Hamburg. Lange stritten Politik und Militär über eine kampflose Übergabe der Stadt. Dritter Teil der Serie über das Kriegsende vor 75 Jahren.

Der Tommy kommt! Der Tommy kommt!“ Christa hörte die vielen Stimmen, als sie mit ihrem Großvater an den Landungsbrücken stand. Die Bomben hatten ganze Arbeit geleistet. Überall Trümmer – hoch aufgetürmt. Ein Lautsprecherwagen fuhr durch die Straßen: „Alles von der Straße. Wer noch draußen ist, wird erschossen.“ „Opa, was machen wir? Wir sind so weit von zu Hause weg.“ „Komm, mien Deern. Wi find all wat. Und wenn wir uns in den Ruinen verstecken.“ Christa: „Was will der Tommy mit uns machen?“ „Dat weet ick oak nich. Nu komm man.“

Die Hand des Kindes – ganz eng in die des Großvaters. Sie liefen die Ruinenstraßen entlang. Immer im Schutze der riesigen Steinhaufen. Kletterten über sie hinweg, wenn es nicht anders ging. Menschen mit Staubgesichtern hasteten ihnen entgegen. Die Elbe rechts von ihnen. Der Fluss stank. Widerlich, wie gäriges Obst. Drüben – die Howaldtswerke, Blohm & Voss – Trümmerwüsten. Ab und zu ragte ein Schiffsrumpf aus dem trüben Wasser. Die Bäume unter der ehemaligen U-Bahn-Haltestelle Baumwall – knochige Hände. Verbrannt. Hilfeschreie in den blauen Maimorgen des Jahres 1945.

Und überall die Lautsprecheranlagen der Polizeimannschaftswagen, die die Menschen von den Straßen trieben. „Opa, wo wollen wir hin? Ich hab solche Angst. Gleich kommt der Tommy.“ Der Großvater: „Lasst uns noch etwas weiter. Vielleicht schaffen wir es zum Bunker an den Elbbrücken.“ Christas Füße brannten. Wenn der Großvater einen Schritt tat, musste sie mindestens zwei machen.

Es war ein Tosen und Brummen in der Luft

Nun verbargen sie sich in einer Ruine. „Ich muss mein braunes Hemd ausziehen,“ meinte der Großvater, „sonst denken die Tommys, ich bin von der SA.“ Tat’s und lief im Unterhemd weiter. „Da hinten kommen die Elbbrücken, und da ist auch der Bunker.“ „Ach, das ist ja noch so weit,“ greinte das Mädchen, „ich hab solche Angst.“ „Komm, mien Deern. Ick nehm di op’n Arm.“ Sie drückte ihr Gesicht an den Hals des Großvaters.

Schließlich erreichten sie die von den Bomben stark beschädigten Elbbrücken. „Los, rünner, Christa. In Deckung, ich glaub, da kommt der Tommy.“ Das geübte Ohr des Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg hatte das Lärmen der Kettenfahrzeuge gehört. Beide legten sich bäuchlings in das Gras. Sie krallten sich an den Grasbüscheln fest. Wurden ganz platt. Christa presste ihr Gesicht in den Erdboden. Ihr Großvater lag halb über ihr. „Kommen sie schon? Kommen sie schon?“ Christas Stimme – dünn und zittrig. Der Großvater: „Ich kann noch nichts sehen.“ „Aber Opa, was für ein Lärm.“ „Doar, ick seh se.“

Christa schielte unter ihrem Ellenbogen hervor. „Das sind ja Panzer.“ „Sei jetzt ruhig, mien Deern. Damit sie uns nicht sehen.“ In Reihen hintereinander fuhren die Engländer über die halb zerstörte Brücke. Ungefähr 50 Meter von ihnen entfernt. Es war ein Tosen und Brummen in der Luft. Die Ketten der Panzer klangen schrill und scheppernd. Die Lautstärke vibrierte in Christas Bauch. Oben in der Luke saß ein Soldat mit großen Ohrenschützern links und rechts am Kopf. Bedrohlich das lange Rohr vor ihm im Anschlag.

