Hamburg. Norddeutschlands bekannteste Karaokebar ist Kult auf dem Kiez. Warum die Wandsbekerin Petra hier jeden Abend singt.

Jay drückt den Rücken durch, verzieht raubtierartig sein Gesicht und grölt aus Leibeskräften mit, als wäre das vor ihm auf der Bühne tatsächlich Freddie Mercury, der „Don’t Stop Me Now“ singt. Dabei erinnern sowohl Melodie als auch Text im Grunde nur fragmenthaft an das Original. Aber er und seine Kumpels aus Liverpool, mit denen er heute Junggesellenabschied auf dem Kiez feiert, haben entweder schon so viel getrunken, dass sie das nicht stört, oder es stört sie einfach wirklich nicht.

Letzteres ist die wahrscheinlichere Variante. Im Grunde aber auch egal. Die Thai Oase hat ohnehin kein Gedächtnis. Ist das eine Lied vorbei, kommt das nächste. Wer interessiert sich da noch für den vermasselten Auftritt von vor zehn Minuten?

Thai Oase – eine Mischung aus Partykeller und American Diner

Genau: niemand. Und schon gar nicht Den. Den ist der Chef der Thai Oase. Was klingt wie ein zwielichtiger Saunaclub ist Norddeutschlands bekannteste Karaokebar, eine Mischung aus Partykeller und American Diner mit eigener Showbühne. Wer an das Mikro darf, bestimmt der Chef selbst, oder besser gesagt, der Stapel mit den Wunschzetteln, die die Gäste bei Den abgeben.

Wie ein Buddha sitzt der stämmiger Asiate direkt unter dem Teleprompter, auf dem die Sänger ihren Text finden. Seit mehr als 20 Jahren macht er das, unter der Woche nicht selten bis 6.30 Uhr. Nacht für Nacht die Liedwünsche der Gäste entgegennehmen. Ob er sich auch mal auf bestimmte Lieder freue? Schulterzucken. Ob es welche gibt, die er nicht mehr hören kann? „O ja, ,Wonderwall‘ von Oasis und ,Angels‘ von Robbie Williams.“

Die Thai Oase an der Großen Freiheit auf St. Pauli.
Die Thai Oase an der Großen Freiheit auf St. Pauli. © Marcelo Hernandez

Der Abend ist noch jung, als der Stapel mit den Liedwünschen so hoch ist wie eine Kaffeetasse. „Es kann bis zu 2,5 Stunden dauern, bis man drankommt“, sagt Den und ruft den nächsten Titel aus. Den sagt, er wisse inzwischen noch vor dem ersten Ton, ob jemand singen kann oder nicht.

Kein Platz in Petras Leben für eine professionelle Gesangskarriere

Bei der Frau, die jetzt die Bühne betritt, weiß er es aber so oder so. Die Mittfünfzigerin mit den kurzen blonden Haaren heißt Petra und ist so etwas wie die Tina Turner der Thai Oase. Wenn sie singt, dann verstummt die grölende Masse für einen Moment. Nur hier und da ist zu hören, wie sich die Leute in die Ohren brüllen: „Die kann’s ja richtig.“

Ja, Petra kann’s richtig. Und sie weiß es auch. Deshalb ist sie hier. Und zwar jeden Tag bis auf Montag. Und dass sie montags nicht hier ist, liegt nur daran, dass die Thai Oase montags geschlossen hat. Petra führt gewissermaßen zwei Leben. Eins, in dem sie in einer Wohnung in Wandsbek lebt, Mutter zweier erwachsener Kinder ist und halbtags als kaufmännische Angestellte arbeitet, und eins, in dem sie ein Star ist. Petra ist meist pünktlich zur Ladenöffnung gegen 21 Uhr da, bestellt ein Wasser und wählt die Songs aus, die sie an diesem Abend singen möchte. Meist Hits von Tina Turner.

Petra, die auch schon bei mehreren TV-Casting-Shows teilgenommen hat, hätte gerne mehr aus ihrem Talent gemacht. Aber das Leben hatte genügend andere „Challenges“ (Herausforderungen) für sie bereit, die teilweise so groß waren, dass für eine professionelle Gesangskarriere kein Platz mehr war.

