Hamburg. Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi hat Faschismus, Krieg und Wiedervereinigung erlebt. Er spricht über Haltung und Hoffnung.

Gespräche mit Klaus von Dohnanyi sind etwas Besonderes – ein Interview mit dem Hanseaten verwandelt sich rasch in eine Tour d’Horizon. Der 91-Jährige hat den Überblick über ein Jahrhundert – große Teile seiner Familie waren im Widerstand gegen Hitler und wurden ermordet, nach der Befreiung studierte Dohnanyi Rechtswissenschaft in München, New York und Stanford, leitete später das Meinungsforschungsinstitut infratest, war von 1972 bis 1974 Bundesbildungsminister, von 1981 bis 1988 Bürgermeister der Hansestadt und von 1990 bis 1994 Beauftragter der Treuhandanstalt für die Privatisierung ostdeutscher Kombinate. Dohnanyi sitzt bei den Gesprächen stets in seinem Ledersessel, der Gast hat einen Blick in der wunderschönen Garten, dazu reicht der Hausheer ein Kännchen Tee. Dieses Gespräch ist anders, es ist eine Mischung aus Telefonat und Mail.

Hamburger Abendblatt: Herr von Dohnanyi, die wichtigste Frage zuerst. Wie geht es ihnen?

Klaus von Dohnanyi: Uns geht es gesundheitlich bisher gut, wir gehen nicht raus, bis die knappen Vorräte das dann erfordern werden. Im übrigen haben wir schon im Januar, als die Meldungen aus China kamen, etwas größer eingekauft.

Haben Sie das Desaster schon kommen sehen?

Klaus von Dohnanyi: Ich ahnte, dass in einer so vernetzten Welt wie der unseren das Virus an Deutschland nicht vorbeigehen werde. Aber wie verheerend sich gerade hier in Hamburg die ganzen Skiurlaube offenbar auswirken könnten, hatte ich allerdings auch nicht vorhergesehen.

So viel Unsicherheit wie in diesen Tagen war selten. Fühlen Sie sich derzeit an die Kriegs- und direkte Nachkriegszeit erinnert?

Klaus von Dohnanyi: Im Krieg selbst war die Lage für die Zivilbevölkerung ja völlig anders. Einerseits war ja die allgemeine Versorgung, von Strom und Wasser bis zu den Kartoffeln, ohnehin sehr viel knapper und unsicherer. Man konnte gar nichts „horten“. Und andererseits waren auch die körperlichen Gefahren durch Bomben viel größer, fast 40.000 Tote in wenigen Tagen im Sommer 1943 in Hamburg, 30.000 Frauen und Kinder, ein Kriegsverbrechen. Aber die Gefahren waren eben auch konkreter, eben dadurch auch überschaubarer: Es gab Warnungen über den Rundfunk und dann ging es eben los. Aber wenn der Angriff zu Ende war, war er auch zu Ende. Man rückte zusammen im Keller und tuschelte über den Krieg und nahm sich vor Ängsten in die Arme; heute ist Einsamkeit und Abstand die Devise zum Überleben.

Hinterher schauten damals die Überlebenden, was kaputt gegangen war, und man half sich eventuell beim Räumen; heute steht alles solide, aber jeder Nachbar bleibt eine Gefahr. Und die ist heute nie vorbei. Und doch war der Krieg sehr viel schrecklicher, auch wenn die Pandemie heute begründet viel Angst macht.

Wie meinen Sie das?

Klaus von Dohnanyi: Wir erleben derzeit dramatische Tage, aber vielen ist die vermutliche Länge der Krise vielleicht noch gar nicht bewusst: Im Grunde können wir unserer Umgebung doch erst wieder trauen, wenn alle einen wirksamen Impfstoff erhalten haben: Erwarteter Zeitraum der Fachleute: frühestens ab Mitte 2021! Was heißt das für unser Zusammenleben? Was hat das für soziale Folgen? Wie werden die Menschen diese Unsicherheit auch politisch ertragen? Und dann: die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise, sie könnten auch dramatisch werden. Nach dem Krieg gab es nämlich zunächst keine Waren mehr, die Fabriken waren auf Kriegsproduktion eingestellt und fast alle waren ohnehin kaputt – die Menschen hatten deswegen immer noch mehr Geld, als es Waren gab.

Heute droht eine völlig andere Lage: Ein Überangebot von Produktionskapazitäten mit vielen Arbeitsplätzen werden auf eine Gesellschaft treffen, die längere Zeit kaum Geld verdient hat und Ersparnisse angreifen musste. Folglich werden vermutlich Teile der Produktionskapazitäten zunächst gar nicht mehr voll genutzt werden können. Dann könnte dadurch Arbeitslosigkeit drohen und die könnte durch die Folgen der Digitalisierung, der Klimapolitik und sinnloser internationaler Sanktionen weiter verstärkt werden. Eine Herkulesaufgabe für alle Wirtschaftspolitiker, die da vor uns liegt.

Fürchten Sie eine Deflation, einen Teufelskreis, in dem die Preise zu fallen beginnen, die Nachfrage wegbricht und die Volkswirtschaft abzusterben droht…?

Klaus von Dohnanyi: Deswegen kommt es jetzt ja auch darauf an, einerseits die Unternehmen soweit wie möglich und verantwortbar am Laufen zu halten und gleichzeitig die Liquidität bei Unternehmen und Konsumenten zu stabilisieren. Ich hatte deshalb Finanzminister Olaf Scholz und seinem Staatssekretär Wolfgang Schmidt schon Mitte März einen Vorschlag geschickt, parallel zum Kurzarbeitergeld ebenso unbürokratisch den Unternehmen der besonders betroffenen Branchen Teile ihrer Ertrags- und Gewerbesteuern aus früheren Jahren (zum Beispiel 2017) sofort „leihweise“ zurück zu zahlen. Das dauert ein paar Tage, hilft den Unternehmen schnell und zielgenau und ginge sogar ohne Antrag und Bürokratie.

