Hamburg. Mit Hermann Reichenspurner startet einer der bekanntesten Herzchirurgen Deutschlands einen Aufruf. Sonst fehle es bald an Personal.

Wenn Pflegekräfte nicht schnell besser bezahlt werden würden, könnten irgendwann nur noch die Hälfte der vorhandenen Betten in Krankenhäusern belegt werden, sagt Hermann Reichenspurner, Herzchirurg am Universitätsklinikum Eppendorf und einer der bekanntesten Ärzte Hamburgs.

Lieber Herr Reichenspurner, sie fordern schon seit langem eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte in Krankenhäusern – meinen Sie, dass sie jetzt endlich gehört werden?

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Ich denke schon. Wenn diese Coronakrise etwas Positives an sich hat, dann ist es die Wertschätzung der Pflegekräfte, die sich um die Patienten im Moment kümmern. Wer die Bilder von den Menschen in der Schutzkleidung, hinter Plexiglas und Atemschutzmasken sieht, dem wird spätestens jetzt klar, wie herausfordernd schwierig diese Arbeit ist. Wir Ärzte kennen diese Schutzkleidung ja aus dem Operationssaal. Nur machen die Pfleger ganz andere Tätigkeiten, die müssen Patienten waschen, hochheben, umbetten. Ich habe heute mitbekommen, wie ein 120 Kilogramm schwerer Mann vom Bett auf einen Stuhl gebracht werden musste. Das ist körperliche Schwerstarbeit, und die muss endlich, endlich angemessen bezahlt werden.

Bisher hieß es immer: das ist Sache der Tarifparteien – aber die konnten sich nicht zu deutlichen Steigerungen der Gehälter durchringen, warum nicht?

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Irgendwie sind die Verhandlungen so eingefahren, dass man immer über gestiegene Lebenshaltungskosten und Einmalzahlungen, aber nie über den großen Sprung gesprochen hat, der nötig ist. Es ist nicht zu verantworten, dass Personen, die einen so schwierigen und verantwortungsvollen Job machen und die sich keine Fehler erlauben dürfen, mit 2300 bis 2800 Euro im Monat brutto nach Hause gehen. Und dass in einer Metropolregion wie Hamburg, in der man selbst für eine mittelmäßige Wohnung gern mal eine Miete von 1000 Euro zahlt. Das kann ich nicht funktionieren.

Was ist eine angemessene Bezahlung?

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Ich habe lange in den USA gearbeitet, wo das Vergütungssystem deutlich besser ist als bei uns. Eine Pflegekraft auf einer Intensivstation verdient dort das Doppelte. Nun sind die amerikanischen Verhältnisse mit den unsrigen nicht zu vergleichen. Aber Professor Göke, der Chef des UKE, und ich denken, dass Minimum ein Plus von 30 Prozent für die Pflegekräfte gerechtfertigt wäre.

Das hieße aber auch, dass die Behandlung in Krankenhäusern oder Altenheimen teurer wird und die Krankenkassenbeiträge steigen.

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Das ist völlig richtig. Aber wenn man das auf den einzelnen Versicherten runterrechnet, ist es verschmerzbar. Und es geht ja nicht nur um die Situation, die wir gerade erleben, das ist eine Notlage. Grundsätzlich haben wir aber eine große Zahl gerade junger Pflegekräfte, die den Beruf wieder verlassen, weil sie zu wenig verdienen. Da sehen wir Mediziner ein großes Problem für die Zukunft. Wir wollen verhindern, dass wir irgendwann 50 Prozent der Betten nicht mehr belegen können, weil wir schlicht kein Pflegepersonal dafür haben. Dann bräuchten wir in einer Pandemie wie der jetzigen nicht über eine Erweiterung der Intensivkapazitäten zu sprechen, weil wir niemand hätten, der sie bepflegt.

Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen

  • Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Hände waschen
  • Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
  • Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
  • Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten
  • Schutzmasken und Desinfektionsmittel können helfen – aber umgekehrt auch zu Nachlässigkeit in wichtigeren Bereichen führen

Ist die Bezahlung denn das Hauptkriterium, wenn sich junge Leute entscheiden, den Pflegeberuf zu ergreifen? Es gibt doch auch viele, das wegen der körperlichen und mentalen Belastungen grundsätzlich nicht tun würden.

