Neuwerk. Spektakuläres Naturphänomen: Die vor Neuwerk gelegenen Eilande Scharhörn und Nigehörn wachsen zu einer einzigen Insel zusammen.

In der Abgeschiedenheit von Neuwerk sind Aufsehen erregende Neuigkeiten naturgemäß eher rar. Doch wer etwas sucht, wird auch auf Hamburgs Exklave im Wattenmeer durchaus fündig. Zum Beispiel hinter dem Holunderbusch am Naturparkhaus.

Biegt man die Zweige mit den weißen Blüten etwas zur Seite, wird eine verfallene Holzbrücke sichtbar. Und die ist ein Problem. Denn sie stellte früher die kürzeste Verbindung von den Fußduschen für Wattwanderer zu den öffentlichen Toiletten im Naturparkhaus dar. Seit die Brücke marode und zugewuchert ist, müssen Wanderer mit Bedürfnis erst ein kleines Gehölz umrunden, und manch einer wählt da die schnellere Lösung – was den Insulanern, nun ja, stinkt.

Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) brachte Neuwerk drei „Geschenke“ mit

Insofern waren sie sehr froh, als Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) bei einem Besuch auf Neuwerk Abhilfe versprach: Ein neuer Damm soll die Brücke ersetzen. Kosten: Bis zu 50.000 Euro.

Im Gespräch mit Inselwart Christian Griebel hatte Kerstan noch weitere „Geschenke“ im Gepäck: Die Stadt finanziert eine etwa 100.000 Euro teure Ballenpresse, damit die Landwirte Heu für ihre Tiere einlagern können, ohne extra einen Lohnunternehmer vom Festland bestellen zu müssen. Und drittens erhält die Insel endlich einen Spielplatz, für 300.000 Euro dürfte der auch verzeigbar ausfallen. „Das ist natürlich klasse, weil unheimlich viele Jugendlager hier auf der Insel sind und es mehrere Schullandheime gibt“, sagte Griebel.

Klares Bekenntnis: Neuwerk soll sich trotz Nationalpark-Status weiter entwickeln dürfen

Noch mehr dürfte ihn aber die Botschaft gefreut haben, die hinter den Mitbringseln steckte: Auch der grüne Umweltsenator bekennt sich klar zu dem ungewöhnlichen Konzept von Neuwerk, das einerseits als Teil des Nationalparks Hamburgisches Wattenmeer einen hohen Schutzstatus genießt, andererseits aber ein seit Jahrhunderten besiedelter und bewirtschafteter Vorposten der Großstadt Hamburg ist – und dessen Bewohner gern eine Zukunftsperspektive hätten. Der Arbeit an einem Entwicklungskonzept wolle er nicht im Wege stehen, betonte Kerstan: „Da wollen wir als Umweltbehörde helfen, weil wir die Bewohner brauchen, damit diese Verbindung aus Kulturlandschaft und Natur in der Zukunft erhalten bleibt.“ Auf dem beeindruckenden Leuchtturm ließ Kerstan sich sogar zu einem Satz hinreißen, der sonst nur in Zusammenhang mit der Elbphilharmonie verwendet wird: „Jedes Hamburger Kind sollte einmal auf Neuwerk gewesen sein.“

Aus zwei kleinen Sandhaufen in der Elbmündung wurde ein großes Vogelparadies

Vom höchsten Punkt der Insel aus konnte der Senator auch eine Neuigkeit am Horizont erahnen, für die er keine Büsche beiseite biegen musste, sondern die im wahrsten Sinn groß ist: Die nordwestlich von Neuwerk gelegenen Inseln Scharhörn und Nigehörn sind mittlerweile zu einer einzigen großen Insel zusammengewachsen. Was 1990 noch zwei je 20 Hektar kleine Sandhaufen waren, ist heute ein 250 Hektar großes Vogelparadies – und damit fast so groß wie Neuwerk selbst (280 Hektar). Die „wachsende Stadt Hamburg“, die der Senat Anfang des Jahrtausends ausgerufen hatte und die hinsichtlich der Einwohnerzahl bis heute seine Leitlinie ist – hier wird sie ohne Zutun der Politik Realität.

