Einst war es die Straße der Ballhäuser, der Beatles und der Nachtclubs. Seit dem Ende des Sex-Booms ist die Vergnügungsmeile an der Reeperbahn in der Hand des jungen Partyvolks. Wer profitiert davon? Wer zieht die Fäden auf dem Kiez?
Auf der Großen Freiheit nachts um halb eins. Aus den Musikclubs wummert ohrenbetäubender Krach auf die Straße. Horden angetrunkener Menschen ziehen johlend vorbei. Leuchtreklame flimmert und flackert. Ein paar Koberer locken mit Erlebnissen, die es so nur einmal gibt. Garantiert. An der Ecke Reeperbahn stehen vier Polizisten. Doch im Moment ist alles friedlich auf Hamburgs Remmidemmi-Meile Nummer eins. Das kann sich schlagartig ändern. Sagt die Erfahrung.
Eine Gruppe aufgedrehter Mädels sucht einen Anlaufpunkt. „Hölle, Hölle!“, grölen die Damen. Lange können sie noch nicht volljährig sein. Wahnsinn. Wolfgang Petry lässt grüßen. Die Partyclique trägt einheitlich Hawaii-Ketten in Deutschland-Farben, künstliche Wimpern, pinkfarbene Sweatjacken. Kaum ein Junggesellinnen-Abschied, der nicht zu fortgeschrittener Stunde gen Freiheit führt.
Auch für die Jungs scheint diese groß zu sein. Den Anführer ziert, irre witzig, ein Filzhut in Form eines Kondoms, die Kumpels tragen blonde Perücken mit Zöpfchen. Vor allem tragen sie kleine Kartons vor sich her, gefüllt mit Kleinen Feiglingen. Eigentlich herrscht Flaschenverbot, doch wen kümmert’s, wenn der Promillepegel einen Spitzenwert erreicht. Von Donnerstag bis in den jungen Sonntag hinein erreicht die Stimmung auf der Großen Freiheit hochprozentige Höhepunkte.
Das war schon immer so. Als Hans Albers mit Kriegsende im Kinofilm „Große Freiheit Nr. 7“ die Straße zwischen Reeperbahn und Paul-Roosen-Straße bundesweit berühmt machte, erwuchs aus Trümmern Erstaunliches. Mit dem Wirtschaftswunder hielt ausschweifender Sex Einzug. Nachtclubs wie Salambo, Safari, Kolibri und Regina offerierten nicht nur Striptease. Auf der Bühne ging’s deftig zur Sache, mit wirklich allem Drum und Dran. Teilweise trugen auch „Publikumsnummern“ zur allgemeinen Belustigung bei – dann aber ohne Kostüm und ohne Bommelchen an wegweisenden Stellen.
Das Geschäft brummte mächtig. Und mancher verstand die buchstäblich große Freiheit falsch. Denn eigentlich bezieht sich der weltweit bekannte Straßenname seit dem 17. Jahrhundert auf vor Ort traditionell geltende Religions- und Gewerbefreiheiten, die dort ansässige, unzünftige Handwerker und Glaubensgemeinschaften in der unabhängigen Stadt Altona genossen. Die katholische St.-Joseph-Kirche, ein Pastorat und bis zum Zweiten Weltkrieg die Mennonitenkirche dienten als Trutzburg inmitten des damals wie heute wenig päpstlichen Treibens. Eine erst im Indra, dann im Kaiserkeller und final im Star-Club aufspielende Rockband aus Liverpool namens Beatles nährte den internationalen Ruf einer der berühmtesten Straßen der Welt.
Damals wie heute spielt die Musik hauptsächlich zwischen Reeperbahn und Simon-von-Utrecht-Straße, das Gruenspan dahinter mal ausgeklammert. Als Treffpunkt und Tor zur Freiheit fungiert seit fünfeinhalb Jahren der Beatles-Platz: Hier nimmt das Hully-Gully seinen Anfang; an den drei wilden Tagen in der Regel von 23 Uhr bis in die Puppen. Wer über 35 Jahre alt ist, fühlt sich zwischen den jungen Partyleuten fast wie ein Opa. Das Gros der Gäste, zumindest auf den ersten Blick, liegt zwischen 16 und 25 Jahren. Der Nachwuchs lässt es krachen. Prügeleien zwischen alkoholisierten Nachtschwärmern sind alltäglich. Frauen erweisen sich immer mehr als gleichberechtigt.
