Hamburg. Biontech-Vorstand Marett über die Entstehung des Corona-Impfstoffs, seine Funktion, Nebenwirkungen und wo er produziert wird.

Das Büro von Sean Marett sieht absolut nicht nach Big Business aus – und doch führt der Vertriebsvorstand von Biontech von hier aus die Verhandlungen mit der EU und Gespräche mit der Bundesregierung zu den Lieferungen des neuartigen Impfstoffs gegen Corona.

Seit dem Lockdown im Frühjahr arbeitet der 55-Jährige mit britischer und irischer Staatsangehörigkeit nicht mehr in der Zentrale des Unternehmens in Mainz, sondern im Homeoffice im Hamburger Umland – in angemieteten Räumen, denn Marett ist Vater von drei Kindern. In den eigenen vier Wänden ist es mitunter etwas zu unruhig.

Hamburger Abendblatt: Sind Sie schon geimpft mit dem neuen Impfstoff?

Sean Marett: Nein, bin ich nicht. Und es ist auch nicht gestattet. Um sich impfen zu lassen, müsste ich an einer klinischen Studie teilnehmen. Impfungen außerhalb sind nicht möglich.

Wie der Corona-Impfstoff von Biontech funktioniert

Ihre Art des Impfstoffes, ein mRNA-Impfstoff, ist neu, warum funktioniert er besser als andere in der Erprobung?

Marett: Die Impfstoffe setzen auf unterschiedliche Technologien. Das „m“ steht für Messenger, das heißt, wir überbringen dem Körper eine Botschaft, wie er selbst ein ungefährliches Stück des Covid-19-Virus herstellen kann, um sich damit einen Immunschutz anzutrainieren. Es ist also eine Art Trockenübung für den Körper. Der Körper erhält per mRNA die Information, eine Art Bauplan, wie er einen nicht infektiösen Teil des Coronavirus herstellen kann. Er ist ungefährlich, weil er nur ein Teil der Oberfläche ist. Das sogenannte „Spike“-Protein, das charakteristisch ist für das Aussehen des Virus. Der Körper lernt, diese Oberfläche zu erkennen und sich dagegen zu schützen, mit üblichen Reaktionen des Immunsystems, die auch bei echten Infektionen eintreten. Deshalb haben einige Geimpfte auch Impffieber oder fühlen sich für ein, zwei Tage etwas abgeschlagen. Der Körper trainiert in dieser Zeit, wie er gegen das Virus vorgeht.

Wirkt der Impfstoff in allen Altersgruppen gleich gut?

Marett: Wir haben in unserer ersten Phase gesehen, dass der Impfstoff auf diesen Fremdkörper sowohl eine Antikörper-Antwort generiert als auch eine T-Zellen-Antwort. Und der Impfstoff wirkte bei allen 500 weltweiten Probanden zwischen 18 bis 85 Jahren. Allerdings unterschiedlich stark. Ganz wichtig war die Erkenntnis, dass bei allen Probanden das Niveau der Antikörper höher war als bei genesenen Covid-Erkrankten. Die bis zu 55-Jährigen haben im Durchschnitt sogar fast viermal mehr Antikörper gegen das Virus produziert als genesene Covid-Erkrankte, bei den Älteren zwischen 65 bis 85 Jahren war das Niveau immer noch etwa 1,6-mal höher. Die Daten lassen die Schlussfolgerung zu, dass es auf unseren Wirkstoff eine starke Immunantwort gibt. Diese Ergebnisse hatten wir auch bereits im Sommer in der Fachzeitschrift „Nature“ publiziert.

Warum sind Antikörper und T-Zellen so wichtig für die Abwehr des Covid-19-Virus?

