Hamburg. Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut hält nichts von der “Dauer-Aufgeregtheit“ des SPD-Gesundheitsexperten.
Er zählt zu den renommiertesten deutschen Virologen: Prof. Jonas Schmidt-Chanasit (41) vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Der gebürtige Berliner leitet auch mehrere Forschungsgruppen, die sich für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit dem Nachweis seltener und gefährlicher Viruserkrankungen beschäftigen.
Hamburger Abendblatt: Herr Prof. Schmidt-Chanasit, in Hamburg sind die Infektionszahlen weiter konstant niedrig, obwohl die Corona-Regeln in den vergangenen Wochen immer weiter gelockert wurden. Wie ist das zu erklären?
Prof. Jonas Schmidt-Chanasit: Wahrscheinlich haben wir uns auf die Regeln konzentriert, die nach wie vor wichtig sind. Also Abstandsgebote beachten, dass man sich nicht die Hand gibt, dass man in die Ellenbeuge niest und hustet. Und dass man, wenn man die Abstandsgebote nicht einhalten kann, einen Mund-Nasenschutz trägt. Dazu kommt das weiter geltende Verbot von Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen.
Sie waren bei der Masken-Pflicht am Anfang eher skeptisch.
Schmidt-Chanasit: Nein, das stimmt so nicht. Ich habe immer die Meinung der WHO vertreten. Ich halte eine allgemeine flächendeckende Maskenpflicht für sinnlos. Es ist nur dort sinnvoll, Masken zu verwenden, wo der Abstand nicht eingehalten werden kann. Daher kann ich auch die Diskussion, die jetzt gerade geführt wird, ein Stück weit nachvollziehen. Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn ich allein am Bahnsteig sitze, eine Maske zu tragen, weil dort überhaupt kein Risiko besteht. Und je länger man eine Maske tragen muss, merkt man, wie anstrengend das ist. Dann wird die Maske gern unter die Nase gezogen oder gar unter das Kinn. Genau das wusste die WHO und hat gesagt, diese Lösung ist ein zweischneidiges Schwert.
Der Einzelhandel fordert inzwischen vielfach Lockerungen bei der Maskenpflicht.
Schmidt-Chanasit: Das kommt auf die Situation an. Wenn ich den Zugang so regele, dass entsprechend wenig Leute im Geschäft sind, die die Abstände dann einhalten, ist eine Maske auch nicht sinnvoll. Masken machen dort Sinn, wo ich auf engem Raum mit Leuten eine längere Zeit zusammen bin. Dann kann der Mund-Nasen-Schutz die anderen Menschen schützen, wenn ich huste oder niese.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach empfiehlt, an der Maskenpflicht in den Geschäften unbedingt festzuhalten. Infizierte könnten auch Waren kontaminieren.
Schmidt-Chanasit: Das ist aber vollkommen falsch. Das ist nicht nur meine Einschätzung, sondern auch die des Bundesinstituts für Risikobewertung. Demnach sind Schmierinfektionen keine große Gefahr. Aber das ist genau das, was ich bei Herrn Lauterbach kritisiere. Ich nenne das dysfunktionale Dramatisierung.
Wie meinen Sie das?
Schmidt-Chanasit: Solche Äußerungen führen zu einer Dauer-Aufgeregtheit und können zu einer Corona-Müdigkeit führen. Und das ist hochgefährlich. Denn wir brauchen die Aufmerksamkeit der Bevölkerung in den entscheidenden Punkten. Und nicht bei belanglosen Dingen. Das gilt auch für seine ständigen Warnungen vor einer zweiten Welle nach den Infektionen in den Fleischfabriken von Tönnies. Das stimmt alles nicht. Denn die Infektionen in Gütersloh ließen sich genau lokalisieren. Jetzt geht es Herrn Lauterbach plötzlich um die Schmierinfektionen, obwohl diese überhaupt keine Rolle spielen. Das ist hochproblematisch aus dem Blickwinkel der Pandemie-Bekämpfung. Ich weiß nicht, warum er das macht.
Bayern fährt die Zahl der Corona-Tests hoch. Jeder kann sich dort schnell und kostenlos testen lassen. Wäre es sinnvoll, nun alle Hamburger zu testen?
Schmidt-Chanasit: Nein, das will Ministerpräsident Markus Söder in Bayern auch gar nicht. Es geht ihm darum, die Testkapazitäten in der Fläche auszubauen, damit Tests schneller verfügbar sind. Und es geht um die Reaktionszeit, niemand soll mehr tagelang auf ein Ergebnis warten. Wer den Verdacht hat, er könnte sich infiziert haben, soll in seiner direkten Umgebung die Chance haben, sich testen zu lassen. Ohne 50 Kilometer in die nächste Stadt zu fahren. Es geht nicht um Massentests, die wären völlig sinnlos. Aber es ist wichtig, dass wir genügend Testkapazitäten für Risikogruppen wie Lehrer, Kita-Bedienstete, medizinisches Personal haben. Die sollen sich testen können, auch wenn sie keine Symptome haben. Zum Glück ist die Kostenübernahme geklärt.
Fürchten Sie eine zweite Corona-Welle?
