Hamburg. Im Hamburger Abendblatt veröffentlichen zwei der bekanntesten Mediziner der Stadt zehn Thesen zum Umgang mit dem Virus.
Der eine ist einer der bekanntesten Kinder- und Jugendpsychiater des Landes, der andere untersucht als Rechtsmediziner im Moment vor allem Menschen, die an oder mit Covid-19 gestorben sind. Michael Schulte-Markwort und Klaus Püschel, beide Professoren am Universitätsklinikum Eppendorf, haben sich jetzt zusammengetan, weil sie den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der Coronakrise gefährlich finden.
„Keine der Zahlen, die wir kennen, rechtfertigt die Angst, die in Deutschland vor dem Virus geschürt wird“, sagt Schulte-Markwort. Im Gegenteil: Er habe den Eindruck, dass die Angst sich allmählich verselbstständige, dass „gute Nachrichten im Zusammenhang mit dem Virus gar nicht mehr wahrgenommen werden“. So habe Gesundheitsminister Jens Spahn am 26. März noch von der „Ruhe vor dem Sturm“ gesprochen und vor einer möglichen Überlastung der Intensivstationen gewarnt.
10.000 freie Intensivbetten
„Tatsächlich gibt es knapp drei Wochen später keine Klinik in Deutschland, die an ihren Kapazitätsgrenzen ist“, sagt Schulte-Markwort. Spahn selbst habe über Ostern erklärt, dass aktuell 10.000 Intensivbetten frei seien. Und von „italienischen Verhältnissen“, die selbst Lothar Wieler, der Leiter des Robert-Koch-Instituts (RKI) für Deutschland nicht ausgeschlossen hatte, könne nun gar keine Rede sein. Was auch daran liegt, dass in Deutschland auf 100.000 Einwohner fast 40 Intensivbetten kommen, in Italien sind es nur 8,6. „Solche Zahlen spielen in der öffentlichen Diskussion eine viel zu geringe Rolle“, so Schulte-Markwort.
In Erinnerung bleibe dagegen, dass das RKI noch Mitte März von bis zu zehn Millionen Infizierten in Deutschland in den nächsten zwei bis drei Monaten gewarnt habe. „Wir haben offensichtlich ein kollektives, unterbewusstes Interesse daran, die Angst vor dem Virus möglichst hochzuhalten“, sagt Schulte-Markwort. Immerhin: Das RKI hat am Dienstag eingeräumt, dass angesichts der aktuellen Entwicklung der Infektionszahlen in Deutschland Engpässe in der medizinischen Versorgung nicht mehr zu erwarten seien. Trotzdem sei man weiter gegen die Lockerung der jetzt in der vierten Woche geltenden Maßnahmen.
Zahl der Corona-Patienten ist insgesamt rückläufig
Das versteht Klaus Püschel nicht, der wie kein anderer Rechtsmediziner in Deutschland Menschen untersucht hat, die nach einer Coronainfektion verstorben sind. Seine Erkenntnisse: „Corona ist eine vergleichsweise harmlose Viruserkrankung. Wir müssen uns damit beschäftigten, dass Corona eine normale Infektion ist, und wir müssen lernen, damit zu leben, und zwar ohne Quarantäne.“ Die von ihm untersuchten Todesopfer hätten alle so schwere Vorerkrankungen gehabt, dass sie, „auch wenn das hart klingt, alle im Verlauf dieses Jahres gestorben wären“. Püschel wird noch deutlicher: „Die Zeit der Virologen ist vorbei. Wir sollten jetzt andere fragen, was in der Coronakrise das Richtige ist, etwa die Intensivmediziner.“
Als Beispiel führt er seinen Kollegen Stefan Kluge an, Leiter der Intensivmedizin am UKE, der vor einigen Tagen gefordert hatte, die Maßnahmen gegen Corona noch im April zu lockern. „Wir haben selbst über Ostern die Meldung aus dem UKE bekommen, dass die Lage dort ruhig und geordnet ist“, sagt Püschel, der wie Schulte-Markwort vor den Folgen warnt, die der Shutdown gerade für Krankenhäuser und Arztpraxen haben könnte.
Appell an Angela Merkel
Denn dort ist die Zahl der Patienten insgesamt deutlich zurückgegangen, was eine große Gefahr sei, „weil all die anderen, zum Teil deutlich gefährlicheren Krankheiten ja keine Pause machen“. Schulte-Markwort: „Es ist doch komisch, dass die Notaufnahme im UKE jenseits von Corona im Moment deutlich weniger zu tun hat als noch vor zwei, drei Monaten.“
Der Appell der beiden Mediziner: „Angela Merkel sollte Deutschland langsam wieder aufmachen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt“, sagt Klaus Püschel. Michael Schulte-Markwort traut der Gesellschaft, „also uns allen zu, dass wir verantwortungsvoll und selbstbestimmt mit der Situation klarkommen“. Und Püschel hat am Ende eigentlich nur noch eine Frage: „Was machen wir eigentlich, wenn wir es in Deutschland irgendwann mal mit einem richtig gefährlichen Virus zu tun bekommen?“
10 Thesen zum Umgang mit dem Virus
- 1. Der Beginn der Pandemie hat verständlicherweise schnell weltweit Angst ausgelöst.
- 2. Angst schützt uns grundsätzlich vor gefährdendem Verhalten. Verselbstständigte Angst aber schadet.
- 3. Die Virusinfektion ist grundsätzlich nicht zu verhindern. Die Krankheit Covid-19 ist weitaus weniger schlimm, als die meisten Menschen denken und Politik und Medien suggerieren.
- 4. Eine Verlangsamung der Infektionskurve, um Intensivkapazitäten zu sichern, war sinnvoll. Die Kapazitäten sind bei Weitem nicht ausgelastet.
- 5. Dennoch haben sich inzwischen angststeigernde Mechanismen gefestigt.
- 6. Wir können uns zutrauen, als Gesamtgesellschaft mit dieser Infektion fertigzuwerden.
- 7. Der Schutz von Risikogruppen ist selbstverständlich vorzusehen, aber niemals gegen deren Willen. Auch Einsamkeit (durch zum Beispiel Quarantäne …) macht krank.
- 8. Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der besten der Welt. Darauf können wir uns verlassen. Covid-19 darf unser Gesundheitssystem nicht einseitig blockieren.
- 9. In fast allen Bereichen des täglichen Lebens können die Abstandsregelungen und Hygienemaßnahmen eingehalten werden. Das bedeutet, dass alle Bereiche der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens unverzüglich wieder geöffnet werden sollten.
- 10. Wir sollten uns solidarisch darum kümmern, wie wir angstfrei und selbstbestimmt werden.