Marett: Das Virus kommt in unseren Körper und versucht, in unsere Zellen zu gelangen. Antikörper verhindern, dass das Virus das tut. Wenn es jedoch zu viele Viren sind und eine Zelle infiziert ist, übernimmt das Virus dort die Kontrolle und weist sie an, weitere Viren herzustellen und weitere Zellen damit zu infizieren. Um diesen Prozess zu stoppen, benötigt man dann verschiedene T-Zellen, die die befallenen Zellen zerstören. Diese T-Helferzellen koordinieren zudem die Immunantwort zwischen den Antikörpern und den T-Killerzellen. Das Besondere ist: Unser Impfstoff arbeitet in beiden Bereichen, er regt sowohl die Antikörper-Bildung an und aktiviert gleichzeitig die T-Zellen, die infizierten Zellen zu zerstören. Wichtig ist dann, dass sich das Immunsystem auch noch Monate später an diese fremden Zellen erinnert, sie erkennt und sich schützt. Dass der Impfstoff auf den beiden Ebenen funktioniert, macht ihn wahrscheinlich wirksam. Unser Mechanismus soll sowohl den Schutz vor der Infektion als auch den Schutz vor einer schweren Erkrankung adressieren. Die meisten Impfstoffe haben sich bisher auf die Aktivierung von Antikörpern fokussiert.

Sie haben mit Biontech zuvor im Bereich individualisierte Krebstherapie geforscht, konnten diese Erkenntnisse genutzt werden?

Marett: Ja, das konnten wir. Dazu muss man verstehen, was die Aufgabe des Immunsystems ist. Es ist ein Schutzmechanismus gegen kranke Zellen wie zum Beispiel Bakterien oder Krebs. Und wir haben bei unseren früheren Forschungen festgestellt, dass es mit mRNA möglich ist, T-Zellen zu aktivieren, um Krebszellen zu töten. Der Mechanismus ist beim Virus ähnlich, sogar leichter, weil der Körper lieber gegen Fremde als gegen eigene Zellen vorgeht. Mit diesem Wissen haben wir im Januar mit dem Covid-Projekt angefangen und im April begonnen, den ersten Impfstoff zu testen.

Aber im Januar schien Covid-19 noch ein chinesisches Problem, eine Pandemie war noch nicht absehbar. Sind Sie Hellseher?

Marett: Das ist das Besondere an meinem Kollegen und Firmengründer Ugur Sahin: Er hat eine unglaubliche Fähigkeit, wissenschaftliche Entwicklungen zu berechnen und zu bewerten. Ende Januar hatten wir ein Vorstandstreffen, da sagte er, er habe im Magazin „Lancet“ einen Bericht zu Covid-19 in China gelesen. Es ging um eine Familie, die zu Besuch in Wuhan war und sich dort mit Covid-19 ansteckte. Er sagte, wir würden hierzulande ein Problem bekommen, aber wir hätten die Möglichkeit, mit unserer Technologie einen Impfstoff zu entwickeln. Und das dauerte von der Idee bis zum Start der klinischen Entwicklung drei Monate. Im Vergleich dazu, dauert es auf herkömmlichem Weg drei bis vier Jahre, um in diese Phase der Entwicklung zu kommen.

Corona-Impfstoff von Biontech ohne Nebenwirkungen?

War Ihre Entwicklung des Impfstoffs nur möglich durch hohe finanzielle Förderung?

Marett: Nein. Es hat mit Mut und Expertise zu tun und mit Fokussierung. Es war ein großes unternehmerisches Risiko. Wenn es mit dem Impfstoff nicht klappen würde, wäre das ein Rückschritt für uns. Denn plötzlich waren wir von einem Unternehmen, das sich auf Krebstherapie fokussiert, ein Covid-Impfstoff-Entwickler und -Hersteller. Um das zu schaffen mussten wir alle unsere Kräfte und Ressourcen bündeln und natürlich auch ausbauen. Wir haben einen Impfstoff in acht Monaten entwickelt, auch wenn wir noch keine Zulassung haben. Zunächst sind wir in Vorleistung gegangen. Das Programm der Bundesregierung mit den Fördergeldern für die Entwicklung der Covid-Impfstoffe wurde ja erst im September bewilligt. Wir haben zwar 375 Millionen Euro zugesagt bekommen, aber sie noch nicht erhalten. Zum Glück sind wir nicht abhängig davon.