Schmidt-Chanasit: Fürchten ist der falsche Begriff. Ich halte es für falsch, immer mit dieser zweiten Welle zu drohen. Das macht die Leute verrückt, wie gesagt, so etwas sorgt für Corona-Müdigkeit. Und wir verhalten uns in Deutschland doch sehr vernünftig. Wir respektieren die Regeln, wir haben eine sehr gute gesundheitliche Versorgung, die Gesundheitsämter können die Infektionsketten selbst bei großen Infektionsherden wie in Gütersloh nachvollziehen. Daher halte ich eine zweite Welle momentan zwar nicht für unmöglich, aber für unwahrscheinlich.
Aber wir reisen wieder mehr…
Schmidt-Chanasit: Aber doch überwiegend in Länder, in denen das Infektionsgeschehen ebenfalls gut unter Kontrolle ist.
Machen Ihnen die Bilder von überfüllten Ostsee-Stränden Sorgen?
Schmidt-Chanasit: Nein, es gibt dort ja auch Regelungen, etwa, dass zu Stoßzeiten nur Gäste mit einer Buchung kommen dürfen – und keine Tagestouristen. Außerdem ist die Ansteckungsgefahr im Freien wesentlich geringer. Wenn einer mit dem Paddelboot an einem anderen in einem Paddelboot vorbeifährt, besteht kein Risiko. Um nicht für ein Missverständnis zu sorgen: Auch ich bin unbedingt für Corona-Regeln. Und es darf nicht zu kritischen Situationen kommen. Wenn Leute drei Stunden auf einem Boot Party machen, ist das gefährlich. Aber ich bin gegen die ständigen pauschalen Warnungen.
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Wie groß ist Ihre Hoffnung, was den Impfstoff angeht? SAP-Gründer Dietmar Hopp hat erneut angekündigt, dass schon im Januar oder Februar breitflächig mit dem Impfstoff der Firma Curevac geimpft werden könnte. Dietmar Hopp ist bei diesem Unternehmen Mit-Eigentümer.
Schmidt-Chanasit: Dass das Herr Hopp sagt, wundert mich nicht. Wir müssen extrem vorsichtig sein bei Berichten über Impfstoffe oder Medikamente, weil da finanzielle Interessen eine riesige Rolle spielen. Da kann ein einziger Bericht den Aktienkurs in die Höhe schnellen lassen. Das wird leider oft nicht hinterfragt. Ob und wann wir einen Impfstoff bekommen werden, weiß niemand. Es kann sein, dass wir 2021 Impfstoffe haben werden, die wir bestimmten Personengruppen geben können. Aber wir werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Super-Impfstoff bekommen, mit dem wir alle durchimpfen und damit auf Lebenszeit schützen können. Wir müssen da realistisch bleiben. Es kann sein, dass wir einen Impfstoff haben, den wir Kindern geben können, einen Impfstoff für Erwachsene, der vielleicht ein Jahr schützt. Und einen Impfstoff für ältere Menschen, der ein halbes Jahr schützt. Aber auch dies halte ich für 2022 wahrscheinlicher, so sehr ich mir auch frühere Lösungen wünschen würde.
Klingt nicht gut.
Schmidt-Chanasit: Das sehe ich anders. Wirklich gefährlich waren zu Beginn der Pandemie Botschaften wie ‘wir müssen drei Monate in Askese irgendwie durchhalten, dann kommt schon der Super-Impfstoff oder das Super-Medikament‘. Vor dieser Strategie habe ich immer gewarnt, dass war fernab jeder wissenschaftlichen Realität.
Aber es ist dennoch deprimierend.
Schmidt-Chanasit: Warum ist das deprimierend? Es gibt doch eine enorme Forschungs-Effizienz und ein Voranschreiten gegen die Pandemie. Medikamente werden weiter entwickelt, an Impfstoffen arbeiten weltweit Wissenschaftler. Aber es dauert eben.
Also dürfen sich etwa Diskotheken-Besitzer auf lange Zeit keine Hoffnung machen.
Schmidt-Chanasit: Das ist genau der falsche Denkansatz. Stattdessen müssen wir lernen, mit dem Virus zu leben. Die Deutsche Fußball Liga hat doch gezeigt, dass es auch in diesen Zeiten Konzepte gibt, die den neuen Hygiene-Standards genügen. Solche Modelle können auch für Diskotheken entwickelt werden.
Aber Geister-Diskos machen wenig Sinn. Und Tanzen auf Abstand auch nicht.
Schmidt-Chanasit: Man muss eben neu denken. Denken Sie an die Theater. Auch das Schmidts Tivoli hat ein neues Konzept entwickelt, natürlich mit viel weniger Besuchern. Man muss sich jeden Bereich anschauen und nie pauschal sagen, das und das geht gar nicht. In Asien etwa standen schon immer auf den Tanzflächen Tische, um die sich die Gäste dann bewegen. Wenn die Gäste sich daran halten, kann das auch hier ein Weg sein. Ob sich das dann wirtschaftlich rechnet, müssen die Betreiber entscheiden.
Wie sehen Sie die Situation in den Stadien?
Schmidt-Chanasit: Wenn man gewährleistet, dass die Fans Abstand halten können, ist dies bei stark reduzierter Kapazität auch denkbar, sofern die Nachverfolgbarkeit gesichert ist. Aber zugegeben, es fällt mir schwer zu glauben, dass Fans auf lautstarkes Anfeuern und Gesänge verzichten können.