Ein Jahr wird Archäologe Kay-Peter Suchowa neben der Willy-Brandt-Straße graben und nach Spuren der Hamburger Neustadt suchen.
Hamburg kam einfach nicht so recht vom Fleck. 400 Jahre alt war die Siedlung schon, aber immer noch nicht viel mehr als ein kleines Städtchen. Nicht einmal 1000 Einwohner hatte der Ort im Jahr 1180 – selbst nach damaligen Maßstäben eine Kleinstadt.
Hamburg drohte den Anschluss zu verpassen
Das viel jüngere Lübeck war eine Handelsmetropole, Lüneburg und Stade blühten auf, selbst Bardowick war reicher – aber Hamburg drohte den Anschluss zu verpassen. Es gab zwar einen kleinen Alsterhafen, auch regelmäßige Märkte an der Reichenstraße und „auf dem Berg“, bei St. Petri. Aber der Handel hatte hauptsächlich lokale Bedeutung. Die großen Geschäfte wurden woanders gemacht. Es musste etwas geschehen.
Adolf III., dem als Graf Holstein und Stormarn – und damit auch Hamburg – unterstanden, ging die Sache planmäßig an. Etwas westlich des Stadtkerns gab es die „Neue Burg“. Oder besser gesagt: die Burgruine. 1021 hatte einer seiner Vorgänger dort die Festung bauen lassen, in bewusster Abgrenzung gegenüber dem Bischof, der seine in der Altstadt hatte.
Adolf III. beschloss, eine Kaufmannssiedlung zu schaffen
Doch die Holzkonstruktion hatte sich nicht als standhaft erwiesen. Gleich mehrfach war sie von Slawen erobert worden. Ob auf dem Areal, wo heute die Nikolaikirche steht, im späten 12. Jahrhundert überhaupt noch jemand lebte, ist unklar. Adolf beschloss jedenfalls, etwas völlig Neues zu schaffen: Eine Kaufmannssiedlung sollte dort entstehen. Geplant von einem Experten.
Den fand er in Wirad von Boizenburg. Über seine Herkunft und seinen Werdegang weiß man wenig Gesichertes, aber er war definitiv ein geschickter Organisator und ein Macher. „Lokatoren“ oder „Siedlungsunternehmer“ nennen Mittelalter-Historiker wie Prof. Jürgen Sarnowsky von der Uni Hamburg Menschen wie ihn.
Adolf wollte keine Bauern für Hamburg – er wollte Kaufleute
Im Auftrag von Fürsten warben sie Siedler und Bauern an, um etwa neue Dörfer zu gründen – oder eben einen neuen Stadtteil wie in Hamburg. Denn Adolf wollte natürlich keine Bauern für Hamburg. Er wollte Kaufleute. Männer mit Wissen und exzellenten Beziehungen in die Handelsmetropolen Nordeuropas.
Das geschah zu einem Zeitpunkt, an dem die politische Lage in Norddeutschland außerordentlich kompliziert war. Das Römisch-Deutsche Reich, zu dem offiziell auch Norditalien, Burgund und die Provence gehörten, darf man sich nicht als zentral organisierten Staat vorstellen.
Vielmehr wählten die mächtigsten Fürsten einen der ihren zum König, der sich dann vom Papst zum Kaiser krönen lassen konnte. Bis 1190 war das Friedrich Barbarossa, ein Staufer. Er starb während des Dritten Kreuzzugs in der heutigen Türkei. Ihm folgte sein Sohn Heinrich VI. Die einflussreichsten Fürsten waren die Herzöge, die in ihren Territorien weitgehend freie Hand hatten.
Das damals bedeutende Bardowick ging in Flammen auf
Hamburg gehörte zum Herzogtum Sachsen mit dem Welfen Heinrich dem Löwen an der Spitze. Heinrich war neben dem Kaiser der weitaus mächtigste Fürst des Reiches und dessen großer Gegenspieler. 1181 verlor er aber den Machtkampf und musste ins Exil zu seinem Schwiegervater, dem englischen König Heinrich II. Doch er kehrte 1189 endgültig zurück und kämpfte um seine alten Titel.
Seine Hauptgegner waren neben den Staufern der neue sächsische Herzog Bernhard aus dem Hause der Askanier und eben Adolf III. von Schauenburg. Während der Kämpfe wurden diverse Städte und Festungen belagert oder sogar zerstört – so ging das damals bedeutende Bardowick (zwischen Lüneburg und der Elbe gelegen) in Flammen auf.