Zeit zwischen Krieg und Frieden

So ging es fast eine Stunde. Die beiden im Gras rührten sich nicht. Die Erde wurde warm unter ihren Körpern. „Wie viel wohl noch kommen“, flüsterte das Mädchen. „Und schießen die nun in der Stadt rum?“ Der Großvater: „Wenn es keinen Verrückten gibt und sich alle ruhig verhalten, dann geht es gut. Gauleiter Kaufmann hat ja Hamburg zur freien Stadt erklären lassen.“ Christa: „Wenn die alle durch sind, was ist dann? Fallen denn keine Bomben mehr?“ „Dann, mien Deern, dann ist endlich Frieden.“

Sichtlich unbekümmert spielen diese Kinder zwischen den Trümmern und Hausruinen, den Resten vom Bombardement 1943.
Sichtlich unbekümmert spielen diese Kinder zwischen den Trümmern und Hausruinen, den Resten vom Bombardement 1943. © picture-alliance

Besser als viele Geschichtsbücher oder Nachrichten beschreiben Erlebnisse und Gefühle die seltsame Zwischenzeit dieses Frühlings vor 75 Jahren. Eine Zeit zwischen Krieg und Frieden, zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Last der Vergangenheit und Lust auf Zukunft, zwischen Niederlage und Befreiung. Christa Reimann, Jahrgang 1935, hat als Zeitzeugin diese Tage erlebt und ihre Erinnerungen im Buch „Lauschgesichter“ (Verlag Alles wird schön) festgehalten.

75 Jahre später geht es darum festzuhalten, was war. Die Stunde Null ist in der Hansestadt eine besondere – wie unter einem Brennglas zeigt sie noch einmal die ganze Menschenverachtung der Nationalsozialisten und die langsame Rückkehr der Vernunft – und das ungeheure Glück der Hansestadt, nach der vernichtenden Zerstörung der Bombennächte von „Gomorrha“ im Sommer 1943 nicht noch ein zweites Mal in Schutt und Asche gelegt zu werden.

Hamburg sollte zur Festung ausgebaut werden

Die Nazis hatten ein anderes Schicksal für die Hansestadt vorgesehen. Schon am 19. Februar 1945 hatte Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann im Großen Festsaal des Rathauses Parteifunktionären und Honoratioren verkündet, was der Führer plant: Die Stadt solle zur Festung ausgebaut und um jeden Preis verteidigt werden. Genau einen Monat später steigerte der Führer den Irrsinn weiter und erteilte seinen Nerobefehl. „Es ist ein Irrtum zu glauben, nicht zerstörte oder nur kurzfristig gelähmte Verkehrs-, Nachrichten-, Indus­trie- und Versorgungsanlagen bei der Rückgewinnung verlorener Gebiete für eigene Zwecke wieder in Betrieb nehmen zu können. Der Feind wird bei seinem Rückzug uns nur eine verbrannte Erde zurücklassen und jede Rücksichtnahme auf die Bevölkerung fallen lassen. Ich befehle daher: 1. Alle militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind zur Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören.“

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Der Wahn und die Wut des Führers sprechen aus diesem Nerobefehl – er wollte das deutsche Volk für die Niederlage nicht nur bestrafen, er wollte es vernichten, weil es, wie Sebastian Haffner schreibt, „sich für einen heroischen Endkampf nicht mehr willig genug hingeben“ wollte. Zugleich aber ist es ein Befehl, der selbst verblendete Nationalsozialisten nicht mehr erreicht. Albert Speer hintertreibt den Nerobefehl, und selbst Hamburgs NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann, immerhin als Mitglied Nummer 95 der Partei ein alter Kämpfer und „Nazi der Stunde Null“, wird sich am Ende widersetzen.

