und heute
Die Vernetzung sei eben auch ein Instrument derjenigen gewesen, die Internationalismen ablehnten und sich nach einem wie auch immer definierten „Außen“ abgrenzen wollten. „Denken in nationalen Kategorien war selbstverständlich, ebenso wie der Glaube daran, dass man mit anderen Nationen in mehr oder weniger aggressiver Konkurrenz stehe“, so der Autor. Wer sich heute die Entwicklung der Europäischen Union ansieht, wird Ähnlichkeiten erkennen.
Jens Jägers Fazit: „Die Vernetzung trug zwar dazu bei, Traditionen, Haltungen und Wissensbestände zu verändern. Sie besaß die Macht, soziale und ökonomische Ungleichheiten abzumildern, schuf oder schützte partikulare Gemeinschaften. Sie förderte aber auch die Bildung radikaler und extremer Überzeugungen, die entsprechend inspirierte und solide Gruppierungen sehr wirksam zu verbreiten vermochten.“
Zum Weiterlesen
Das Buch „Das vernetzte Kaiserreich. Die Anfänge von Modernisierung und Globalisierung in Deutschland“ von Jens Jäger ist bei Reclam erschienen. Es hat 260 Seiten und kostet 22 Euro.