Hamburg. Der Erste Bürgermeister Herbert Weichmann hatte mit Hamburgs “neuer“ Insel einiges vor. Woran seine Pläne scheiterten.
So ein Tag, so wunderschön wie heute“, schallte es aus den Kehlen der gut 75 Fahrgäste. Ganz vorn im Pferdetross saßen Herbert Weichmann, Hamburgs Erster Bürgermeister, und seine Gattin Elsbeth.
Dann folgten, aus Cuxhaven-Duhnen kommend, die Gespanne der Parlamentarier und Beamten. Ihr gemeinsames Ziel: neues Land für die Hansestadt und für den Hamburger Hafen. Neuwerk!
Seit 50 Jahren gehört Neuwerk zu Hamburg
Auf dem 3,3 Quadratkilometer großen Eiland im Wattenmeer, direkt an der Elbmündung, wartete bereits ein Empfangskomitee. Für den Bürgermeister gab es zur Begrüßung laut Protokoll einen „Strauß aus Zigarren“.
Im 1310 gebauten Backstein-Leuchtturm wurden wenig später Schinkenbrot und Spiegelei gereicht. Als weiteres Geschenk erhielt Weichmann eine Nachbildung der weltberühmten Kugelbake von Cuxhaven.
Als „unhanseatisch und konventionell“ bezeichnete das Hamburger Abendblatt in seiner Ausgabe vom 1. Juni 1970 jene Dienstreise am Tag zuvor, die vor 50 Jahren die symbolische Wiedereingliederung der Insel in hamburgisches Stadtgebiet markierte.
Wichtiges Fundament für Hamburgs Wohlfahrt
Seitdem gehört Neuwerk in der Nordsee, 130 Kilometer vom Hamburger Rathaus entfernt, nicht mehr zum niedersächsischen Cuxhaven, sondern zum Stadtbezirk Hamburg-Mitte.
Auch wenn damals die Hamburger Neubürger auf Neuwerk nach der freundlichen Übernahme ihre Telefongespräche mit den Behörden in der großen Stadt beim „Fräulein vom Amt“ als „Ferngespräche“ anmelden mussten.
Wie einst bei Christoph Kolumbus war die Reise der Hamburger Delegation allerdings nicht allein von Entdeckerlust, sondern auch vom Geld getrieben. Helmuth Kern, seit 1966 Wirtschaftssenator und später Zweiter Bürgermeister, sah in der Hafenerweiterung ein wichtiges Fundament für die Wohlfahrt der Hansestadt.
Kern plante einen Tiefwasserhafen auf Neuwerk
Um dem Konkurrenten Rotterdam die Stirn zu bieten und Schiffe mit einem Tiefgang von bis zu 20,5 Metern und einer Kapazität von 250.000 tdw (Ladetonnen) abfertigen zu können, favorisierte er einen Tiefwasserhafen ausgerechnet auf Neuwerk und Scharhörn – mit einer schnellen Eisenbahntrasse über das Wattenmeer bis nach Cuxhaven.
Was man heute einen Deal nennen würde, hatten Hamburger und niedersächsische Politiker und Juristen vor der frühsommerlichen Inseltour bereits in Paragrafen gemeißelt.
Niedersachsen profitierte ebenso
Ein Staatsvertrag regelte die Übernahme von Neuwerk und Scharhörn durch die Freie und Hansestadt Hamburg, während Niedersachsen im Gegenzug die ehemals rund 200 Hektar große Fläche in Cuxhaven zur Erweiterung des Fischereihafens erhielt.
Die Pläne, ausgerechnet rund um Neuwerk eine Tiefwasserhafen mit angeschlossenen Hüttenwerken, Schiffswerken und petrochemischen Anlagen zu bauen, entbehrten aus Sicht der Wirtschaftskapitäne nicht einer gewissen Plausibilität.
Um die Elbmündung besser vor Piraten und fremden Mächten zu schützen, hatte Hamburg bereits im Jahr 1299 mit den lauenburgischen Herzögen, unter deren Oberherrschaft Neuwerk und das Marschland südlich der Elbe (das sogenannte Land Hadeln) damals standen, einen Vertrag geschlossen. Damit ging das karge Eiland namens „O“, was auf Friesisch „Insel“ bedeutet, in Hamburger Besitz über.
