Hamburg. Wissenschaftler und Politik im Rathaus einig: Für Lockerungen ist es zu früh. Impfstudie des UKE vielversprechend.
Wer gehofft hatte, dass die Zahl der Neuinfektionen gegen Ende der zweiten Woche des „Lockdown light“ endlich sinken würden, wurde am Freitag enttäuscht: Die Gesundheitsbehörde meldete 535 Fälle. Am Donnerstag waren es zwar 660 gewesen, doch am Dienstag und Mittwoch hatte es mit 422 beziehungsweise 396 Neuinfektionen schon deutlich niedrigere Werte gegeben.
Die Sieben-Tage-Inzidenz kletterte am Freitag von 165,2 auf 167,9 Ansteckungen pro 100.000 Einwohner. Seit Ausbruch der Pandemie haben sich in Hamburg 19.450 Menschen nachweislich mit dem Coronavirus infiziert. Rund 11.000 von ihnen gelten als genesen. Somit wären 8450 Hamburger derzeit akut infiziert. Das Robert-Koch-Institut (RKI) zählte am Freitag für die Hansestadt 310 Tote, zwei mehr als am Vortag.
Hamburgs Bürgermeister sieht Zeichen der Hoffnung in Corona-Krise
Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) sah im Anschluss an eine Gesprächsrunde mit führenden Medizinern und Wissenschaftlern im Rathaus am Freitag dennoch Zeichen der Hoffnung. „Weder besorgen mich die sehr hohen Einzelwerte noch erleichtern mich die an manchen Tagen niedrigeren Zahlen, weil es immer Gründe gibt, warum sich die Erfassung tageweise verschieben kann“, sagte er. Die Behörden blickten immer auf die Auswertung einer ganzen Woche.
Da sei es gelungen, die „stark exponentielle Entwicklung“ zu bremsen. „Wir haben derzeit begründete Hoffnung, dass wir bei den neuen Infektionszahlen auf einem Plateau sind“, sagte Tschentscher. Für eine Entwarnung gebe es aber noch keinen Anlass. „Wir müssen durch die Zahlen der kommenden Tage und Wochen sicher sein, dass wir die Infektionsdynamik gebrochen haben, wenn wir darüber entscheiden, ob wir uns Lockerungen erlauben können – Ende November oder mindestens vor Weihnachten.“
Anstehende Gespräche mit den Länderchefs und der Bundeskanzlerin
Das „Update aus der Sicht von Experten“ sei „sehr hilfreich“ für die anstehenden Gespräche mit den Länderchefs und der Bundeskanzlerin am Montag, sagte Tschentscher. Er verstehe „sehr gut das große Bedürfnis nach Planungssicherheit“, gerade in Bezug auf das Weihnachtsfest. Aber vieles hänge davon ab, wie sich die Infektionszahlen weiter entwickelten. Aus heutiger Sicht gehe er nicht davon aus, „dass wir weitere Beschränkungen für den Einzelhandel beschließen müssen“. Für das Weihnachtsgeschäft freue er sich „auf ein weihnachtliches Bild in der Innenstadt“, sagte Tschentscher. Viel mehr Sorgen mache er sich um die Gastronomie und die Veranstaltungswirtschaft.
Corona-Krise in Hamburg: Senatorin zur Lage der Stadt
Prof. Stefan Kluge, Leiter der Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) berichtete, dass derzeit 71 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen Hamburger Krankenhäuser behandelt werden (einer weniger als am Vortag), zwölf von ihnen am UKE. Durchschnittlich zehn Tage dauere es nach Symptombeginn, bis Corona-Patienten gegebenenfalls intensivmedizinisch betreut werden müssten.
Zahl der Intensivpatienten dürfte weiter steigen
Deshalb rechnet Kluge damit, dass die Zahl der Intensiv-Patienten in den kommenden zwei bis drei Wochen weiter ansteigen werden. Derzeit gebe es in Hamburg 900 Intensivbetten, doch nicht alle seien belegbar, weil Personal fehle. Man spreche mit Mitarbeitern, die über intensivmedizinische Erfahrung verfügten, und versuche, sie in diesem Bereich einzusetzen. Patienten, die medizinische Hilfe benötigen, sollten jedoch nicht „aus falsch verstandener Angst“ vor Ansteckung Praxen und Krankenhäuser meiden, so Kluge.
Auch Prof. Martin Scherer, Leiter der Allgemeinmedizin am UKE, unterstrich, wie wichtig es sei, dass Patienten mit anderen Erkrankungen auch wirklich versorgt würden. Die Praxen seien „sehr gut vorbereitet und sehr sicher“ – niemand müsse Angst haben, sich in einer Arztpraxis anzustecken, so Scherer.