Diverse Popstars waren schon zu Gast

Vor einigen Jahren hat sie sich den Raum für sich zurückerobert. „Es sind so traurige Dinge passiert, dass ich mir irgendwann gesagt habe, dass ich einen Ausgleich brauche.“ Während Petra noch „Rolling On The River“ zu Ende singt, blättert Den durch seinen Liedwunschstapel.

Er hat alles schon gehört. Schlagersingende Junggesellenabschiede, Leute, die eine Wette verloren haben und „I Will Always Love You“ singen müssen, welche, die glauben, dass sie die besten Sänger aller Zeiten sind, und solche, die es auch wirklich sind. Auch diverse Popstars standen schon auf der Minibühne unter dem neongrünen Licht, genauso wie Musicaldarsteller, von denen viele nach Feierabend in der Thai Oase noch weitersingen.

Gegen 23 Uhr ist es hier heute brechend voll. Wie fast immer. Und wie fast immer ist auch Dominik Holz da. Der 38-Jährige ist der Mann für die ganz großen Gefühle. Balladen sind seine Spezialität. Besonders bei „Bed Of Roses“ von Bon Jovi dreht er richtig auf.

Holz, der ganz in der Nähe als Küchenchef in einem Restaurant arbeitet, ist vor ein paar Jahren von Freunden das erste Mal hergeschleppt worden. Seitdem ist auch er fast jeden Tag da. „Das ist mein zweites Wohnzimmer“, sagt er. Er kennt hier alle und jeden. Auch viele Promis hat er schon gesehen. „Hier haben schon Ed Sheeran gesungen oder Johannes Oerding“, sagt er. „Die müssen dann auch nicht so lange warten.“

Hier wird jeder gefeiert, egal, ob er singen kann oder nicht

Auf der Bühne wurde Petra inzwischen von zwei angetrunkenen Frauen abgelöst, die „Like A Virgin“ von Madonna singen. Ihr Auftritt ist ein gutes Beispiel für eine Art ungeschriebenes Gesetz in der Thai Oase. Je schlechter der Sänger, desto lauter grölen die Gäste mit. Und so ist die Partygemeinde gewissermaßen die Jury der wohl nettesten Castingshow der Welt. Hier kommt jeder in den Recall. Wer singt, wird gefeiert. Ende der Diskussion.

Außerhalb der Stammsänger spült St. Pauli aber auch jede Nacht Touristenmassen und Partyvolk in den Eckladen an der Großen Freiheit. Und nicht selten ist der Mut am Anfang groß und schwindet dann ganz plötzlich, wenn das eigene Lied aufgerufen wird. Oft reicht eben auch das dritte Mutbier nicht, um sich wirklich zu trauen.

Linda kommt mehrmals in der Woche aus Schleswig-Holstein

Kaum einer weiß das besser als die 21 Jahre alte Linda. Sie kommt immer wieder – und traut sich dann doch nicht. „Ich singe nur für mich alleine“, sagt sie. Hier in der Thai Oase hört sie lieber anderen beim Singen zu. So gern, dass sie mehrmals die Woche aus Schleswig-Holstein herkommt, obwohl sie Hamburg eigentlich nicht mag. Aber nach dem ersten Besuch vor ein paar Jahren ist auch sie hier hängen geblieben. „Das ist wie eine Familie hier“, sagt sie.

Wenn sie den Gesangsdarbietungen lauscht, sieht sie mit ihrer Wollmütze auf dem Kopf und den großen Reh-Augen sehnsüchtig und verträumt aus. Wie ein Kind, das sich nichts sehnlicher wünscht, als doch mal vom Dreimeterbrett zu springen.

Der englische Junggesellenabschied tut sich da leichter. Einer von den Jungs aus Liverpool hat jedenfalls gerade die Bühne betreten und singt konsequent etwa drei Töne zu tief „We Are The Champions“. Ein Satz, der auch der Slogan der Thai Oase und der Grund dafür sein könnte, dass Zwischenfälle wie Schlägereien hier im Grunde nicht vorkommen, denn hier gibt’s ja schließlich nur Gewinner.