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Deshalb müssen wir den Beruf attraktiver machen. Das geht einmal, in dem man die Arbeitsbedingungen verbessert. In diesem Bereich hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan, Stichwort Personaluntergrenzen. Aber genauso wichtig ist die bessere Bezahlung. Es gibt nämlich ganz viele Menschen, die grundsätzlich bereit wären, den Pflegeberuf zu ergreifen, weil sie Menschen helfen wollen. Das war auch die Hauptmotivation für mich, Arzt zu werden. Wir können in Deutschland dankbar sein, dass es so viele Menschen gibt, die helfen wollen. Und das mindeste, was wir tun können, ist sie adäquat zu bezahlen.

Was wir auch tun müssen, ist, medizinische wichtige Güter wie Schutzmasken wieder in Deutschland zu produzieren, auch, wenn das teurer ist?

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Ich glaube, viele Firmen haben das spätestens jetzt begriffen. Es geht nicht nur darum, dass wir die besten Autos produzieren, sondern auch, dass wir Produkte für das tägliche Leben wie eben Schutzkleidung herstellen. Natürlich wird das etwas teurer werden, aber auch das müssen wir uns leisten können und wollen. Es ist ein riesiges Problem, dass wir bei Schutzkleidung so abhängig von China sind.

Viele Ärzte, die sich nicht mit Corona beschäftigen, berichten davon, dass sie kaum etwas zu tun haben. Wie ist das bei Ihnen? Und wie gefährlich ist es, dass deutlich weniger Menschen zum Arzt gehen?

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Wir haben einen hohen Anteil von dringlichen Patienten und Notfallpatienten, die wir natürlich weiterhin versorgen müssen. Wir sind angehalten worden, verschiebbare Behandlungen zu verschieben, und das haben wir auch gemacht. Aber 60 Prozent unserer Operationen kann man nicht verschieben. Es ist übrigens sehr gefährlich, dass sich Patienten im Moment nicht in die Kliniken oder Praxen trauen. Denn natürlich machen andere Krankheiten keine Pause. Wir müssen extrem aufpassen, dass wir Patienten nicht wegen anderer Erkrankungen als Corona verlieren, weil sie zu Haus bleiben.

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Wie bewerten Sie das medizinische Krisenmanagement in Hamburg?

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Im Vergleich mit anderen Bundesländern gewinnt man den Eindruck, dass in Hamburg ein sehr guter Job gemacht wird. Allein am UKE haben wir die Intensivkapazitäten von 120 auf mehr als 190 Betten angehoben. Ich kann nur sagen, dass wir in Hamburg extrem gut gerüstet sind, selbst wenn noch eine größere Erkrankungswelle kommen sollte. Es zahlt sich aus, dass wir gut vorbereitet sind. Wir haben schon vor fünf Wochen den Bestand unserer Herz-Lungen-Maschinen um 50 Prozent erhöht.

Sie haben erwähnt, dass Sie eine Zeit in den USA gearbeitet haben. Warum hat die dortige Medizinwirtschaft, die als die beste der Welt gilt, so große Schwierigkeiten, das Virus einzudämmen?

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: In den USA gibt es ein Zweiklassen-Gesundheitssystem. Da sind zum einen Kliniken, die zu den besten der Welt gehören, wie Harvard oder Stanford. Aber die können nur zehn Prozent der Bevölkerung versorgen. Die anderen 90 Prozent werden von Kliniken versorgt, von denen Sie oder ich niemals etwas gehört haben. Das ist das Problem: Die Versorgung in vielen dieser peripheren Krankenhäuser und deren Ausstattung sind suboptimal. Das rächt sich in solchen Situationen extrem.

Wie verfolgen Sie als Hochleistungsmediziner die Diskussion zwischen den Virologen, die sich zum Teil untereinander widersprechen, oder auch heute das und morgen jenes sagen?

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Diese Problematik entsteht allein dadurch, dass wir über Corona bisher nur wenige Fakten haben. Ich habe deshalb hohen Respekt vor den Kollegen, die anhand der wenige Dinge, die man über das Virus weiß, Schlussfolgerungen ziehen können. Wenn jemand falsch liegt, kann man ihm das nicht übelnehmen. Und dass es unterschiedliche Meinungen gibt, ist gut so. Wer Recht gehabt hat, wissen wir erst, wenn die erste große Welle vorbei ist.

Wie lange kann man die aktuellen Maßnahmen aufrechterhalten?

Prof. Dr. Dr. Reichenspurner: Man muss den Zeitraum so kurz wie möglich halten, insbesondere die soziale Deprivation, damit die Folgen dieser Maßnahmen nicht schlimmer werden als das Virus selbst.