Gute Neuigkeiten von UKE-Impfstudie
Prof. Marilyn Addo, Leiterin der Infektiologie am UKE, brachte gute Neuigkeiten von der Impfstudie mit, deren erste Phase im Oktober unter ihrer Leitung an der Eppendorfer Klinik läuft. Alle Studienteilnehmer seien bereits mindestens einmal geimpft worden. Der Hamburger Impfstoff werde „bisher sehr gut vertragen“, sagte sie. Addo glaubt, dass mit einer Zulassung des in der Entwicklung am weitesten vorangeschrittenen Impfstoffs der Firmen Biontech und Pfizer in Deutschland Anfang kommenden Jahres gerechnet werden kann. Hamburg arbeite bereits mit Hochdruck an einem „Impf-Regime“, pflichtete Tschentscher bei. „Alle Hamburgerinnen und Hamburger können sich darauf verlassen, dass wir einen Wirkstoff zur Pandemie-Bekämpfung einsetzen, sobald er verfügbar ist.“ Allerdings habe die Bereitstellung eines Impfstoffes auch „sehr hohe logistische Anforderungen“.
Corona-Krise: Hamburg ändert die Strategie
Alle Beteiligten lobten den Austausch zwischen Wissenschaftlern und Politik. Nach Tschentschers Worten ging es unter anderem um die Frage: „Wie können wir Maßnahmen nicht verschärfen, aber schärfen?“ Der Virologe Prof. Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut erklärte, generell sollten Schnelltests PCR-Tests nicht ersetzen, sondern ergänzen. „Nach einem negativen PCR-Test haben sie einen längeren Zeitraum, bei dem sie sicher sein können, dass sie nicht infektiös sind.“ In Hamburg könne auf diesem Gebiet „etwas mit Vorbild-Charakter entstehen“.
Verfeinerte Teststrategie
Als Beispiel für eine verfeinerte Teststrategie nannte er die Schulen. Gerade hier könne sie verhindern, dass ganze Klassen oder Kohorten geschlossen 14 Tage in Quarantäne gehen müssten. Das Infektionsgeschehen bei den unter Sechsjährigen sei „kein Problem“, so Schmidt-Chanasit. Bei insgesamt 80.000 Tests im Kita-Bereich habe es etwa 100 Positivnachweise gegeben. Der Virologe verteidigte die Entscheidung der Politik, die Schulen generell offen zu halten. Je stärker das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung verbreitet sei, desto größer sei auch die Gefahr, dass Infektionen in die Schulen hineingetragen würden und auch Herde entstünden. „Aber Schulen sind keine Treiber des Infektionsgeschehens“, so Schmidt-Chanasit.
Coronavirus – die Fotos zur Krise
Am Freitag waren Schüler und Lehrer in Hamburg erneut leicht überproportional am Corona-Infektionsgeschehen in der Stadt beteiligt. Die Schulbehörde meldete 91 Neuinfektionen an 52 Schulen. Das entspricht einem Anteil von 17 Prozent. Der Anteil der rund 290.000 Schüler und Schulbediensteten an der Hamburger Bevölkerung liegt dagegen laut Behörde bei nur 15,3 Prozent.
Ärztekammerchef: Hamburger zeigen sehr viel Selbstdisziplin
Betroffen von den neuen Infektionen waren am Freitag 77 Schüler und 14 Schulbedienstete. Die meisten Fälle gab es an der Beruflichen Schule für Wirtschaft Hamburg-Eimsbüttel (BS 26) und der Goethe-Schule-Harburg (je drei betroffene Schüler), an der Schule auf der Veddel (drei Schulbeschäftigte und ein Schüler), an der August-Hermann-Francke-Schule Farmsen und der Emil Krause Schule (je sechs Schüler) und am Helmut-Schmidt-Gymnasium (neun Schüler und zwei Schulbeschäftigte). Es wurden für eine Klasse Quarantänemaßnahmen veranlasst.
Am Freitag verständigten sich nun auch die Bildungsminister der Länder in einer virtuellen Sitzung der Kultusministerkonferenz (KMK) darauf, weiter am vollen Präsenzunterricht in den Schulen festzuhalten. Man wolle nun zunächst die Beratungen der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin am Montag abwarten, hieß es aus der Hamburger Schulbehörde. Insgesamt sind in Hamburg laut Schulbehörde aktuell 804 akute Infektionen von Menschen aus dem schulischen Kontext an 227 Schulen bekannt. Betroffen sind 653 Schülerinnen und Schüler sowie 151 Schulbeschäftigte. 102 Klassen sowie 289 Schulbeschäftigte befinden sich in Quarantäne. Seit Ende der Herbstferien Mitte Oktober seien 1479 Neuinfektionen registriert worden: 1176 bei Schülerinnen und Schülern und 303 bei Schulbeschäftigten.
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Bürgermeister Tschentscher richtete sich am Ende der Pressekonferenz direkt an die Bürger: „Ich bin überzeugt, dass wir der Pandemie weiterhin standhalten werden.“ Er rief die Hamburger auf, sich weiterhin an die Regeln zu halten. „Wir müssen – jeder für uns selbst – jeden Tag Verantwortung übernehmen“, so der Appell des Stadtoberhauptes. Der Präsident der Ärztekammer, Pedram Emami, hob das „hohe Maß an Selbstdisziplin“ der Hamburger hervor. Dies habe dafür gesorgt, dass die Verhältnisse in der Hansestadt nicht so schlimm seien wie in einigen Nachbarländern.
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