Die Meldungen kamen fast gleichzeitig: In ihrer Regierungserklärung ließ sich die Kanzlerin zu einem Seitenhieb auf die Bundesländer hinreißen. Diese gingen bei ihren Lockerungen „zu forsch“ vor, kritisierte sie. Kurz darauf kam aus Rostock die Meldung, die Großstadt sei nun offiziell „coronafrei“. Der letzte an Covid-19 erkrankte Rostocker konnte aus der Quarantäne entlassen werden.
Daraus ergeben sich einige Fragen: Wenn schon ganze Großstädte keine Infizierten mehr haben, warum dauern die Beschränkungen fundamentaler Grundrechte überall weiter an? Warum darf man nicht einmal über Lockerungen diskutieren? Merkels Begriff der „Öffnungsdiskussionsorgien“ war ebenfalls eine demokratische Zumutung. Haben die rekordhohen Zustimmungswerte in Umfragen manche in Berlin blind für Selbstkritik gemacht?
Wann, wenn nicht jetzt, soll eine föderale Demokratie über Öffnungen diskutieren? Wann, wenn nicht jetzt, wo die Hälfte der deutschen Betriebe Kurzarbeit angemeldet hat und 20 Prozent Entlassungen planen? Wann, wenn nicht jetzt, wo Kinder wie in Hamburg seit sieben Wochen keine Schule mehr von innen gesehen haben? Wann, wenn nicht jetzt, wo Gläubige seit fünf Wochen ihres Grundrechts auf „ungestörte Religionsausübung“ beraubt sind? Das ist kein Plädoyer für das blinde Hochfahren des ganzen Landes, aber es ist eines für dosierte lokale Lockerungsübungen.
Der Föderalismus, der offenbar immer mehr Bundespolitikern missfällt, birgt die große Chance, die schlimmen Folgen des Stillstandes zu begrenzen und zugleich Erkenntnisse über die Verbreitung des tückischen Virus zu gewinnen. Wo wenige oder gar keine Infizierten leben, könnten Schulen und Restaurants öffnen. Auch die Intensivkapazitäten müssen ein Parameter für mögliche Lockerungen sein. Natürlich liegen im Prinzip von Versuch und Irrtum Gefahren – aber lebensgefährlich ist auch der landesweite Stillstand. Keiner weiß, wann ein Impfstoff gefunden wird, ja, ob es überhaupt gelingt. Wir werden lange mit dem Virus leben müssen. Wer den Stillstand bis dahin fortsetzen will, wird die deutsche Wirtschaft zerstören – und damit all das, was er nun retten will.