Hamburg. Am Freitag kam der letzte Teilnehmer der Vendée Globe ins Ziel – zeitgleich erscheint das Magazin über den Hamburger Segler.
Boris Herrmann hat es geschafft – er ist derzeit Deutschlands bekanntester Segler. Er hat sich seinen Traum erfüllt und ist die wohl härteste Regatta der Welt, die Vendée Globe, erfolgreich bis ins Ziel gesegelt. Er war 80 Tage allein an Bord und hat dennoch Millionen Menschen mitgenommen auf seiner Reise um die Welt.
Seit Anfang Februar ist er wieder zuhause in Hamburg. Am Freitag hielt er erstmals jetzt frisch gedruckt sein eigenes Magazin in den Händen – die „Collector’s Edition Boris Herrmann“. Und gleichzeitig überquerte der letzte Teilnehmer der Regatta die Ziellinie. Ein Rückblick.
8. November 2020: Boris Herrmann startet bei traumhaften Bedingungen in das Abenteuer seines Lebens. Um 14.20 Uhr fahren bei Sonnenschein und moderaten Winden nacheinander die 33 Männer und Frauen mit ihren Schiffen über die Startlinie und begeben sich auf die 24.296 Meilen lange Strecke einmal um die Welt. Herrmann könnte nicht glücklicher sein. Lange hatten er und die anderen Teilnehmer Sorge gehabt, dass die Regatta wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden könnte. Um eine eigene Infektion unbedingt zu vermeiden, hatte sich der Hamburger wochenlang zu Hause in Isolation begeben.
„Ich habe zeitweise bei Spaziergängen mit unserem Hund anderen Menschen untersagt, das Tier zu streicheln. So eine Angst hatte ich vor einer Infektion“, sagt Herrmann. Das seien deshalb besonders anstrengende Wochen für ihn gewesen. Umso glücklicher strahlt der Hamburger auf seinem Schiff, als er lossegeln kann. Herrmann kommt gut ins Rennen, liegt in den ersten Minuten sogar auf dem ersten Rang. Dabei hatte er sich vorgenommen, eher defensiv zu starten, um einen Frühstart mit Zeitstrafe zu vermeiden.
26. November 2020: Gut zwei Wochen nach dem Start muss Boris Herrmann eine erste Bewährungsprobe bestehen und in seinen 29 Meter hohen Mast klettern. Für Herrmann, der unter Höhenangst leidet, ein absoluter Horror. „Wenn ich im Hafen nach oben gehe, dann versuche ich nicht nach unten zu schauen, schnappe ein paarmal nach Luft und überwinde meine Höhenangst“, sagt Herrmann nach dem Rennen im Interview mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Auf dem schwankenden Schiff und dazu noch ganz allein, das habe ihn große Überwindung gekostet.
„Aber ich musste hoch, weil ein Segel sich verhakt hatte.“ Der Verschlussmechanismus sei von Salz verkrustet gewesen, sodass die Mechanik sich nicht mehr gelöst habe. Herrmann ist auf dem Weg ins Südmeer, außerdem ist das größte Segel betroffen. „Das musste runter, bevor ich meine Reise fortsetzen konnte in die rauen Gewässer.“ Zum Glück herrschen an diesem Tag gute Bedingungen.
Dennoch, das Boot fährt auch in langsamer Fahrt noch gegen die Wellen an und macht seine Bewegungen in der Welle, die im Masttop unendlich viel stärker sind. Der Hamburger wird später berichten, dass er diese Situation oft geübt habe, unter anderem mit Bergsteigern. Er habe die entsprechende Ausrüstung an Bord gehabt, mit Protektoren und einem Helm. „Daher hat auch alles am Ende gut geklappt, es war nur eine riesige Überwindung.“
30. November 2020: Boris Herrmann erlebt an diesem Tag hautnah mit, wie gefährlich die Vendée Globe sein kann. Konkurrent Kevin Escoffier gerät rund 800 Meilen südlich von Kapstadt in Seenot, als sein Schiff, die „PRB“, einfach auseinanderbricht und sinkt. Herrmann liegt im Feld hinter ihm und wird von der Regattaleitung sofort zusammen mit Yannick Bestaven („Maitre Coq“), Sebastien Simon („Arkea Paprec“) und Jean Le Cam („Yes we Cam“) umgeleitet, um sich auf die Suche nach dem Schiffbrüchigen zu begeben. Escoffier wird Stunden später von dem ältesten Teilnehmer im Feld, dem 61-jährigen Le Cam, aus dem Wasser gefischt.
