Hamburg. Die Enttäuschung über sein Aus als Wehrbeauftragter ist das eine. „Er war dünnhäutiger geworden“, heißt es auch.
Selten hat sich ein Politiker abrupter und konsequenter aus allen Ämtern und von der Bühne öffentlicher Wahrnehmung verabschiedet als Johannes Kahrs. Am Dienstag vergangener Woche warf der 56 Jahre alte Oberst der Reserve für alle Außenstehenden Knall auf Fall buchstäblich den Bettel hin: Er legte nach 22 Jahren sein Bundestagsmandat nieder, war damit nicht mehr haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und Chef des konservativen „Seeheimer Kreises“ der SPD-Abgeordneten. Und Kahrs ist auch nicht mehr Vorsitzender der SPD Hamburg-Mitte, jenes Kreisverbands, den er seit 2002 zu seiner von vielen Parteifreunden gefürchteten Machtbasis ausgebaut hatte.
„Ich melde mich hiermit ab“, lautete, militärisch korrekt, Kahrs’ letzter Satz zu seinem Rücktritt im Abendblatt-Interview, dem einzigen, das er gab. Und er hält sich daran, er ist nicht mehr erreichbar. Der große Kommunikator, für den Extrovertiertheit und Präsenz auf allen Kanälen zum Politikstil gehörte, der große Strippenzieher, als den er sich selbst gern bezeichnete, ist abgetaucht. Ein so umfassender persönlicher Shutdown wirft Fragen auf.
Auf den ersten Blick ist Kahrs ausschließlich aus Enttäuschung und Verärgerung über seine Partei zurückgetreten, weil er nicht Wehrbeauftragter des Bundestages geworden ist. Kahrs beruft sich auf eine Zusage des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich (Kahrs: „Per Handschlag!“) von Ende 2019, dass er den Posten bekomme. Aus Mützenichs Umfeld wird bestritten, dass es eine feste Zusage gab. Kahrs bestätigt, dass Mützenich ihm im Januar gesagt habe, dass es Probleme mit seiner Kandidatur gebe, weil einflussreiche Christdemokraten ihn nicht wählen wollten.
Wurde Kahrs das Opfer eines Spiels mit verdeckten Karten?
Doch dabei dürfte es sich um eine Berliner Nebelkerze handeln, denn aus der Union-Bundestagsfraktion ist zu hören, dass die Abgeordneten Kahrs selbstverständlich gewählt hätten, wenn die SPD ihn denn vorgeschlagen hätte. Die Information, dass er tatsächlich für den Posten „nicht mehr gesetzt“ sei, hat Kahrs nach eigener Aussage wenige Tage vor der Entscheidung der SPD-Fraktion von Mützenich erhalten. Viel spricht also dafür, dass Kahrs, selbst ein Meister der Hinterzimmerkungelei, hier Opfer eines Spiels mit verdeckten Karten wurde. Dass die Wahl auf die Justizexpertin Eva Högl als neue Wehrbeauftragte fiel, hat offensichtlich auch viel mit der Verteilung von aussichtsreichen Bundestagskandidaturen in Berlin zu tun. Dort hätte Högl mit ihrem Mandat Michael Müller, mit dessen Abgang als Regierender Bürgermeister gerechnet wird, wohl im Wege gestanden.
Es ist schwer vorstellbar, dass ein derart ausgebuffter und bestens vernetzter Machtpolitiker wie Kahrs von solchen Ränkespielen nichts mitbekommen haben sollte. Vielleicht interessierte ihn derlei nicht mehr. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Kahrs lange vor der Entscheidung, wer den Posten des Wehrbeauftragten bekommt, seinen Rückzug als Abgeordneter eingeleitet hatte. Vertraute berichten, dass er für seine Mitarbeiter schon neue Jobs besorgt hatte. Das könnte dafür sprechen, dass er sich seiner Sache sehr sicher war. Oder eben, dass er die Entscheidung getroffen hatte, sich von dem aufreibenden Leben in der ersten Reihe der Politik, verbunden mit einer zeitaufwendigen Wahlkreispräsenz und Ansprechbarkeit für viele Bürger so oder so zu verabschieden.
Weggefährten von Kahrs sprechen von Erschöpfungszuständen
Enge Weggefährten von Kahrs sprechen von Erschöpfungszuständen und davon, dass er auch die mediale Omnipräsenz vielleicht nicht mehr durchhalten konnte. Dass Kahrs austeilen konnte, ist nicht nur seinen politischen Gegnern, sondern auch Parteifreunden hinlänglich bekannt. Besonders intensiv war jedoch sein Kampf gegen die AfD und alle, die im Netz von Rechtsaußen versuchen, Einfluss zu nehmen. Gegenangriffe blieben nicht aus. „Er war dünnhäutiger geworden“, sagt ein Weggefährte. „Unter den AfD-Angriffen hat er sehr gelitten“, sagt ein anderer. „In seinem Engagement gegen die neue Rechte war und ist er ein Vorbild. Das alles hat viel Zeit und Kraft gekostet, am Ende vielleicht mehr, als ihm zur Verfügung stand“, sagte Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit unmittelbar nach dem Rücktritt des SPD-Politikers.
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Veit ist die neue starke Frau in der SPD Mitte: Sie hat den Vorsitz kommissarisch übernommen und gilt als Favoritin für die reguläre Neuwahl wohl Ende des Jahres. Dennoch hinterlässt Kahrs in der Hamburger SPD zunächst ein Machtvakuum. Er hat die SPD Mitte straff geführt und ein System von Loyalitäten und Abhängigkeiten aufgebaut. Bei der Durchsetzung von personalpolitischen Interessen konnte er parteiintern im Landesverband knallhart auftreten. Zuletzt war das der Fall, als er seinen Mitte-Genossen Dirk Kienscherf 2018 als SPD-Bürgerschaftsfraktionschef gegen den Eimsbütteler Milan Pein durchboxte.
Kahrs wäre mit seinen und den Interessen seines Kreisverbands bei der anstehenden Senatsbildung ein wichtiger Faktor gewesen. Entscheidend für seine Durchsetzungsfähigkeit war nicht zuletzt, dass er ohne eigene Karriereinteressen handelte und unabhängig von der „Gnade“ der Partei war, weil er sein Bundestagsmandat stets direkt gewann.