Der Leuchtturm wäre stehen geblieben
Ein Jahr später begannen die Bauarbeiten für einen 30 Meter hohen und mit drei Meter dicken Wänden versehenen Turm, in dem die Hamburger Delegation sich nunmehr die Schinkenbrote schmecken ließ.
Das 1310 fertiggestellte Backsteingebäude fungiert seit 1815 als Leuchtturm und wies den Seeleuten auch in jenen Jahren den Weg, als Neuwerk durch das Groß-Hamburg-Gesetz 1937 preußisch und nach dem Krieg niedersächsisch wurde.
Der Leuchtturm wäre als Symbol maritimer Geschichte auch im gigantischen Hamburger Vorhafen Neuwerk/Scharhörn stehen geblieben. So viel Traditionspflege im Wirtschaftswunderland musste bei allen hochtrabenden Modernisierungsplänen immerhin sein.
Jens Kerstan auf dem Leuchtturm von Neuwerk:
Hamburger Hafen sollte "Tor zur Welt" bleiben
Durch Baggerarbeiten im Meer sollte Neuwerk an Fläche gewinnen, der Industriehafen über eine Größe von 60 Quadratkilometern verfügen und Superschiffe mit 700.000 tdw einlaufen können. Bereits im Jahr 1960 wurde das Senatskonzept erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.
„Ohne den Hafen würde Hamburg seine Stellung als Tor zur Welt verlieren und im Laufe der Jahrzehnte zur Bedeutungslosigkeit einer Provinzstadt herabsinken“, lautete die noch heute sehr vertraut klingende Begründung, die das Abendblatt unter dem Titel „Hafen im Watt“ publizierte. Mit der Rückkehr Neuwerks unter Hamburger Obhut vor 50 Jahren war der Weg frei.
Hohe Kosten und Bedenken der Umweltschützer
Graue Regierungshubschrauber mit Stahlindustriellen und Chemiebossen an Bord kreisen im Sommer 1970 über Neuwerk und seinen knapp 40 Bewohnern, während Experten des Hamburger Amtes für Strom- und Hafenbau ihre Messarbeiten beginnen.
Doch das Projekt will nicht so recht durchstarten. Da sind die hohen Kosten – rund 500 Millionen D-Mark für die erste Baustufe (Hafenbecken, Damm, Industriegelände). Hamburg kann sich mit Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bremen nicht über die Finanzierung einigen. Und da sind die wachsenden Bedenken der Umweltschützer, die nicht zuletzt das Vorhaben fürchten, dass auf der Insel ein Atomkraftwerk entsteht.
1979 stoppt die SPD das Projekt
Helmuth Kern bläst angesichts der Widerstände im September 1979 zum letzten Gefecht. Seit einem Jahr ist er Präsident des Unternehmensverbandes Hafen Hamburg. „Die Angst vor dem Anfassen großer Projekte wird uns noch einmal teuer zu stehen kommen“, warnt er, findet aber kaum noch Gehör.
Im Oktober 1979, also 19 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Senatskonzepts, stoppt die Hamburger SPD das Projekt des Tiefwasserhafens in der Elbmündung. Für das sensible ökologische System des Wattenmeeres erweist sich das als Segen.
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Seit 2009 gehört das Hamburgische Wattenmeer zum Unesco-Weltnaturerbe – sein Zentrum bleibt das industriell verschonte Neuwerk mit Scharhörn und Nigehörn.
Wie vor 50 Jahren, als die Hamburger Delegation sie wieder in Besitz nahm, ist die Insel bei Ebbe nicht nur zu Fuß, sondern auch mit dem Pferdewagen erreichbar. Sogenannte Pricken (meterhohe Reisigbündel und Birkenbäume) weisen den Weg von Cuxhaven-Duhnen bis zum Ziel. Jährlich besuchen rund 120.000 Gäste Neuwerk.
Die norddeutsche Hafenwirtschaft hat neue Kapazitäten für große Pötte woanders geschaffen: In Wilhelmshaven entstand 2012 mit dem JadeWeserPort ein tideunabhängiger Tiefwasserhafen. Und die Elbe muss erneut tiefer ausgebaggert werden, damit der Hamburger Hafen mit dem Strom der Zeit geht.