Herrmann berichtet am nächsten Tag über die aussichtslos erscheinende Suche nach dem Konkurrenten. „Ich war sehr konzentriert auf meine Aufgabe“, sagt er, noch sichtlich erschöpft. „Ich hatte einen Suchsektor abzusuchen.“ Die ganze Zone, die ihm zugeteilt worden war, hätte ihn 15 bis 20 Stunden gekostet. „Man wird sich in dem Moment bewusst, wie unglaublich groß das Suchfeld ist und was für eine Nadel im Heuhaufen wir suchen.“
Dennoch sei er sehr motiviert gewesen und habe versucht, in alle Richtungen zu schauen. „Gleichzeitig war klar, dass man das nicht zehn Stunden durchhalten würde, Ausschau zu halten. Es ist sehr, sehr kalt gewesen in der Nacht. Und hoher Seegang. Die Gischt kam über Deck. Irgendwie waren auch Grenzen gesetzt.“
Boris Herrmann lobt die Regattaleitung. „Es war toll zu sehen, dass die Regattaleitung alle Boote umgeleitet hat, sodass wir in einer Flotte gemeinsam suchen konnten“, sagt der Hamburger. „Und dass wir dem Glück so eine Chance geben konnten. Und dass wir das Glück hatten, dass Kevin gefunden werden konnte. Das ist eine große Erleichterung.“ Nun falle erst einmal die Anspannung der Nacht von ihm ab.
„Natürlich ist da auch eine gewisse Traurigkeit.“ Er fahre schon wieder sein normales Rennen weiter. „Aber ich bin im Kopf noch nicht wieder ganz dort, wo das Rennen ist. Aber das wird sicherlich bald kommen. Heute gebe ich mir ein wenig Zeit, die Sache sacken zu lassen.“ Herrmann berichtet später, dass er einige Tage gebraucht habe, dieses Erlebnis zu verarbeiten.
2. Dezember 2020: Boris Herrmann passiert nur zwei Tage nach der großen Rettungsaktion als fünfter Segler das Kap der Guten Hoffnung, das erste Kap auf der Route der drei Kaps, wie die Strecke auch genannt wird. 23 Tage und 15 Stunden nach dem Start in Frankreich erreicht er die Zwischenmarke, an der er etwa ein Drittel der Reise hinter sich hat.
14. Dezember 2020: Boris Herrmann passiert Kap Leeuwin, den südlichsten Punkt des australischen Festlands. Damit hat er das zweite Kap geschafft. „Nun haben wir etwa 44 Prozent der Reise hinter uns“, sagt er in einem Video. „Ich feiere das mit einem sehr guten Mittagessen heute“, erzählt er weiter gut gelaunt in die Kamera.
16. Dezember 2020: Die internationale Jury der Vendée Globe gibt bekannt, welche Zeitgutschrift die Segler bekommen, die an der Rettung von Kevin Escoffier beteiligt waren. Das ist ein üblicher Vorgang, mit dem ihr Engagement ausgeglichen werden soll. So wird Jean Le Cam eine Entschädigung von 16 Stunden und 15 Minuten zugesprochen, Yannick Bestaven erhält 10 Stunden und 15 Minuten und Boris Herrmann 6 Stunden. Diese Gutschriften sind es, die am Ende das Rennen entscheiden sollen. Doch das ahnt zu diesem Zeitpunkt noch keiner.
24. Dezember 2020: Boris Herrmann feiert Weihnachten im Südpazifik. Eine Lichterkette, eine kleine Kerze und Fotos seiner Familie sorgen für schöne Stimmung an Bord. Das besondere Geschenk an diesem Tag: viele Nachrichten von Familienmitgliedern und Freunden aus der ganzen Welt, zusammengeschnitten von seinem Team als Geschenk.