Zudem kann man ein solches Programm gut kalkulieren, weil man ja weiß, wer wie viel Steuern gezahlt hat, und wer keine gezahlt hat, dem kann man ja dann über den beschlossenen Kreditweg der Banken helfen. Bund, Länder und Kommunen könnten sich die als Steuerrückzahlungen geleisteten Beträge wieder aus dem Rettungsfonds erstatten lassen, sie wären ja nur die Organisation der Verteilung, und vermutlich besser und unbürokratischer als die Banken mit Krediten. Ich habe schnell eine Reaktion aus Berlin erhalten – vielleicht wird diese Idee ja doch noch einmal erwogen.

Wie erleben Sie denn die derzeitige Politik?

Klaus von Dohnanyi: Sehr positiv. Die Parteien streiten nicht und stimmen zu. Natürlich gab es auch Versäumnisse – etwa die Flieger aus China und dem Iran noch so lange landen zu lassen – aber innenpolitischer Streit bringt niemanden weiter. Das ist vergossene Milch. Ich finde, Kanzlerin und Vizekanzler, das ganze Kabinett und auch die Landesregierungen machen das richtig gut. Sie führen nüchtern und ernst und verzichten auf alle Kriegsrhetorik, die ich für falsch halte. Das Wichtige ist nun unsere innere Stärke, wir brauchen Optimismus, früher hätte man gesagt: Gottvertrauen. Ja, „wir schaffen das!“ Wir werden auch diese große Aufgabe bewältigen. Aber, es wird länger dauern als viele meinen.

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    Was kann helfen, eine solche innere Haltung zu entwickeln?

    Klaus von Dohnanyi: Selbstvertrauen, die eigene Verantwortung spüren und schauen, wo man selber helfen kann. Das stärkt einen nicht nur selbst, sondern auch die Gemeinschaft. Meine Frau und ich haben Glück, wir haben einen Garten und eben las ich: „Cur moriatur homo cui Salvia crescit in hortis?“ Warum sollte ein Mann sterben, dem in seinem Garten der Salbei wächst? Diese Staude wächst bei uns!

    Kommt meine Generation, der es stets besser ging, mit solchen existenziellen Herausforderungen überhaupt klar? Wir können ja nicht mal mehr Latein...

    Klaus von Dohnanyi: Wir brauchen kein Latein, aber Offenheit, Information ohne Hysterie, Mut und Selbstvertrauen.

    Welche Folgen erwarten sie abseits der Wirtschaft fürs Land? Wird der Zusammenhalt wachsen?

    Klaus von Dohnanyi: Das hängt ganz von uns selbst, von uns allen ab. Ich finde es dabei wichtig zu verstehen, dass Abschottungen heute im Interesse der Gemeinschaft morgen sein können. Das gilt auch für Europa. So selbstverständlich, wie wir einzelne Krisenstädte innerhalb Deutschlands abriegeln, ohne deswegen die Einheit Deutschlands in Frage zu stellen, so muss das auch zwischen den Staaten Europas zur Bekämpfung der Krise möglich sein. Wenn Grenzen schützen können, dann muss das auch für die Grenzen in Europa gelten. Das hilft Europa und beschädigt die EU nicht!

    Ist Corona im übertragenen Sinne eine Stunde Null, die vieles nachhaltig verändert?

    Klaus von Dohnanyi: Ja, es ist ein tiefer Einschnitt, auch in unser Bewusstsein, auch in unsere Einsicht, in das, was wirklich wichtig ist. Wir mussten unsere politischen Prioritäten ohnehin schon wegen des Klimawandels ändern. Nicht militärisch, sondern zivilisatorisch werden wir bedroht. Wir müssen weg von dem Unsinn, das Gefahren in erster Linie aus Russland oder China drohen: Die größte Gefahr sind wir uns offenbar selbst! Nicht die Nato brauchen wir in erster Linie, sondern einen umfassenden Zivil-und Umweltschutz. So umzudenken erfordert politischen Mut und dieser ist die Herausforderung der Stunde.

    Was wird aus der Globalisierung?

    Klaus von Dohnanyi: Sie wird fortbestehen, aber schon vor Corona dachten viele an eine Entschleunigung dieser Entwicklung, auch weil Produktion zu Hause klimaschonender sein dürfte.

    Zeigt uns die Corona-Krise, dass der Nationalstaat doch noch länger gebraucht wird?

    Klaus von Dohnanyi: Seit Gründung der EU wurde vielleicht niemals deutlicher, dass der Nationalstaat im Zusammenhang internationaler und europäischer Zusammenarbeit auch heute noch der wichtigste Baustein für eine erfolgreiche politische und soziale Entwicklung Europas ist, es auch bleiben muss und bleiben wird. Stellen Sie sich mal vor, Ausgehverbote würden für Hamburg aus Brüssel verordnet!

    Stefan Kluge (Klinikdirektor Intensivmedizin) über die Lage am UKE
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      Der 93-jährige italienische Soziologe Franco Ferrarotti erwartet nach der Krise eine „Explosion der Lebensfreude“ wie nach dem Ende des letzten Krieges. Stimmen Sie dem zu?

      Klaus von Dohnanyi: Ich habe diese Zeit etwas anders in Erinnerung: Harte Aufbauarbeit, tiefe Betroffenheit über unser aller Mitschuld an Verbrechen und Katastrophe, Flüchtlingsströme aus dem Osten, die Teilung Deutschlands. Aber vielleicht war das eben, wie vieles, anders in Italien.