Elbbrücken sind mit Sprengstoff zur Zerstörung vorbereitet

Zwar gibt er zunächst Befehle zu Totalzerstörungen, doch in Gesprächen zeigt er sich schon Ende März skeptisch. Bei einem Treffen mit dem Präses der Gauwirtschaftskammer, Joachim de la Camp, und Staatssekretär Georg Ahrens am 31. März 1945 wird offen darüber gesprochen, dass wegen der aussichtslosen militärischen Lage Deutschlands eine Verteidigung Hamburgs sinnlos geworden sei. Kampfkommandant Alwin Wolz schätzt die Lage ähnlich ein. „8000 Tonnen Sprengstoff liegen in Geesthacht. Sie reichen aus, Hamburg für Jahre hinaus zu erledigen“, erinnert er sich später.

„Aber ich bin entschlossen, nicht mehr Sprengstoff herauszurücken, als zu geringfügigen Schädigungen nötig ist.“ Das Oberkommando der Wehrmacht aber will weiterkämpfen, um so lange wie eben möglich einen Korridor zwischen Elbe und Ostsee offen zu halten, damit vor der Sowjetarmee flüchtende Zivilisten und Soldaten in Deutschlands Nordwesten gelangen können.

Die Elbbrücken beispielsweise sind längst mit Sprengstoff zur Zerstörung vorbereitet. Am inneren Verteidigungsring, der sich von Harburg über Altona bis Winterhude zieht, werden Panzersperren errichtet. Obwohl die Stadt schon schwer zerstört ist, hätte der Nerobefehl den Wiederaufbau fast unmöglich gemacht. Die Brücken wären gesprengt, die Hafenanlagen zerstört, die Werften zerlegt, sämtliche Schiffe versenkt worden.

Hamburger fürchten die völlige Zerstörung der Stadt in einem Häuserkampf

Deshalb reist Kaufmann am 3. April 1945 nach Berlin, um bei Adolf Hitler persönlich vorzufühlen, ob eine kampflose Übergabe Hamburgs möglich ist. Zumindest ist dies die Version, die Kaufmann später zu seiner Verteidigung auftischen wird. Im Führerbunker will man von derlei Vaterlandsverrat nichts hören und droht ihm demzufolge mit dem Tode. Wolz und Kaufmann bewaffnen sich und lassen sich von einer Leibgarde schützen - nun fürchten sie, von den Fanatikern aus den eigenen Reihen gemeuchelt zu werden. „Es ist ein gefährliches Spiel, das in diesen letzten Wochen gespielt wird. Jeder Tag kann die Liquidierung Kaufmanns bringen. Jeden Tag kann ich abgelöst werden. Und wenn dann die Scharfmacher ans Ruder kommen, was dann?“, wird Wolz zehn Jahre später dem Abendblatt sagen.

Die Bürger der Stadt, in der zu diesem Zeitpunkt ungefähr 1,1 Millionen Menschen leben, ahnen von alldem nichts. Sie hören die Durchhalteparolen und fürchten die völlige Zerstörung der Stadt in einem Häuserkampf. Am 16. und 17. April werfen die Nazis in der Aktion Sonderzuteilung ihre Reserven an Lebens- und Genussmitteln sowie Kleidervorräte auf den Markt, was viele als Hinweis für den Festungskampf missverstehen. „Wir hatten plötzlich zehn Schwarzbrote, eine Kruke mit braunem Zucker, einen großen Beutel mit Mehl auf der Küchenanrichte stehen. Und der Trumpf war, wir bekamen auch ein Radio, Volksempfänger Marke ,Goebbelsschnauze‘“, erinnert sich Abendblatt-Leser Dieter Rieper.

Die Zeitung druckt auf ihrer letzten verbliebenen Seite Durchhalteparolen, Gerüchte umtosen die Stadt, die Menschen sehen die Verteidigungsmaßnahmen, die das letzte Aufgebot ergreift, und tuscheln über Kapitulationsbemühungen. Am 18. April hatte sich Lüneburg kampflos ergeben.