Der Hamburger wird später berichten, dass er es sich in seinem Cockpit bequem gemacht habe und zum Essen mithilfe eines mobilen Lautsprechers Stück für Stück all die lieben Nachrichten abgehört habe. Einige singen sogar für den Extremsegler. Sein wichtigster Wunsch: „Ich hoffe sehr, dass mir bis zum Ende der Reise nichts vor den Bug schwimmt und das Schiff und ich heil zurückkehren.“
31. Dezember 2020: Boris Herrmann sendet zu Silvester herzliche Grüße von Bord. Er ist nur noch wenige Tage entfernt von Kap Hoorn, wie er sagt. „Alles ist 100 Prozent in Ordnung, alles ist repariert“, sagt er. Nun könne er im Atlantik angreifen. Aber nicht nur das, es gehe bei allem auch um das Rennen gegen den Klimawandel. „Deshalb ist das alles hier noch viel mehr als ein sportliches Event, es geht um viel mehr.“ Dabei könne die Bedeutung der Ozeane für das Klima nicht hoch genug angesehen werden. Es ist ein eindrückliches Video, mit dem er die Bedeutung der Meere für den Klimawandel erklärt.
5. Januar 2021: Boris Herrmann passiert Kap Hoorn kurz nach Silvester. Nach 57 Tagen, 13 Stunden und 7 Minuten erreicht er das dritte Kap der Regatta als Zehnter. Er ist in der Wertung zurückgefallen, weil er sein Großsegel flicken musste und dabei Zeit verlor. Vier Boote passieren das Kap innerhalb von nur vier Stunden. Sehen kann er das Kap nicht, bei stürmischen Winden hält er etwa 40 Meilen Abstand zum Land.
Für den 39-Jährigen war es bereits die fünfte Kap-Hoorn-Passage seiner Segelkarriere. „Kap Hoorn ist die wichtigste Wegmarke für mich auf der Reise“, sagt Herrmann. Endlich würde der Bug seines Schiffes wieder gen Norden zeigen, nach Hause. Herrmann plant eine Aufholjagd. 7000 Meilen liegen vor dem Extremsegler, bis er über die Ziellinie fährt.
27. Januar 2021: Boris Herrmann hat seiner Ankündigung Taten folgen lassen und im Atlantik eine rasante Aufholjagd hingelegt. Mittlerweile rangiert er an dritter Stelle der Flotte, hat durch die Zeitgutschrift sogar reelle Siegchancen. Am späten Abend soll der Hamburger über die Ziellinie segeln. Alles ist für seinen Empfang vorbereitet. Sogar seine Frau Birte Herrmann-Lorenzen und die kleine Tochter Marie-Louise sind nach Frankreich gekommen, um ihn nach 80 Tagen auf See zu begrüßen.
Das Interesse an Herrmann ist riesig. Doch am späten Abend verringert sich die Fahrt seiner „Seaexplorer“ auf dem Tracker plötzlich stark. Sofort beginnen die Spekulationen. Leider soll sich die schlimmste von ihnen bewahrheiten. Der Hamburger hat in der Dunkelheit einen Fischtrawler gerammt. Sein Foil, also die Tragfläche, auf der Steuerbordseite ist beschädigt. Sein großes Segel zerrissen.
Und der Mast muss stabilisiert werden. Etwa eine halbe Stunde nach dem Zwischenfall meldet Herrmann sich mit einem Video von Bord. Sichtlich angefasst erzählt er, wie er nur kurz im Cockpit noch einmal eingeschlafen sei. Um dann von einem lauten Rums geweckt zu werden.
„Ich wachte auf und schaute auf eine riesige Wand. Meine Segel auf der Steuerbordseite waren an seiner Seite. Mein Gennaker hatte sich in seinen Kränen und anderen seitlichen Aufbauten verfangen. Mein Outrigger knallte ein paar Male in den Fischtrawler. Dann konnte ich glücklicherweise an ihm vorbeikommen und weiterfahren. Aber das war ein echter Schockmoment“, erzählt er in dem Video vom späten Abend.