Die Konsequenz ist klar: Je jünger die Kiezgänger sind, desto geringer ist die Kaufkraft. Ältere Spesenritter sind in der Minderheit; auch die Goldgräberstimmung nach dem Mauerfall ist beendet. Der Anteil Einheimischer nahm in den vergangenen Jahren stetig zu. Die jungen Leute kommen aus allen möglichen Ecken der Großstadt, aus Othmarschen, Eppendorf, Billstedt, Horn, aber auch aus den Vororten. Und wer in den Kneipen oder Discos über eingeschränkten Etat verfügt, glüht gern günstig vor. Zuvor konsumierte Getränke wie Alkopops, Wodkaverschnitt, Perlsekt oder Caipi aus der Dose bringen das feiernde Volk in Laune. Eine Pinte auf der Großen Freiheit lockt mit Drinks zum Einheitspreis von 99 Cent. Viele nehmen Bier und Schnaps mit auf die Straße – in Pappbechern. Entsprechend sieht es dort aus. Ein Segen, dass auf die Stadtreinigung Verlass ist.
„Der Stadtteil St. Pauli und mit ihm die Große Freiheit haben sich immer verändert“, sagt Hayo Faerber, Chef des Panoptikums am Spielbudenplatz. Das anno 1879 von seinem Urgroßvater gegründete Wachsfigurenkabinett ist nach dem St. Pauli Theater die zweitälteste Institution auf dem Kiez. „Sex & Crime auf der Großen Freiheit haben ab-, Kultur und Musik zugenommen“, sagt Faerber, der auch im Vorstand des lokalen Bürgervereins sitzt und Vorsitzender der Interessengemeinschaft St. Pauli ist. „Das ist ein positiver Trend.“
Die Entwicklung vom Pflaster der Sex-Kabaretts zur Disco- und Kneipenmeile betrachten auch andere optimistisch. Schwere Gewalt, Drogenhandel im großen Stil und Krieg zwischen rivalisierenden Zuhältergangs sind zwar nicht gänzlich ad acta gelegt, aber nicht mehr so dominierend wie noch vor 20 Jahren. „Heute geben Businessleute den Ton an“, weiß ein Insider, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. Demnach teilen sich Deutsche und Albaner die Geschäfte. Man arrangiert sich. Getreu der Erkenntnis: Scharmützel mit Schusswechseln und Blutbädern schaden dem Umsatz. Während die Albaner zusammenhalten, wirken die Deutschen meist für sich.
Die meisten Immobilien an der Straße gehören der Familie des 2007 verstorbenen Willi Bartels, eine Erbengemeinschaft. Sein Vater Hermann gründete 1928 das Ballhaus Jungmühle an den Hausnummern 10 bis 14. Dazu gehörte auch der Nachtclub Hippodrom, in dem sich leicht bekleidete Frauen Schlammringkämpfe lieferten – zur Gaudi des überwiegend männlichen Publikums. Heute verwaltet die Familie Fraatz das Vermögen. Das Prinzip hat sich bewährt: Generalmieter vergeben die Lokale und Wohnungen an Dritte. Von dieser Geschäftspolitik profitierten alle Beteiligten, heißt es.
Lautlos zu profitieren, wenig oder gar nichts zu erzählen, das ist die Regel Nummer eins auf der Großen Freiheit. Genauso müssen die Geschäfte funktionieren. Bloß nicht auffallen, schon gar nicht bei der Polizei oder gar mit einem Strafverfahren beim Staatsanwalt. Einer schaffte es nicht: Der frühere Sylter Andreas S. wurde wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Er hatte 1997 aus dem ehemaligen Salambo das Dollhouse gemacht.
