Hamburg. Im Zuge der Pandemie weiten immer mehr Wirte ihr Geschäft im Freien aus – zum Leidwesen vieler Anwohner. Lösungen sind schwierig.
Die Uhr zeigt 18.02 Uhr, als im Rathaus Altona Politik auf Wirklichkeit trifft. Auf der Empore des altehrwürdigen Kollegiensaals – die Corona-Regeln verordnen eine strikte Trennung von den Mitgliedern der Bezirksversammlung – trägt ein Mieter die Nöte seiner Hausgemeinschaft vor: „Unsere Wohnsituation hat sich stark verschlechtert.“ Der Lärm durch die Außengastronomie sei extrem belastend: „Wir können inzwischen weder nach vorn noch nach hinten ungestört schlafen. Dazu ziehen Zigarettengestank und Küchengerüche durch unsere Wohnungen. Und regelmäßig müssen wir in den Eingängen Essensreste und Kippen beseitigen.“
28 Minuten debattierte am Montag der Ausschuss für Klimaschutz, Umwelt und Verbraucherschutz über die Eingabe von Anwohnern der Ottenser Hauptstraße. Der Anlass mag ein Einzelfall sein – die Bürger monieren, dass im Erdgeschoss ihres Hauses aus einem Modegeschäft noch ein Restaurant wird. Doch die Eingabe wirft ein Schlaglicht auf eine Diskussion, die Hamburg bewegt: Wie sehr leiden Anwohner unter dem vom Top-Virologen Christian Drosten postulierten Wunsch, das Leben in Zeiten der Pandemie ins Freie zu verlagern?
Gastronomen setzen in Corona-Krise immer stärker auf Außengastronomie
Unübersehbar setzen Gastronomen in der Corona-Krise immer stärker auf Außengastronomie. Wer Plätze auf Terrassen anbietet, kann nicht nur Kapazitätsverluste durch die Abstandsgebote in den Lokalen auffangen. Viele Gäste wollen draußen sitzen, da die Ansteckungsgefahr geringer ist. 137 Wirte nutzen in Hamburg bereits Parkbuchten und Bürgersteige als Terrassen, weitere Anträge werden in Kürze genehmigt. Zudem treffen sich in den warmen Sommernächten vor allem junge Leute zum Cornern, zum günstigen Zechen auf der Straße.
Ende Juni reichte es dem Schanzenviertel. In einem offenen Brief beklagten Bürger den Verlust ihrer Lebensqualität: „Auch Bewohner des Stadtteils Sternschanze haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, was durch betrunkene und teils aggressive Menschenmassen, die Nichteinhaltung der Corona-Auflagen, Lärm und Dreck nicht gegeben ist.“ Die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank zeigte Verständnis, warnte vor einer „Ballermannisierung“ angesagter Viertel.
Abwägung zwischen Rettung der Gastronomen und Schutz der Anwohner
Mit dem Alkoholverkaufsverbot an Kiosken und in Supermärkten in festgelegten Zonen und zu bestimmten Uhrzeiten zeigte die Stadt eine erste Reaktion, die neue Regel gilt auch für den Kern von Ottensen. Allerdings schränkt sie eben nicht die Außengastronomie ein. Unverändert gilt hier ein Beschluss von 2004. Mit Blick auf die WM 2006 verlängerte der Senat damals die Zeiten für Außengastronomie bis 23 Uhr, an Freitagen, Sonnabenden und vor Feiertagen sogar bis 24 Uhr.
Wie schwierig es nun ist, zwischen Rettung der Gastronomen und Schutz der Anwohner abzuwägen, zeigte sich bei der Ausschusssitzung. Jeder Politiker bekundete sein Verständnis für den Unmut der Hausgemeinschaft. Die Sorge, dass sich Ottensen zu einer Partymeile entwickeln könnte, ging quer durch alle Fraktionen. Doch konkret helfen konnte niemand. Wie auch? Einem Wirt die Konzession verweigern, wenn in unmittelbarer Nachbarschaft zum Teil seit Jahrzehnten Gäste verköstigt werden? Undenkbar. Am konkretesten war noch der Rat einer Politikerin der Linken, die empfahl, es bei der Polizei nicht bei Beschwerden zu belassen („die stehen immer ganz hinten im Buch“), sondern stets Anzeigen zu erstatten.