Herrmann ist am Boden zerstört. „Es tut mir leid für alle, die uns unterstützen, dass das passiert ist. Das ist sicher der schlimmste Albtraum, der mir je passiert ist. Auf der Habenseite steht, dass wir immer noch im Rennen sind und immer noch einen Mast haben. Es sind 85 Seemeilen bis ins Ziel. Ich denke, dass wir das schaffen können. Wir werden viele Plätze verlieren, aber das ist nahezu zweitrangig im Moment.“
Boris Herrmann wird auch hinterher sagen, dass er nicht verstehen kann, wie die Kollision passieren konnte. „Ich hatte alle Alarmsysteme an. Es gab an diesem Nachmittag viele Schiffe. Der Radaralarm hat mich jedes Mal perfekt gewarnt. Ich hatte alles an. Und ich habe mit jedem Schiff bewusst gecheckt, ob der Alarm gut funktioniert. Als ich nach dem Vorfall wieder unter Deck war, gab es aber keinen Alarm. Wie kann das Radar dieses Schiff nicht sehen? Ich habe keine Ahnung.“
Boris Herrmann erledigt in der Nacht die nötigen Reparaturen und fährt nun nur noch mit etwa acht Knoten Richtung Ziel. „Ich freue mich, dass ich das Rennen beenden kann. Es ist ziemlich herzzerreißend, aber wir werden das schaffen.“
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28. Januar 2021: Nach 80 Tagen, 14 Stunden, 59 Minuten und 45 Sekunden erreichte der Hamburger um 11.19 Uhr das Ziel. Allerdings nicht wie geplant mit hoher Geschwindigkeit, sondern quälend langsam. Gerade etwas mehr als sieben Knoten fährt sein Schiff noch – so schwer ist es beschädigt. Boris Herrmann kreuzt als Fünfter die Ziellinie. Wenig später fährt der Hamburger in den Hafen von Les Sables-d’Olonne ein. Begleitet von unzähligen Motorbooten. Mit lauten Tröten begrüßen ihn die Menschen an Land und auf See. An Fenstern entlang der Küste hängen Boris-Banner.
Herrmann selber brennt bunte Fackeln ab. Kaum ist er in den Hafen gefahren, springt Herrmanns Frau Birte Lorenzen-Herrmann an Bord und umarmt ihn lange und fest. Wenige Sekunden später betritt Herrmann zum ersten Mal seit mehr als 80 Tagen wieder festes Land – und umarmt zärtlich seine kleine Tochter Marie-Louise. „Ich bin glücklich über das Ergebnis, auch angesichts der Umstände“, sagt Boris Herrmann bei der Pressekonferenz wenig später.
Die Enttäuschung über den verpassten Sieg scheint erst einmal vergessen. Den erringt der Franzose Yannick Bestaven. Zwar hat der 48 Jahre alte Skipper der „Maître Coq IV“ in der Nacht 7:43 Stunden nach seinem Landsmann Charlie Dalin („Apivia“) das Ziel erreicht. Doch reicht ihm eine Zeitgutschrift von 10:15 Stunden zum Erfolg. Herrmann landet am Ende berechnet auf dem fünften Platz.
5. März 2021: Am Freitagmorgen überfährt der letzte Teilnehmer der Vendée Globe, der Finne Ari Huusela, 36 Tage nach Herrmann die Ziellinie. Er war 116 Tage auf See. Mit seiner Ankunft in Frankreich endet die 9. Vendée Globe.
Das Magazin
Die „Collector’s Edition – Boris Herrmann“ – alles über Deutschlands bekanntesten Segler, seine Regatten um die Welt und seine Mission: auf 100 Seiten, für 10 Euro (Treuepreis über das Abendblatt 8 Euro). Erhältlich in der Abendblatt-Geschäftsstelle (von Montag an), auf abendblatt.de/magazine, unter Telefon 040 / 333 66 999 sowie im Zeitschriftenhandel und bei Amazon.