Reden will auch keiner über eine Immobilie, die einem der Urgesteine der Rotlichtmacher gehört und angeblich seit Langem für 40 Millionen Euro zum Verkauf steht. Es gibt viele Merkwürdigkeiten auf der Großen Freiheit, so wie das neu gebaute Haus einer Strip-Bar, das wie ein verunglückter, bunter Würfelhusten und nicht wie ein Haus aussieht. Einfacher ging es dort zu, wo sich seit Jahrzehnten die in die Jahre gekommenen Granden des Rotlichts trafen. Im Café Möller um die Ecke am Nobistor. Dem alten traditionellen Geschäft ging es so wie vielen: Auf Pachterhöhung folgte nach fast 60 Jahren 2012 das Ende. Und statt leckerer Torte gibt es dort nun eine irische Sportsbar. „Mit Sportsbars verdienst du auf dem Kiez mehr als mit einem Bordell“, sagen die Rotlichtgrößen. Auch die Albaner wollen sich in diesem Feld tummeln, haben aber eine Sportsbar-Kette aus Skandinavien im Auge.
Ja, die alten Zeiten sind vorbei. „Wo ein Willi ist, da ist auch ein Weg!“, hieß es über den auch im hohen Alter charismatischen Willi Bartels, der „beim Häuserkauf immer 20.000 Mark mehr bietet als die Albaner“.
„König von St. Pauli“ nannten sie ihren Willi, nicht nur wegen der Grundstücke, sondern auch, weil er mit Mieterhöhungen sehr zurückhaltend war. Und es wird noch lange dauern, bis der Kiez nicht mehr trauert.
Bartels starb im Alter von 92 Jahren. Und seit dem Tod des damals 87 Jahre alten St.-Pauli-Urgesteins Hans-Henning Schneidereit am 28. Juni 2013 gehört die Herrlichkeit der Sex-Revues endgültig der Vergangenheit an. Mit seinem irdischen Ende erlosch auch die letzte Kiezkonzession, die mehr oder weniger fantasievollen Verkehr auf der Bühne erlaubte. Anstelle von Schneidereits 1963 eröffneten Safari-Clubs, dessen Markenzeichen ein Elefant aus Rosen und Live-Sexshows waren, tanzen nun Damen auf den Tischen. Ganz blank ziehen sie nicht.
Mit dem Safari ging auch einer der letzten Paradiesvögel und intimen Kenner der Freiheit: Peter Schöndube. Der 57 Jahre alte Hamburger, eine Persönlichkeit mit Herz, Niveau und bei Bedarf auch Kodderschnauze, ist seit 1976 auf „seiner“ Straße zu Hause. Als Koberer alter Schule war er gepflegt bemüht, Kundschaft anzulocken. Von den nach wie vor omnipräsenten Türstehern und Sicherheitskolossen trennten ihn Welten.
„Auf der Freiheit hat noch nie ein Laden zugemacht, weil er zu gut lief“, bringt Schöndube seine Meinung auf den Punkt. Der Markt reguliere eben das Geschäft. Damals wie heute. Stimme die Nachfrage nicht mehr, sei Schluss mit lustig. Motto: Geiz ist geil. Die Partystraße habe sich mächtig verändert, biete aber immer noch Flair.
Peter Schöndube weiß, wovon er spricht. 1976 begann der in Hamm aufgewachsene Textilkaufmann als Bierzapfer in Jahnke’s Eck, heute eine Thai-Bar mit Karaoke. Nach einer Station im Globetrotter gegenüber führte sein Weg in das TAF (Theater auf der Freiheit). Dort ist heute eine Spielhalle. Es folgten Einsätze als Koberer unter anderen im Salambo, Tanga-Club, Regina, Kolibri und schließlich seit 1996 im Safari. Dort blieb Schöndube bis zum Aus am 15. Dezember 2013. Seitdem ist er arbeitslos.
Lange soll dieser Zustand nicht anhalten: Wer einmal vom Bazillus der Großen Freiheit infiziert ist , muss wieder zurück. „Auch wenn sich sehr viel verändert hat“, sagt Schöndube, „ist und bleibt die Große Freiheit ein besonders interessantes Stück Hamburg.“ Das wusste bekanntlich auch Hans Albers in „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“: „Langsam bummel ich ganz alleine die Reeperbahn nach der Freiheit ’rauf, treffe ich eine blonde, recht feine, die gabel ich mir auf.“
Das geht auch heute noch.