Drei Männer ebneten den Weg zur kampflosen Übergabe

In der Tat sind es mutige Bürger der Stadt, die die kampflose Übergabe am Ende erreichen werden. Drei Männer machen sich am 29. April auf den Weg zu den Briten, die südlich von Hamburg stehen: Der Divisionsarzt Prof. Hermann Burchard will erreichen, dass die englische Artillerie nicht länger auf die Harburger Phoenix-Werke schießt, die längst ein Lazarett sind, in dem deutsche Soldaten und britische Kriegsgefangene behandelt werden. Der Chef der Phoenix-Werke, Albert Schäfer, möchte bestätigen, dass in dem Betrieb keine kriegswichtigen Güter mehr hergestellt werden. Leutnant Otto von Laun von der Kampfkommandantur begleitet sie als Übersetzer.

Mit einer weißen Fahne gehen die drei über die Bremer Chaussee Richtung britische Stellungen. Von Laun erinnert sich später. „Wir verließen die eigene Front und gingen etwa auf der Höhe von Lürade 1,5 bis zwei Kilometer entlang der heutigen B 75 durch das Niemandsland auf die englische Front zu.“ Sie werden beschossen, festgenommen, verhört. „Wir wurden hin- und hergefahren, stundenlang.“ Am Abend bekommen sie zu essen und zu trinken – am Porzellan erkennen die drei Unterhändler, dass sie sich im Gasthof Hoheluft unweit von Meilsen an der heutigen B 75 befinden.

Ihr Gesprächspartner dort ist Hauptmann P. Martin Lindsay. Schnell einigt man sich auf den Verzicht der Angriffe auf die Phoenix-Werke. Lindsay lotet zugleich aus, ob die Bereitschaft zur Kapitulation besteht. Schäfer erklärt sich bereit, zwei an den Kampfkommandanten General Alwin Wolz gerichtete Schreiben zu überbringen. „Es war die formelle Aufforderung zur kampflosen Übergabe der Hansestadt“, sagte Schäfer. Er versteckt beide Briefe in seinem Schuh, aus Angst, überzeugte Nazis könnten ihn aufhalten. Am Nachmittag erreicht der Unternehmer die Kampfkommandantur am Rothenbaum. „Wolz empfing mich sofort und öffnete in meiner Gegenwart den Brief“, schrieb Schäfer später. „Es ging ein befriedigtes Lächeln über seine Züge. Er sagte in seiner süddeutschen Mundart: ‚Das können die Herren Engländer bald haben‘, und entließ mich mit einem freundlichen Händedruck.“

Die menschenfressende Mordmaschinerie gerät ins Stocken

Der Bayer Wolz zweifelt seit Langem am Sinn des Krieges. Zehn Jahre später erzählt er dem Abendblatt: „Wenn ich ein blinder Befehlsempfänger wäre, könnte ich noch einiges bieten. 20.000 Mann kampfkräftige Verbände und 12.000 Mann Volkssturm unterstehen meinem Kommando, als ich Anfang April 1945 den Posten eines Kampfkommandanten von Hamburg übernehme. Und 50.000 Schuss Artilleriemunition liegen in den Bunkern! Aber 600.000 Frauen und Kinder sind in der Stadt! Es ist ein Verbrechen, auch nur den Versuch einer Verteidigung der Millionenstadt zu erwägen!“ Wolz informiert Gauleiter Kaufmann, der sich an Großadmiral Dönitz, Generalfeldmarschall Busch und Reichsführer SS Heinrich Himmler wendet. Dönitz lehnt den Vorstoß brüsk ab.

Trotzdem bittet Gauleiter Kaufmann den früheren Bürgermeister Wilhelm Amsinck Burchard-Motz, den Bruder des Divisionsarztes, politische Übergabeverhandlungen mit den Engländern zu führen. Burchard-Motz sagt nach einigem Zögern zu. Den militärischen Teil übernimmt Kampfkommandant Wolz. Er schreibt: „Die Gedanken, die Sie – General Lyne – in Ihrem Schreiben in so klarer Weise zum Ausdruck gebracht haben, sind bei der derzeitigen Situation naturgemäß auch von zahlreichen verantwortlichen Führern und mir in Erwägung gezogen worden. Eine etwaige Übergabe Hamburgs würde weitreichende militärische und politische Folgen für das ganze noch unbesetzte norddeutsche Gebiet und Dänemark haben. Infolgedessen entbehrt der mir erteilte strikte Befehl, Hamburg bis zum letzten Mann zu halten, nicht einer inneren Berechtigung. Trotzdem bin ich und ein bevollmächtigter Vertreter des Herrn Reichsstatthalters und Gauleiters Kaufmann bereit, … das Problem einer etwaigen Übergabe zu besprechen …“

