Hamburg. Uni-Professor Jürgen Zimmerer streitet gegen Ehrung des einstigen Reichskanzlers. Rassismus hat für ihn auch mit Kolonialismus zu tun.
Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg. Er streitet seit Langem für die Aufarbeitung des kolonialen Erbes und sieht viele Denkmäler in Hamburg kritisch.
Hamburger Abendblatt: In Bristol wurde das Denkmal für den Sklavenhändler Edward Colston gestürzt. Welches Denkmal in der Hansestadt empört Sie besonders?
Prof. Jürgen Zimmerer: Mich empören zwei Denkmäler, beziehungsweise der Umgang mit ihnen: Da ist zum einen die Gedenktafel im Michel für die Gefallenen bei der Niederschlagung des sogenannte Boxer-Aufstands und des Krieges gegen die Herero und Nama in Südwestafrika. Diese erinnert nur an die deutschen Soldaten, ohne die Opfer überhaupt zu erwähnen und den Kontext, immerhin den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, zu erklären. Das halte ich im Michel, in einer Hauptkirche, für einen Skandal. Und das Bismarck-Denkmal auf St. Pauli hätte sich selbst zur Ruhe gelegt, wenn nicht die Stadt beschlossen hätte, es wieder aufzustellen. Überall werden Denkmäler entfernt, wir bauen es für Millionen wieder auf.
Na ja, es wird restauriert. Wäre Ihnen lieber gewesen, dass der Bismarck umfällt?
Zimmerer: Nein, das wäre aus Sicherheitsgründen nicht gegangen. Aber es ist bemerkenswert, dass es sich gesenkt hat. Mir geht es darum, darauf hinzuweisen, dass das Aufrichten auch ein Eingriff ist, wie das Umlegen oder das Brechen der Sehgewohnheiten, die ich vorgeschlagen habe.
Was stört Sie so an Bismarck – er galt ja lange als Kritiker von Kolonien.
Zimmerer: Es ist doch zynisch, dass er persönlich gegen ein koloniales Engagement war, es aber aus innenpolitischen Gründen aktiv forciert hat, wider besseres Wissens. Bismarck war ein starker Reichskanzler, und in seiner Regierungszeit wurde Deutschland zur Kolonialmacht. Er hat Deutschland auf den Weg geführt, der dann in dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts gipfelte. Und: Er hat die Aufteilung Afrikas mit der Berliner Afrika-Konferenz zementiert. Man kann ihn jetzt nicht aus der Geschichte des deutschen Kolonialismus entfernen.
Es geht etwas steil, Bismarck für die Untaten der Deutschen zwischen 1904 und 1908 verantwortlich zu machen – da war Bismarck lange tot.
Zimmerer: Ja, aber ohne den Schritt der Kolonialreichsgründung, den Bismarck zu verantworten hat, hätte es auch den Genozid nicht gegeben. Er ist nicht individuell dafür verantwortlich, hat aber an entscheidender Stelle Weichen gestellt, die dann dazu führten. Verantwortung für das koloniale System haben eben auch Männer wie Bismarck oder Kaiser Wilhelm II., aber auch der Kolonialmediziner Robert Koch.
Ist das nicht politisch korrekte Bilderstürmerei?
Zimmerer: Politisch korrekt ist ein Kampfbegriff. Ich halte es nicht für „politisch“ korrekt, sondern für korrekt, eine Hitler-Statue zu kürzen. Daran stört sich niemand. Unser Konsens ist, dass wir uns von dieser Geschichte lossagen und sie aufarbeiten wollen. Jedes Denkmal, jede Veränderung, jede Entfernung ist ein politischer Akt. Und wenn wir 100 Jahre später zu der Erkenntnis kommen, dass jemand nicht mehr unseren Ansprüchen an die moralische Integrität eines Vorbilds genügt, wollen wir eben nicht länger diesen Menschen feiern.
Die Aufarbeitung der Kolonialzeit war lange nur etwas für wenige Interessierte. Ändert sich das gerade?
Zimmerer: Seit der Jahrtausendwende nimmt das Interesse insgesamt zu. Wir werden zunehmend mit den Verwerfungen der Globalisierung konfrontiert und hinterfragen die Geschichte der Globalisierung – und dann landen wir beim Kolonialismus.
