Hamburg. In diesem Teil der Abendblatt-Serie: Eine Frau, die sich vor 100 Jahren der Versorgung und Betreuung Obdachloser widmete.
Sie war in England bei der Heilsarmee, Reisebegleiterin in Amerika, Gesellschafterin bei einer Gräfin in Paris und Gefängniswärterin: Bertha Keyser hat ein ausgesprochen abwechslungsreiches Leben hinter sich. Ein Leben, das sie den Armen widmete. Deswegen nannte man sie den „Engel von St. Pauli“. Und deshalb, sagt Helma Strunk, sei bei ihrer Beerdigung „ganz Hamburg hinter ihrem Sarg hergegangen“. Gemeinsam mit Ina von Kriegsheim hat sie einen Aufsatz über Bertha Keyser geschrieben, ihre Autoren-Kollegin ergänzt: „Bertha war eine kleine, zierliche Person, aber ungemein zäh und immer konsequent.“
Bertha Keyser hätte es viel bequemer haben können: Dann zum Beispiel, wenn sie in den Diensten ihrer französischen Gräfin geblieben wäre. Aber genau das will die junge Frau eben nicht. Sie schreibt in ihren Memoiren: „Das reiche, satte Leben bei meinem Duc bekam mir nicht. Und zum Entsetzen aller ging ich zu den Armen und wurde später Gefängniswärterin in einem Pariser Frauengefängnis.“ Bei den Armen wird sie bleiben, sich um sie kümmern, für sie sorgen, weiß sie doch aus eigener Erfahrung, wie es ist, nicht viel zu haben: Der Vater stirbt früh, sie muss Geld verdienen, um die Mutter und die jüngeren Geschwister zu ernähren – und viele Jobs annehmen, die sie eben auch ins Ausland führen.
Bertha Keyser kämpft für die Rechte ihrer Schützlinge
Wenn es um die Rechte ihrer Schützlinge geht, ist Bertha Keyser durchaus streitbar. „Fand sie etwas ungerecht, dann sagte sie das sehr deutlich und handelte sehr konsequent“, unterstreicht Helma Strunk: „Ihr Engagement, das auf eine tiefe persönliche Zuneigung zu verarmten, kranken und auch kriminellen Menschen setzte, wurde an verschiedensten Stationen ihres Wirkens als unbequem empfunden. So kam es immer wieder zu Konflikten zwischen ihr und den Leitungsinstanzen, die ihre Kündigung provozierten.“
Bevor sie nach Deutschland zurückkommt, macht sie in England bei der Heilsarmee Station. Dann besucht sie, inzwischen 40 Jahre alt, eine Bibelschule in Berlin, kurz vor dem Ersten Weltkrieg kommt sie nach Hamburg. Hier gründet sie mithilfe von Spendenmitteln in einer Wohnung eine Mission für verwahrloste Kinder mit dem Namen „Mission unter der Straßenjugend“. Der Zulauf ist enorm, deshalb muss sie bald nach St. Pauli umziehen – und es soll nicht der einzige Umzug bleiben. „Sie musste häufig den Ort wechseln“, sagt Ina von Kriegsheim.
Mehr als eine halbe Million Mahlzeiten
„Der Hauptgrund dafür war, dass sich die Anwohner immer wieder über den regen Betrieb in der Nachbarschaft ärgerten und sich daran störten, dass sich die Ärmsten der Armen dort aufhalten.“ Die Zeiten jedoch sind für alle hart, nicht nur für die Armen: Die Hungersnot nach dem Krieg ist groß, Bertha Keyser beschließt, unterstützt und angeregt von der St.-Michaelis-Kirche, Abhilfe zu schaffen. „Im Grunde hat sie die erste Tafel gegründet“, bringt es Helma Strunk auf den Punkt. Die Menschen kommen in Scharen: „Mit 30 Mahlzeiten pro Tag fing sie an, am Ende waren es 600“, ergänzt Ina von Kriegsheim.
Unermüdlich ist Bertha Keyser an den drei ausrangierten Gulaschkanonen der Stadt Hamburg im Einsatz, in den Jahren 1925 bis 1927 gibt sie insgesamt mehr als eine halbe Million Mahlzeiten aus. „Zu erkennen war sie an ihrer Schwesterntracht, die für sie so typisch werden sollte“, bemerkt Ina von Kriegsheim. Und auch für jene, die kein Dach über dem Kopf haben, will sie etwas tun: In dieser Zeit, 1927, gründet sie an der Winkelstraße auch das Frauenobdachlosenheim „Fels des Heils“. Es folgen Arbeiterwohnheime und ein Obdachlosenhaus für Männer.
Und dann kommt das Dritte Reich und damit ein Kapitel im Leben Bertha Keysers, das einen Schatten auf diesen „Engel von St. Pauli“ wirft und auch verwundert – bei einem Menschen, der immer an andere dachte und stark sozial geprägt war: Keyser sympathisierte mit dem aufkommenden Nationalsozialismus. Er sei für sie „ein willkommenes ideologisches Instrument gegen den Kommunismus und für den Kampf gegen sittliche und soziale Notstände“ gewesen. Helma Strunk meint: „Sie fand es gut, dass die Nazis die Familie in den Vordergrund stellten, den Rest hat sie, glaube ich, gar nicht durchschaut.“
Der Text ist ein Auszug aus „Hamburger Frauen – historische Lebensbilder aus der Stadt an der Elbe“ von Eva-Maria Bast, 192 Seiten, 16,90 Euro. Erhältlich im Buchhandel, beim Abendblatt auf abendblatt.de/shop oder telefonisch unter 040/333 66 999. Abendblatt-Abonnenten erhalten das Buch für 14,50 Euro auf abendblatt.de/shop oder telefonisch unter 040/333 66 999.