Dönitz schäumt – er versucht, Wolz abzulösen, und befiehlt Kaufmann per Fernschreiben die Verteidigung Hamburgs. In diesen letzten Kriegstagen, der Führer hat sich schon selbst gerichtet, gerät die menschenfressende Mordmaschinerie ins Stocken.

Die Kapitulation wird aus Versehen zu früh verbreitet

Am Abend des 1. Mai unterbreiten zwei Offiziere das Angebot zur kampflosen Übergabe Hamburgs. Der britische General Lyne diktiert daraufhin die Kapitulationsbedingungen. Sollte Wolz diese Bedingungen akzeptieren, werde er am Abend des 2. Mai an der Front unweit von Meckelfeld erwartet. Zudem sichern die Engländer zu, dass Hamburg bis dahin nicht weiter angegriffen wird. Als Wolz davon hört, befiehlt er seinen Truppen, „Feindberührung“ zu vermeiden. Es gelingt ihm, in den frühen Morgenstunden des 2. Mai Einheiten der Waffen-SS von der Front abzuziehen. Er fürchtet, die unberechenbaren Nazis könnten auf eigene Rechnung weiterkämpfen – zumal Dönitz den Kampf weiter einfordert.

Durch ein Versehen wird am Vormittag im Schaufenster der „Hamburger Zeitung“ am Gänsemarkt der Aufruf von Kaufmann ausgehängt, in dem dieser erklärt, er werde kapitulieren. Ein Aufruf, der erst viel später hatte veröffentlicht werden sollen. Nach längerem Hin und Her ändert Dönitz seine Meinung schließlich und befiehlt die kampflose Räumung Hamburgs. Als Zeitpunkt der Übergabe wird der 3. Mai, 13 Uhr, festgelegt. Am Abend des 2. Mai reist Kampfkommandant Alwin Wolz mit Altbürgermeister Burchard-Motz und zwei Soldaten nach Meckelfeld.

Dort verspricht Wolz, dass in Hamburg am 3. Mai in der Zeit zwischen 13 und 19 Uhr – dem Einmarsch der Briten – eine Ausgangssperre verhängt wird. Außerdem sollen auf den drei geplanten Vormarschstraßen der englischen Truppen alle Minen und Pioniersprengladungen an den Elbbrücken beseitigt werden. Gauleiter Kaufmann und Bürgermeister Carl Vincent Krogmann sollen dem britischen Brigadegeneral Spurling im Rathaus offiziell die Stadt übergeben. Es dauert aber, bis die Kapitulationsurkunde unterzeichnet werden kann – so verschiebt sich der Einmarsch auf 18 Uhr.

Mischung aus Vernunft und Wahnsinn

Gegen 17 Uhr trifft der Kampfkommandant am Hamburger Rathaus ein. Die Stadt wirkt wie ausgestorben. Der Rundfunk vermeldete den Tag über in 15-minütigem Abstand, der Einmarsch der englischen Truppen stehe bevor. Zeitzeuge Rieper, der erst wenige Tage zuvor den Volksempfänger bekommen hatte, erinnert sich: „Die erste erfreuliche Meldung aus dem Kasten: Hamburg hat kapituliert, der Krieg ist aus. Kein Fliegeralarm mehr, kein Bunkergehen, keine Angst mehr vor Bomben. Es war eine Erlösung für alle.“

Zudem wurde eine Bekanntmachung veröffentlicht, die erste Anweisungen der britischen Besatzungstruppen enthielt. Demnach gilt seit 13 Uhr eine Ausgangssperre, ein Verkehrsverbot sogar schon seit 12 Uhr.