Wieso sind Sie bei diesem Impfstoff so sicher, dass er keine Nebenwirkungen hat?

Marett: Die Nebenwirkungen, die wir in den ersten beiden Phasen bei den Probanden gesehen haben, sind mild bis moderat. Die häufigste Nebenwirkung ist Müdigkeit. Manche haben auch von Abgeschlagenheit berichtet. Zehn bis 15 Prozent der Probanden hatten ein leichtes Fieber. Diese Nebenwirkungen sind nach ein bis zwei Tagen weg. Das bedeutet, es gibt eine Reaktion des Immunsystems.

Warum gibt es eine Zweifachimpfung?

Marett: Wenn wir älter werden, ist unsere Immunantwort auf einen Virus schwächer. Ältere bekommen deswegen auch häufiger Grippe. Bei unserem Impfstoff unterscheiden wir nicht zwischen 16- und 85-Jährigen. Er soll bei allen wirken, auch wenn die Jüngeren viel mehr Antikörper gegen das Virus produzieren. Zwischen den beiden ersten Impfungen liegen 21 Tage. Wir forschen zurzeit daran, wann man dann die nächste Auffrischung benötigt. Wir werden sicher Erkenntnisse von der laufenden klinischen Studie erhalten. Die derzeit 44.000 Leute verfolgen wir über zwei Jahre.

Eine Impfung soll 39 Dollar kosten?

Marett: Das ist der Preis, den die amerikanische Regierung für 100 Millionen Dosen bezahlt. Wenn man die ökonomische Rechnung macht, sieht man, dass es ein vernünftiger Preis ist, wenn dafür jemand nicht im Krankenhaus behandelt werden muss. Die Preise orientieren sich aber an unterschiedlichen Faktoren, unter anderem an der Bestellmenge.

Corona in Deutschland und weltweit – die interaktive Karte

Wie kam es zur Entscheidung, dass die EU die Lieferverträge abschließt?

Marett: Das war eine Entscheidung der Mitgliedstaaten. Sie haben entschieden, dass sie keine Konkurrenz miteinander wollen, und es gab eine Arbeitsgruppe der Kommission, die verhandelt hat, aber hinter der Kommission stehen natürlich alle Länder. Ich habe persönlich mit ihnen verhandelt.

Biontech: Wo der Corona-Impfstoff produziert wird

Wo sind Ihre Produktionsstandorte?

Marett: Es gibt ein Netzwerk in Europa. Wir haben derzeit zwei Fabriken in Mainz und Idar-Oberstein, die wir besitzen. Vor Ort in Mainz arbeiten derzeit nur die Covid-Impfstoff-Forschungsgruppe und die Hersteller-Crew, alle anderen sind im Homeoffice. Im Sommer haben wir eine Fabrik in Marburg erworben, die früher Impfstoff hergestellt hat. Zusätzlich nutzen wir auch Lohnhersteller in Europa, auch in Deutschland. Unser Kooperationspartner Pfizer hat eine Fabrik in Belgien und zwei in den USA.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Pfizer?

Marett: Wir haben 2018 schon eine Kooperation mit Pfizer abgeschlossen, um einen Grippeimpfstoff auf RNA-Basis zu entwickeln. Und als Covid zum Problem geworden ist, haben wir mit Pfizer gesprochen. Denn wir von Biontech haben zwar Forschung, Entwicklung und Herstellung, aber weltweit haben wir keine Vertriebswege. Pfizer bringt uns eine Distributionsinfrastruktur weltweit. Und außerdem ist Pfizer in der Lage, große klinische Studien schnell umzusetzen.

Biontech-Impfstoff: Was kann da schiefgehen?

Der Impfstoff ist noch nicht zugelassen, aber Sie produzieren trotzdem schon?

Marett: Auch hier gehen wir ins Risiko – wir stellen Impfstoff her, ohne zu wissen, ob wir eine Zulassung bekommen. Denn was wäre schlimmer als eine Zulassung, aber keinen verfügbaren Impfstoff zu haben.

Was könnte jetzt noch schiefgehen?