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Zwar war der Mensch vor knapp 100 Jahren nicht ganz unbeteiligt an der Entwicklung Scharhörns von einer Sandbank zu einer Insel, und Nigehörn ist 1989 komplett künstlich aufgespült worden, um vor allem Seeschwalben eine neue Heimat zu bieten. Doch was sich seitdem ereignete, darf man getrost als Naturphänomen bezeichnen: Wind und Wasser haben vor allem an den Osträndern der beiden Inseln beständig mehr Sand und Schlick abgelagert als sie im Westen abgeknabbert haben. Da sich Scharhörn zudem um bis zu 24 Meter pro Jahr Richtung Südosten verlagert, sind beide Inseln verschmolzen, nur ein kleiner Priel trennt sie noch.

Nigehörn bleibt Sperrgebiet, aber Scharhörn darf besucht werden – ein Erlebnis

Wer nun von neuen Siedlungsflächen für die wachsende Stadt oder auch nur einem weiteren Touristenmagneten träumt, wird allerdings enttäuscht. Nigehörn ist und bleibt Sperrgebiet, hier sollen sich Flora und Fauna ungestört entwickeln können. Und auf Scharhörn lebt nur ein Vogelwart, der im Auftrag des Umweltverbands Jordsand von Frühjahr bis Herbst den Vogelbestand erfasst – und nebenbei auch den angeschwemmten Müll sammelt und dokumentiert.

Immerhin: Sein einsames Refugium kann man nach Rücksprache besuchen, mit dem Wattwagen oder zu Fuß. Ein Erlebnis, das sich auch der Umweltsenator nicht entgehen ließ – wobei ihm schmusende Seehundbabys auf einer Sandbank, zwei Seehundkadaver am Wegesrand und Hunderte kreischender Herings- und Silbermöwen eindrucksvoll aufzeigten, wer hier draußen regiert: die Natur.

„Ich finde es faszinierend, auf die grundlegenden Dinge reduziert zu sein und den Verlauf der Natur über das Jahr verfolgen zu können“, erzählte der aktuelle Vogelwart Jan-Luca Roth. Die Einsamkeit mache ihm nichts aus, sagte der 24-Jährige, der hier seinen Bundesfreiwilligendienst leistet. „Eine Herausforderung ist eher, auf bestimmte Dinge verzichten zu müssen wie frische Lebensmittel, fließendes Wasser oder eine Heizung.“ Immerhin: Die Internetverbindung in der 2018 aus vier Containern neu gebauten Station ist bestens, bestellen lässt sich daher alles – nur die Lieferung läuft etwas anders als bei Otto oder Amazon. Entweder muss der Vogelwart die Ware zu Fuß von Neuwerk abholen oder auf den nächsten Wattwagen warten, was einige Tage dauern kann.

Die Erreichbarheit der Insel bereitet den Menschen auf Neuwerk Sorgen

Isolation ist auch auf Neuwerk ein großes Thema. Per Schiff ist die Insel zwar von Cuxhaven aus gut erreichbar, aber für Wattwagen wird es mitunter kritisch. „Wir haben im Watt einen Priel, der sich ziemlich stark verändert hat und tief geworden ist und der uns hier und da vom Festland abschneidet“, erzählte Inselwart Christian Griebel. „Da muss etwas passieren, damit wir zukünftig eine Anbindung an das Festland behalten. Gerade im Tagestourismus ist das für uns ziemlich entscheidend.“ Derzeit tüfteln die Fachleute noch, wie das Problem in den Griff zu bekommen ist. Für den Umweltsenator ist die Ursache klar: Immer neue Vertiefungen von Elbe und Weser hätten „die natürliche Dynamik“ außer Kraft gesetzt: „Insofern ist die Stadt dann auch verpflichtet, den Neuwerkern zu helfen, damit sie darunter nicht leiden.“

Die Erreichbarkeit hat auch Einfluss auf eine noch viel größere Sorge der Insulaner: die schwindende Bevölkerung. Die Angaben schwanken zwischen 32 und 36 festen Bewohnern – zu wenig, um die Zukunft zu sichern. „Wir brauchen dringend mehr Insulaner“, sagte Griebel. Die Voraussetzung dafür sei neuer Wohnraum, auch für Saisonkräfte. Dass die Naturschützer darüber nicht jubeln, liegt auf der Hand. Umso wertvoller ist für den Inselwart die Aussage des Umweltsenators, die Entwicklung nicht behindern zu wollen. „Die Aussichten sind ganz gut“, sagte Griebel. „Die Leute haben erkannt, dass jetzt ein Wendepunkt auf der Insel ist und das man etwas tun muss – und das machen die auch.“