Kaufmann wendet sich an die Bevölkerung mit einer Mischung aus Vernunft und Wahnsinn, garniert mit dem Pathos dieser Zeit: „Hamburger! Nach heldenhaftem Kampf, nach unermüdlicher Arbeit für den deutschen Sieg und unter grenzenlosen Opfern ist unser Volk dem an Zahl und Material überlegenen Feind ehrenvoll unterlegen. Der Feind schickt sich an, das Reich zu besetzen, und steht vor den Toren unserer Stadt. Verbände der Wehrmacht und des Volkssturms haben sich gegenüber dem vielfach überlegenen Gegner vor unserer Stadt tapfer geschlagen. Unerschütterlich haben die Hamburger an der Front und in der Heimat ihre Pflicht erfüllt; zäh und unerschüttert nahmt Ihr auf Euch, was der Krieg von Euch forderte. Der Feind schickt sich an, Hamburg an der Erde und aus der Luft mit seiner ungeheuren Übermacht anzugreifen. Für die Stadt und ihre Menschen, für Hunderttausende von Frauen und Kindern bedeutet dies Tod und Zerstörung der letzten Existenzmöglichkeiten. Das Schicksal des Krieges kann nicht mehr gewendet werden; der Kampf aber in der Stadt bedeutet ihre sinnlose restlose Vernichtung.“

Seine Zerrissenheit wird in der Erklärung deutlich: „Wem die soldatische Ehre gebietet, weiterzukämpfen, hat hierzu Gelegenheit außerhalb der Stadt. Mir aber gebietet Herz und Gewissen, in klarer Erkenntnis der Verhältnisse und im Bewusstsein meiner Verantwortung, unser Hamburg, seine Frauen und Kinder vor sinn- und verantwortungsloser Vernichtung zu bewahren. Ich weiß, was ich hiermit auf mich nehme. Das Urteil über meinen Entschluss überlasse ich getrost der Geschichte und Euch.“

Gegen 15.45 Uhr sind die Briten marschbereit

Die Geschichte war Karl Kaufmann gnädig. Zweifellos war er Antisemit – schon vor den ersten Deportationen schlug er Hitler vor, „die Juden evakuieren zu lassen“, um ihre Wohnungen Bombenopfern zur Verfügung stellen zu können. Obwohl Kaufmann als Gauleiter die „politische Verantwortung“ für zahlreiche Untaten trug – etwa die Verbrechen im KZ Neuengamme mit seinen mindestens 50.000 Toten –, wurde er nie verurteilt. Am Neuengamme-Hauptprozess nahm Kaufmann wie auch an den Nürnberger Prozessen nur als Zeuge teil. Auch danach setze er sich nie konsequent vom Nationalsozialismus ab. So schloss er sich nach dem Krieg einer rechtsradikalen Bruderschaft aus ehemaligen NS-Aktivisten und Offizieren an und versuchte noch 1953, mit anderen Rechtsradikalen die Parteien Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten, die rechte Deutsche Partei und die damals eher nationalkonservative FDP zu unterwandern.

Mehrfach wurde der spätere Versicherungskaufmann festgenommen, verurteilt aber nie, auch wegen seiner schlechten Gesundheit nach einem Autounfall. Kaufmann lebte bis zum Tod am 4. Dezember 1969 als gut situierter Bürger in Hamburg. Eine halbe Zeitungsseite Todesanzeigen im Abendblatt am 6. Dezember spricht Bände. „Wir haben ihn sehr verehrt. Für uns bleibt er eine lebendige Verpflichtung des guten Wollens“, heißt es dort. Oder: „Sein Leben war Sorge und Arbeit für seine Familie und Mitmenschen.“ Oder: „Bis zur letzten Stunde war es uns allen ein stets besorgter väterlicher Freund und Helfer.“ Deutlich reservierter fiel der Nachruf der Redaktion aus – ein kurzer Zweispalter mit dem Satz: „Im April 1945 hatte er durch Geheimverhandlungen mit den Alliierten die ,totale Verteidigung der Festung Hamburg‘ verhindert.“

