Hamburg. In diesem Teil der Serie: Ida Dehmel. Sie stellte ihr Leben in den Dienst ihres Mannes Richard. 1942 wählt die Jüdin den Freitod.
Die Tablette trägt sie immer bei sich. Wenn sie kommen, wird sie sie einnehmen, ohnehin hat sie Sehnsucht nach dem Tod – zusehen zu müssen, dass immer mehr Freunde „geholt“ werden, die Anfeindungen erleben zu müssen, das macht so traurig, so einsam, so müde. Und ihre Liebsten, die hat sie ohnehin längst verloren. Ihr Mann ist tot, ihr Sohn gefallen, ihre Freunde deportiert oder im Exil. Am Ende, 1942, nimmt sie die Tablette tatsächlich. Nicht, weil sie deportiert werden soll, davor schützt sie ihr einflussreicher Freund Peter Suhrkamp, sondern weil sie sich unheilbar krank wähnt. Und unheilbar krank ist vielleicht auch wirklich ihr Herz: Ida Dehmel ist am Ende ihres Lebens einfach nur verzweifelt – ein Leben, das die Hamburger Kulturwissenschaftlerin Carolin Vogel sehr berührt hat.
Es war purer Zufall, dass Carolin Vogel auf Ida Dehmel aufmerksam wurde. Sie war hinzugerufen worden, als das Dehmelhaus in Blankenese saniert werden sollte. Ihre Aufgabe: das Haus aus kulturhistorischer Sicht zu sichern. Carolin Vogel betrat das Gebäude und stand auf einmal vor einem Schreibtisch mit einem Foto. Das Foto einer schönen Frau: Ida Dehmel. „Von diesem Ort, ihrem Schreibtisch, ging ein ganz besonderer Zauber aus“, sagt sie. „Ida Dehmel hat mich vom ersten Augenblick an fasziniert.“ Sie begann zu recherchieren, stieg immer tiefer in das Leben Ida Dehmels ein, es wurde eine Doktorarbeit daraus.
Schon früh Interesse an Literatur und Musik
Ida wächst als eines von fünf Kindern in einem wohlhabenden Elternhaus auf. Schon bald zeigt sie Interesse an Literatur und Musik, 1895 beugt sie sich dem Wunsch ihres Vaters und heiratet den Berliner Kaufmann Leopold Auerbach, noch im gleichen Jahr kommt ihr Sohn Heinz-Lux zur Welt, und Ida hat eine schicksalhafte Begegnung: Sie lernt Richard Dehmel, zu seinen Lebzeiten einer der bekanntesten Dichter, kennen und verliebt sich in den verheirateten Mann. Richard erwidert ihre Gefühle, brennt mit ihr durch, beide lassen sich scheiden.
Irgendwann hegen die Dehmels den Wunsch, gemeinsam sesshaft zu werden, und entscheiden sich für Blankenese, das Paar zieht zunächst in eine Mietwohnung – die es zum Gesamtkunstwerk zu machen versteht. Nicht nur deshalb fallen die beiden auf, sondern auch wegen Idas Kleiderwahl, sie bevorzugt nämlich Reformkleider. „Sie wirkten in dieser traditionsreichen Gegend schon wie zwei ziemlich schräge Vögel“, merkt Carolin Vogel an.
Ihr Sohn fällt 1917 in Frankreich
Das Ehepaar schart schnell eine große Gruppe von Künstlern um sich, bringt ein Stück Avantgarde in die eher konservative Hamburger Umgebung. Ab 1906 engagiert Ida Dehmel sich für den Hamburger Frauenklub, ab 1911 ist sie Vorsitzende des Bezirksvereins Hamburg-Altona des Norddeutschen Verbands für Frauenstimmrecht. Ein Jahr später ziehen die Dehmels um – in ein von Richard Dehmel mitgestaltetes Haus in Blankenese. Das Haus hat Richard Dehmel zu seinem 50. Geburtstag bekommen: „Freunde und Verehrer schenkten es ihm“, sagt die Kulturwissenschaftlerin.
Im Ersten Weltkrieg engagiert sich Ida Dehmel an der Heimatfront und in der Hinterbliebenenhilfe und gründet 1916 mit Rosa Schapire den Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst. Und dann verliert ihr Leben sein Leuchten, seine Leichtigkeit und Ida Dehmel ihre Freude: Ihr Sohn fällt 1917 in Frankreich, 1920 stirbt Richard Dehmel. Doch sie versucht, sich von ihrer Trauer abzulenken. „Ab sofort hat sie all ihre Energie darauf verwendet, sein Andenken zu bewahren und das Haus zu einer Richard-Dehmel-Gedächtnisstätte zu machen“, sagt Vogel, gründet die Dehmel-Stiftung und die Dehmel-Gesellschaft. 1926 ruft sie den Künstlerinnenverband GEDOK (Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen) ins Leben.
Das könnte Sie auch interessieren:
- Bertha Keyser: Der Engel von St. Pauli
- Abelke Bleken – qualvoller Tod auf dem Scheiterhaufen
- Die Frau, die Pippi Langstrumpf nach Hamburg holte
- Hamburgs starke Frauen: Domenica – St. Paulis großes Herz
All das ist Anfang der 1930er-Jahre vorbei: „Ida Dehmel hat die Auswirkungen des Nationalsozialismus aufgrund ihrer jüdischen Abstammung sehr früh zu spüren bekommen“, erläutert Vogel. Sie erhält ein Publikationsverbot, ist Anfeindungen ausgesetzt und muss erleben, dass einstige Freunde die Straßenseite wechseln, wenn sie ihr begegnen. Es wird einsam um sie. Werke vertrauter Schriftsteller und Maler werden verboten, viele ihrer Freunde gehen ins Exil.
Ida Dehmel will sterben, zumal sie, es ist 1939, an gesundheitlichen Problemen leidet. Jetzt steckt sie die Tablette ein, die sie in Zukunft immer bei sich tragen wird. „Sie wusste ganz genau, was mit den Juden passiert, die ‚geholt‘ werden“, sagt Carolin Vogel. „Sie war im besten Sinne des Wortes unbeugsam, aber sie hat gelitten unter der Einsamkeit und daran, dass sie nichts tun konnte, sondern zuschauen musste, wenn ihre Freundinnen aus ihren Wohnungen geschleppt werden.“
Die Todessehnsucht bleibt, denn Ida Dehmel wähnt sich unheilbar krank. 1942 setzt sie ihrem Leben mit einer Überdosis Veronal ein Ende. Sie stirbt am Ort ihrer Liebe, über die Carolin Vogel sagt: „Ida war nicht nur Richard Dehmels Frau, sondern auch das Ziel seiner literarischen Anbetung.“