Lange Zeit haben wir die Kolonialzeit geschönt und heroisiert. Droht nun das genaue Gegenteil - eine Fixierung auf Mord und Totschlag?
Zimmerer: Kolonialismus ist ein strukturell rassistisches Unrechtssystem. Wer dieses System befördert, befördert ein Unrechtssystem. Wer da mitmacht oder mitmachen muss, kann nicht ganz unschuldig bleiben.
Sollen wir dann alle Straßen umbenennen und Denkmäler von Menschen abbauen, die verstrickt waren?
Zimmerer: Wir arbeiten zu wenig auf, wenn wir nur auf die Täter schauen und das strukturelle Problem übersehen. Dann führen wir nur Stellvertreterkonflikte. Wenn wir das Thema konsequent aufgearbeitet haben, reicht vielleicht bei manchen Straßen auch eine Erläuterung. Aber diesen Stand der Aufklärung haben wir noch nicht erreicht. Natürlich war Robert Koch ein großartiger Mediziner, aber er hat an Menschen in den Kolonien experimentiert. Alexander von Humboldt war ein großer Wissenschaftler, aber eben auch Teil eines kolonialen Systems des Reisens und der Wissensgewinnung.
Wir legen Maßstäbe des 21. Jahrhunderts an Menschen des 19. Jahrhunderts an. Ist das historisch zulässig?
Zimmerer: Wir dürfen unser Geschichtsbild doch nicht einfrieren! Unsere Denkmäler ehren Menschen. Und um diese Ehrung geht es – wollen wir sie wirklich wiederholen? Wenn eine Debatte um einen Straßennamen oder ein Denkmal entbrennt und wir die Person verteidigen, die Änderung ablehnen, setzen wir die Ehrung de facto erneut. Stellen wir uns eine leere Stadt vor: Würden wir heute ein Bismarck-Denkmal aufstellen? Wohl kaum.
Sind wir Deutschen eigentlich besonders selbstkritisch – oder ist unsere koloniale Geschichte besonders blutig?
Zimmerer: Wir haben vielleicht eher als andere gelernt, dass man sich der eigenen Geschichte kritisch nähern kann, ja kritisch nähern muss. Das hilft uns im Umgang mit dem kolonialen Erbe. Auf der anderen Seite werden nun aber in anderen Ländern koloniale Denkmäler abgebaut, während wir uns mit dem Berliner Stadtschloss sogar ein neues leisten: Das goldene Kreuz auf dem Hohenzollernbau symbolisiert auch eine christliche Überlegenheit, in deren Namen die Kolonisierung erfolgte.
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Selbst die Kanzlerin hat Sie schon gebeten: Lassen Sie es doch gut sein ...
Zimmerer: Natürlich darf Frau Merkel anderer Meinung sein als ich. Sie hält das Erreichte für genug, ich nicht. Das habe ich ihr auch gesagt. Die Protestwellen momentan geben mir recht, würde ich meinen.
Hängt der Rassismus von heute auch mit dem kolonialen Gedächtnisverlust zusammen?
Zimmerer: Der Rassismus hat im kolonialen Rassismus eine seiner Wurzeln. Die koloniale Amnesie erschwert es uns, wirksame Methoden gegen diesen Rassismus zu entwickeln. Wir haben uns lange in der falschen Sicherheit gewiegt, hierzulande gebe es keinen Rassismus. Das ist eine Lebenslüge der Bundesrepublik.
Was wäre Ihr Wunsch für Hamburg und die Aufarbeitung hier?
Zimmerer: Hamburg war und ist die Kolonialmetropole Deutschlands. Wir haben so viele Erinnerungsorte, die wir nutzen sollten. Das muss umfassender geschehen – auch unter Einbeziehung des neuen Hafenmuseums. Das muss ein modernes Museum für die koloniale und die postkoloniale Globalisierung werden. Und wir müssen selbstkritisch sehen, wo wir stehen: 2014 haben wir uns innovativ an die Aufarbeitung des kolonialen Erbes gemacht. Damals lagen wir europaweit vorn, inzwischen sind andere ambitionierter. Unsere Forschungsstelle an der Universität, die europaweit einmalig ist, hat nur noch eine Laufzeit von drei Jahren. Damit können wir keine großen Forschungsprojekte organisieren, die grundlegenden Fragen nicht erforschen.