Die Übergabe läuft fast gespenstisch reibungslos ab

Das ist nicht falsch. Die Übergabe läuft angesichts der schwierigen Verhandlungen dann aber fast gespenstisch reibungslos ab. Die damals fast neunjährige Hannelore Bartos spielt bei einem Nachbarsmädchen in Eimsbüttel, als ihre Mutter aufgeregt zu ihr kommt. „Hannelore, geh nach Hause, der Krieg ist aus.“ Durch die Panzersperre in der Eichenstraße gehen sie zurück. „Es war so schönes Wetter, ich guckte in den Himmel und sagte leise zu mir: ,Gott sei Dank, nun fallen keine Bomben mehr herunter.‘“

Weiße Fahnen sind nirgends in der Stadt zu sehen, die Menschen ziehen sich in ihre Wohnungen zurück und warten ab. Die Sorge, versprengte SS-Truppen oder uneinsichtige Reste des Volkssturms könnten die Engländer in Straßenkämpfe verwickeln, stellt sich rasch als unbegründet heraus. Auch für die Engländer ist der Einmarsch in die Millionenstadt etwas Besonderes. Alle wichtigen Stationierungspunkte werden genau festgelegt. Die Offiziere achten auf die Sauberkeit und den korrekten Sitz der Uniformen und geben Anweisungen für richtiges Verhalten. „The Germans respect a smart soldier“, heißt es zur Begründung.

Zu dieser Stunde sind die deutschen Truppen längt abgezogen. „Auf der Langenhorner Chaussee sah ich fliehende Wehrmachtruppen mit weißen Fahnen an ihren Fahrzeugen“, erinnert sich Abendblatt-Leser Klaus Lindhorst. „Wenige Stunden später kamen kettenrasselnde britische Panzer mit Grenadieren, die uns keines Blickes würdigten.“

Tod von Hunderttausenden Frauen und Kindern verhindern

Gegen 15.45 Uhr werden die englischen Truppen in Marschbereitschaft versetzt. Um 16.13 Uhr ertönt das Codewort „Baltic“ – der Befehl zum Einmarsch. In drei Marschsäulen – aus Richtung Buxtehude, von Nenndorf über Tötensen und aus Richtung Hittfeld – setzen sich die Panzer der 7. Britischen Panzerdivision in Bewegung. Vor den Elbbrücken treffen die drei Stränge auf­einander. Über den Heidenkampsweg, die Große Allee (die heutige Adenauerallee) und die Mönckebergstraße geht es weiter in Richtung Rathausmarkt. Alle 50 Meter steht ein deutscher Polizist.

Der erste englische Offizier, Colonel Weinmann, trifft kurz vor 18 Uhr am Rathausmarkt ein. Kampfkommandant Alwin Wolz und seine Offiziere warten schon, doch es entsteht eine eigenartige Situation, weil Weinmann in aller Ruhe damit beginnt, einige Tauben auf dem Rathausmarkt zu füttern. Auf den Hinweis, Generalmajor Wolz wünsche die Stadt Hamburg zu übergeben, lautet die Antwort, er müsse auf Brigadegeneral Spurling warten.

Dieser trifft 18.25 Uhr ein, und Wolz übergibt ihm am Eingangsportal militärisch die Stadt. Im Bürgermeistersaal warten Gauleiter Kaufmann und Bürgermeister Vincent Krogmann. Nach einem kurzen Handschlag erklärt Kaufmann, die kampflose Übergabe der Stadt solle den Tod von Hunderttausenden Frauen und Kindern verhindern. Es ist kurz vor 19 Uhr, als Kaufmann den englischen Brigadegeneral informiert, dass für ihn und seine Begleitung ein Abendessen im Hotel Atlantic vorbereitet sei.