Mieter wollen ihre Wohnqualität zurück
Doch diese Stufe der Eskalation würde noch mehr Stress für die Bewohner bedeuten. „Wir haben keine Lust, im Viertel als Gastronomie-Spaßbremsen zu gelten“, sagt eine Mieterin. Man wolle ja eine gute Nachbarschaft, sehe sehr wohl die Corona-Nöte der Wirte. Aber wiederholt seien zunächst freundliche Bitten um mehr Rücksicht ignoriert worden. „Das nachbarschaftliche Miteinander ist durch die regelmäßigen Konflikte und Beschwerden nachhaltig gestört“, heißt es in der Eingabe.
Das sind die Corona-Regeln für Hamburg:
- Privat können bis zu 25 Personen zu Feiern zusammenkommen, egal aus wie vielen Haushalten. Treffen in der Öffentlichkeit sind auf 10 Personen aus beliebig vielen Haushalten begrenzt.
- Alle Kinder dürfen in einem eingeschränkten Regelbetrieb wieder die Kitas besuchen.
- Nach dem Ende der Sommerferien am 6. August können wieder alle Schüler einer Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Dennoch sollen Einschränkungen wie die bisherigen Abstandsgebote vorsichtshalber erhalten bleiben.
- Unter Auflagen sind wieder Veranstaltungen mit bis zu 1000 Teilnehmern im Freien und 650 Teilnehmern in geschlossenen Räumen zulässig.
- Für größere Versammlungen gibt es keine Teilnehmerbegrenzung mehr. Es wird jeweils der Einzelfall mit Blick auf Hygiene- und Abstandsregeln geprüft.
Rolf Bosse, Jurist und Vorstandsmitglied des Mietervereins zu Hamburg, kennt diese Probleme zu Genüge: „Streitigkeiten um die Belästigung durch Lärm und Gerüche sind bei uns ein Dauerbrenner.“ Abhilfe über das Mietrecht könnten betroffene Mieter allerdings nur bei extremer Unzumutbarkeit der Störungen erwarten: „Die Rechtslage ist eher gewerbefreundlich.“ Denkbar sei allerdings eine Mietminderung, wenn die Lärmbelastung ein ortsübliches Maß überschreite. Dies könne auch dann gelten, wenn der Gastronomiebetrieb im Nachbarhaus – also außerhalb des Eigentums des eigenen Vermieters – liege: „Zwar ist die Rechtsprechung in dieser Frage uneinheitlich. Aber spätestens dann, wenn der Vermieter beim anderen Eigentümer für den entstandenen Ausfall Regress fordern kann, dürfte ein Minderungsanspruch gegeben sein.“
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Doch die Mieter an der Ottenser Hauptstraße wollen keine Mietminderungen, sondern ihre Wohnqualität zurück. Ihre Eingabe befeuert zumindest die politische Diskussion. Mithat Capar, Distriktchef der SPD in Ottensen und Mitglied der Bezirksversammlung, hat bereits Kontakt mit der Hausgemeinschaft aufgenommen. „Aus Ottensen darf kein Partyviertel werden“, sagt Capar, notfalls müsse man Bebauungspläne ändern. Auch Altonas Bezirksamtschefin Stefanie von Berg (Grüne) sagt: „Der Schutz der Anwohner gehört zu unseren wichtigsten politischen Aufgaben.“
Es passt zur unübersichtlichen Gefechtslage, dass der Zorn der Anwohner nun einen Gastronomen trifft, der auf die Interessen seiner Nachbarn Rücksicht nehmen will. Inhaber Torsten van der Linden, der mit seinem Geschäftspartner und künftigen Küchenchef Tim Vetter das ehemalige Modegeschäft Mascha in das Restaurant Das Granat mit angeschlossener Bar verwandelt, hat allein 140.000 Euro in den Schallschutz investiert. „Dies wird keine Partybude, sondern gehobene Abend-Gastronomie“, sagt van der Linden. Zwar plane auch er Außengastronomie, die Ruhezeiten würden aber strikt eingehalten: „Wir wollen keinen Stress mit den Bewohnern, sondern ein gutes Miteinander.“