Marett: Wir bringen eine neue Technologie auf den Markt. Es gibt zurzeit keine laufenden globalen Fabriken, die mRNA herstellen. Wir müssen alles gleichzeitig machen: Klinische Entwicklung, Herstellungsprozesse entwickeln, Fabriken umbauen, wir benötigen Genehmigungen der Behörden für die Herstellung und schließlich noch die Zulassung. Das ist eine Mammutaufgabe. Die Studie ist noch nicht durch, wir müssen weitere Daten sammeln. Eine andere Herausforderung ist, dass wir die Kapazität von null auf eine Riesenmenge steigern müssen. Wir werden nicht sofort eine Milliarde Dosen zur Verfügung stellen. Dann ist die Frage, wer bekommt die ersten Dosen.

Corona-Krise: Wie ausgelastet Deutschlands Intensivstationen sind

Wann wird realistischerweise der Erste in Hamburg damit geimpft?

Marett: Das ist abhängig von der Zulassung und davon, wie viel Impfstoff Deutschland für die Verteilung erhalten wird. Wichtig zu verstehen ist, wir arbeiten Tag und Nacht, um möglichst viele Dosen herzustellen Der Produktionsausbau wird sich aber erst im Laufe des Jahres 2021 in den Produktionszahlen widerspiegeln.

Wie kann die Verteilungsstrategie aussehen?

Marett: In Deutschland haben die Länder entschieden, 60 Zentren einzurichten, und wir werden an diese Zentren liefern. Dort werden Menschen in großer Anzahl geimpft– wie in den 1950er-Jahren.

Ist der Plan der Regierung, erst medizinisches Personal, Pflegekräfte und Ältere zu impfen, richtig?

Marett: Soweit ich das gelesen habe, ja. Das erscheint mir vernünftig.

Biontech-Impfstoff: Wann erscheinen mehr Daten?

Manche Virologen kritisieren, dass Sie bislang kaum Daten vorgelegt haben. Arbeiten Sie nicht zusammen?

Marett: Ein unabhängiges Gremium hat die Analyse gemacht, nicht wir selbst. Die tiefgehende Analyse wird sicher kommen, aber wir haben vorher signalisiert, dass wir die Ergebnisse stückweise veröffentlichen, eben wenn ein Abschnitt vorhanden ist. Wir werden in den nächsten Monaten mehr Daten veröffentlichen.

Gibt es einen Wettbewerb zwischen den Firmen?

Marett: Der Wettbewerb ist gegen die Zeit, nicht gegen andere Unternehmen. Wir haben immer gesagt: Um aus dieser Krise zu kommen, muss die Welt Impfstoffe haben.

Es gibt jetzt auch Virusmutationen, etwa in Dänemark. Wirkt Ihr Impfstoff trotzdem?

Marett: Wir haben eine Untersuchung mit den häufigsten Mutationen des Sars-CoV-2 in „Nature“ veröffentlicht. Unser Kandidat hat gegen alle diese angeschlagen.

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Wird Ihre neue Methode, einen Impfstoff herzustellen, irgendwann auch bei anderen Virus-Infektionen funktionieren?

Marett: Wir haben noch andere Programme und forschen auch zu HIV und Tuberkulose und sogar Grippe. Das ist unser Plan.

Wie sind jetzt die nächsten Schritte bei der Zulassung?

Marett: In den USA ist es im Gesetz festgeschrieben, dass in einer Pandemie die Behörde eine Notfallzulassung erteilen darf. Hier in Deutschland steht das nicht im Gesetz, und in Europa ist das von Land zu Land unterschiedlich. In Europa wird die Europäische Arzneimittelagentur über die Zulassungsfähigkeit entscheiden.

Was bedeutet der Erfolg für Sie?

Marett: Als wir die Ergebnisse am Sonntagabend bekommen haben, war das ein bedeutender Moment für uns. Ich dachte, jetzt geben wir den Menschen wieder Hoffnung. Besonders wichtig ist das für meine Kinder, sie können ihre Großeltern in England nicht sehen. Wenn es die Impfung gibt, können sie wieder dorthin reisen.