Hamburg ist der totalen Zerstörung entgangen

Die Stadt Hamburg ist durch die kampflose Übergabe ihrer totalen Zerstörung entgangen. Viele Menschenleben konnten dadurch gerettet werden. Wie das von Herbert Schmidt, noch keine 16 Jahre alt. Er musste in den letzten Kriegstagen als Hitlerjunge mit dem Volkssturm noch in den Kampf ziehen. Mit der Ausrede, Zigaretten holen zu wollen, entfernte er sich beim Rückzug am Berliner Tor von seinem Armeetrupp, stieg in die noch fahrende S-Bahn bis Barmbek und weiter nach Farmsen. „Dort verdrückte ich mich über die U-Bahn-Gleise bis hinter unseren Garten. Ich schwang mich über Zaun und Hecke und stand zu Hause bei meinen Eltern auf dem Hof“, schreibt er dem Abendblatt.

„Mein Vater war perplex, als er mich erblickte, und fragte: ,Jung, wo kömmst du denn her? Wenn du keene Papiere hesst, hang se di up.‘ Er meinte damit die Militärpolizei, die Deserteure standrechtlich hinrichtete. Mein Vater steckte mich in den Hauskeller mit der Maßgabe: ,Lot di hier buten nich seen, de scheet di dot!‘“ Schmidt blieb bis zum 3. Mai 1945 im Keller. „Als ich die Meldung über die Kapitulation hörte, bin ich wie ein geölter Blitz, in Zivil, mit dem Fahrrad ins Farmsener Einwohnermeldeamt gesaust, habe mich dort polizeilich zurückgemeldet. Ordnung muss sein.“

Man sagt wieder „Guten Tag“, nicht mehr „Heil Hitler“

Es ist im wahrsten Sinne des Wortes für die Stadt und ihre Bewohner eine Stunde Null: Sie wissen nicht, was kommen wird, das Gefühl der Niederlage weicht rasch der Wahrnehmung der Befreiung. „Für das ganze Stadtgebiet war ein curfew, eine strikte Ausgangssperre, verfügt worden. Straßen und Plätze waren leer, frei von Menschen, und die Panzerfahrzeuge der Briten rollten an diesem und dem nächsten Tage unbehelligt durch Hamburgs Stadtteile“, erinnert sich der Zeitzeuge Gerd le Bell.

„Meine Mutter, meine große 17-jährige Schwester Inge und ich warteten in Furcht gespannt und angestrengt hinter den Gardinen. Meine kleine Schwester Hannelore, der noch nicht ganz einjährige Nachkömmling, spielte indes in eigener Welt unbeeindruckt auf dem Fußboden. Draußen war alles still, die Frühlingssonne kam heraus, als wir die ersten Motorengeräusche hörten: Unsere – meine – Feinde kamen. Wir öffneten einen Fensterflügel ein wenig, um besser hören zu können, obwohl dies streng untersagt war.“

Lesen Sie hier den zweiten Teil der Serie

Lesen Sie hier den ersten Teil der Serie

Schnell stellen die Menschen fest, dass die Besatzer keine Feinde sind – sondern Menschen wie sie. In wenigen Stunden werden Erinnerungen an den Nationalsozialismus in den Gärten vergraben, in Wäldern entsorgt oder in Öfen verfeuert. Über Nacht verwandeln sich viele äußerlich vom überzeugten Nazi zum Nazigegner. Wer gestern noch lautstark „Heil Hitler“ grüßte, wünscht plötzlich wieder einen „Guten Tag“. Gerade den jungen Menschen aber gelingt es, ihren Hass und ihre Verblendung abzustreifen wie ein altes Kleid. „Der Krieg war vorüber“, sagt le Bell. „Das Land lag danieder. Es begann die neue, friedliche, aber schwere Nachkriegszeit.“

(Mitarbeit: Oliver Schirg)

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„Hamburg. Krieg und Nachkrieg“ (Junius Verlag, 288 Seiten, 250 Abbildungen, 49,90 Euro), erhältlich in der Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, Mo–Fr 12–17 Uhr, oder zu bestellen unter abendblatt.de/shop oder Tel. 554 47 29 20 (Mo–Fr 9–19 Uhr, Sa 10–16 Uhr).