Hamburg. Kaum freigelassen, schon soll Albert X. Hunderte Kilo Rauschgift gedealt haben. Einst war er an blutigen Verteilungskämpfen beteiligt.
Ein Ermittler nannte es „eine ganz dicke Goldader“. Quasi live und in Echtzeit konnten die Polizisten mitverfolgen, was Kriminelle aus gutem Grund geheim halten wollen: wie sie Drogengeschäfte abwickeln, wo sie ihr Rauschgift bunkern, wann es verkauft werden soll. Die Täter waren am Telefon so gesprächig und vertrauensselig, weil sie glaubten, ihre Mobiltelefone seien abhörsicher.
Doch das Handykommunikationsnetzwerk Encro-Chat, die Marke des Vertrauens unter Schwerverbrechern, die Straftaten wie etwa Drogenhandel, Mord und Erpressung planten, war nicht so gut verschlüsselt, wie es den Anschein hatte. Und so kam es zu Razzien, bei denen immer mehr Verdächtige festgenommen wurden. Verdächtige, die sich jetzt wegen schwerer Straftaten vor den Gerichten verantworten müssen.
Verfahren wegen Rauschgifthandels im großen Stil
Am Freitag begann vor dem Landgericht ein Verfahren gegen zwei Männer, die wegen Rauschgifthandels im großen Stil angeklagt sind. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, von bislang unbekannten Lieferanten gut hundert Kilogramm Kokain erhalten, in einer Wohnung gelagert, gestreckt und weiterverkauft zu haben. Dabei sollen sie einen Preis von mindestens 29.000 Euro pro Kilo erzielt haben. Es droht eine Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren.
Einer der beiden Angeklagten ist für die Hamburger Justiz alles andere als ein Unbekannter. Albert X., der am Tag des Prozessauftaktes seinen 50. Geburtstag feiert, erhielt im Februar 1997 unter anderem wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe. Hintergrund waren blutige Verteilungskämpfe rivalisierender Gruppen um eine Vorherrschaft bei Drogengeschäften auf dem Kiez.
Ermordung eines unbeteiligten Kaufmanns
Im Zusammenhang mit dieser brutalen Fehde war zu mehreren Schießereien gekommen. Besonders tragisch: Bei einem dieser Kämpfe wurde am 12. Dezember 1994 in Altona ein unbeteiligter Kaufmann ermordet. Der 43-Jährige hatte einen flüchtenden Mann irrtümlich für einen Ladendieb gehalten und sich ihm in den Weg gestellt.
Um seinen Komplizen zu befreien, erschoss Albert X. daraufhin den Kaufmann. „Gezielt in den Kopf, wie bei einer Hinrichtung“, urteilten seinerzeit die Richter im Schwurgerichtsprozess gegen den jungen Albaner. Der Vorsitzende hielt dem Angeklagten damals vor, er habe „mangelnde Achtung vor menschlichem Leben“. Zusätzlich zur Verurteilung wegen Mordes wurde für den Angeklagten seinerzeit die besondere Schwere der Schuld festgestellt.
Angeklagter saß bis 2013 im Gefängnis
Inklusive der Zeit, die Albert X. in Untersuchungshaft verbracht hatte, saß er dafür 18 Jahre hinter Gitter, bevor er im April 2013 auf Bewährung freigelassen wurde. Seine Reststrafe wurde im Mai 2018 erlassen. Keine zwei Jahre später, von März bis August vergangenen Jahres an, soll nun Albert X. zusammen mit einem weiteren Mann an den Kokain-Geschäften beteiligt gewesen sein.
Am ersten Verhandlungstag vereinbarten die Verfahrensbeteiligten, dass sogenannte Verständigungsgespräche geführt werden sollen. Dabei geht es darum zu erörtern, ob den Angeklagten eine bestimmte maximal zu erwartende Strafe zugesichert werden kann – vorausgesetzt, sie legen ein umfassendes Geständnis ab.
Der Prozess ist einer der ersten beim Hamburger Landgericht, die sich aus Ermittlungen bei der Auswertung der Encro-Chats ergeben haben. Aktuell zählt das Landgericht 26 Verfahren, in denen die Encro-Chats eine Rolle spielen. Etliche weitere werden erwartet. Denn: Bei der Hamburger Staatsanwaltschaft sind in diesem Zusammenhang inzwischen mehr als hundert Verfahren mit teils mehreren Beschuldigten anhängig, und zahlreiche weitere Ermittlungen laufen.
27 Staatsanwälte mit Bearbeitung der Encro-Chat-Verfahren beauftragt
Insgesamt sind 27 Staatsanwälte aus unterschiedlichen Abteilungen auch mit der Bearbeitung von Encro-Chat-Verfahren befasst. Inhaltlich gehe es, so eine Sprecherin, ganz überwiegend um schwere Drogenkriminalität, in Einzelfällen auch im Tonnenbereich. Aber auch andere Deliktfelder – bis hin zu Tötungsdelikten, die in Chats geplant beziehungsweise in Auftrag gegeben werden – seien betroffen. „Aus Ermittler-Sicht sind die aus den Servern des Encro-Chat-Dienstes gewonnenen Daten und die daraus resultierenden Strafverfahren natürlich ein großer Erfolg“, sagt Gerichtssprecher Kai Wantzen.
„Zum Gesamtbild gehört aber auch, dass die aktuelle Häufung dieser Verfahren für die Großen Strafkammern des Landgerichts einen spürbaren Belastungszuwachs bedeuten, der dadurch noch verstärkt wird, dass es sich nahezu ausschließlich um Haftsachen handelt, die besonders beschleunigt behandelt werden müssen.“
Lesen Sie auch:
- Polizist bei Prozess: „Ich dachte, er tritt ihn tot“
- 20-Jähriger schweigt – hat er für ein Auto getötet?
Schon die bislang eingegangenen 26 Verfahren fielen gemessen an der Gesamtzahl der Fälle pro Jahr durchaus ins Gewicht, so Wantzen. So wurden beim Landgericht im Jahr 2020 insgesamt 438 neue Verfahren anhängig, nachdem die Zahl der Neuzugänge in den Jahren davor relativ konstant bei etwa 400 gelegen hatte (2017: 380; 2018: 404; 2019: 395).
Der Gerichtssprecher betont: „Diese Entwicklung verdeutlicht, wie wichtig die personelle Verstärkung des Landgerichts in den letzten Jahren gewesen ist und wie unverzichtbar diese Stellen auch zukünftig sein werden.“