In dieser Phase der Unsicherheiten stellte der Graf Wirad von Boizenburg einen Freibrief aus – der Text dieser Urkunde ist erhalten. Viele setzen 1188/89 als Gründungsjahr der Neustadt an, gesichert ist das allerdings nicht – manche glauben, dass die Urkunde um 1225 gefälscht und rückdatiert wurde. Das genaue Datum ist also nicht gesichert.
Für die Hamburger Neustadt gilt Lübecker Stadtrecht
Die Grundzüge des Geschäfts lauteten: Adolf stellt den Grund und Boden zur Verfügung, Wirad darf die Grundstücke an Kaufleute vergeben. Die erhalten das Erbrecht für die Parzellen, dürfen Märkte abhalten, einen Hafen bauen, innerhalb der Grafschaft zollfrei handeln.
Und: Für die Neustadt gilt das damals besonders attraktive Lübecker Stadtrecht. Das schützte die Bürger vor fürstlicher Willkür und gab ihnen weitgehende Selbstverwaltung. All das klingt durchaus großzügig und war es auch – aber auch eine Voraussetzung, dass tüchtige Männer ihr bisheriges Leben aufgaben und sich auf das Wagnis Hamburg einließen. Denn niemand wusste, ob es eine Erfolgsgeschichte werden würde.
Wirad sichert sich bei dem Geschäft langfristige Einnahmequellen: Er lässt sich als Gerichtsherr einsetzen. Von den häufig verhängten Bußgeldern darf er ein Drittel behalten, der Rest geht an den Grafen. Außerdem muss er für sein Grundstück keine Pacht zahlen. Auch dem wohl bald gegründeten Stadtrat gehört er an.
Neues Hamburg hatte eine Sogwirkung auf Bedienstete
Während Wirad nun dabei war, Interessenten aus Friesland, Holland und Westfalen anzulocken, rückten in Hamburg Bauarbeiter an. Sie schütteten das Gelände auf – so entstand eine Art Warft als Hochwasserschutz. Denn das Areal war zu drei Seiten von Wasser umgeben.
Schon bald kamen tatsächlich die ersten Neubürger. Wie lange das dauerte und ob es mehr Bewerber als Platz gab, kann heute niemand seriös beantworten. Es ist auch nicht überliefert, wie die „Alt-Hamburger“ reagierten. Freuten sie sich, dass die Stadt wuchs? Waren sie skeptisch oder neidisch auf die neuen Nachbarn? Wahrscheinlich wurden beide Meinungen vertreten.
Die neu entstehende Stadt hatte jedenfalls eine Sogwirkung. Es wurden Bedienstete gebraucht, Handwerker und Arbeiter – und die mussten nicht extra angelockt werden. In einer Stadt gab es ungeahnte Freiheiten und Aufstiegsmöglichkeiten. „Die sozialen Strukturen waren noch nicht so verfestigt, die Grenzen zwischen Patriziern, Bürgern und Gesinde noch fließender. Das entwickelte sich dann vor allem im Spätmittelalter“, sagt Prof. Jürgen Sarnowsky.
Erste Kontorhäuser im Rund zum Wasser hin gebaut
Wie genau die Häuser aussahen, die nun errichtet wurden, ist unbekannt. Die ersten überlieferten Darstellungen zeigen die spätmittelalterlichen Kontorhäuser, die alle im Rund zum Wasser hin gebaut waren. Die ersten Gebäude könnten noch Holzbauten gewesen sein – in Lübeck allerdings waren Backsteinbauten seit Mitte des 12. Jahrhunderts schon üblich. Die jetzt beginnende Grabung wird darüber hoffentlich Aufschluss geben.
Die neue Siedlung entwickelte sich jedenfalls erfolgreich – trotz aller politischen Wirren der ersten Jahrzehnte. Der Welfenfürst – und Feind von Adolf III. – Heinrich der Löwe bemächtigte sich kurzzeitig der Stadt; 1201 eroberte der Schleswiger Herzog und spätere Dänenkönig Waldemar Hamburg und nahm Adolf III. gefangen, nachdem er kurz zuvor ein Heer Adolfs bei Rendsburg geschlagen hatte. Doch sie alle erneuerten den Hamburgern Rechte und Privilegien und störten die Entwicklung keineswegs.
Städte waren der Schlüssel für die Zukunft, das hatten auch die Deutschen endlich erkannt. Kaiser Barbarossa hatte die Kraft der Städte in Italien kennengelernt – jahrzehntelang führte er Kriege gegen die lombardischen Kommunen und vor allem Mailand, um seine Rechte (und das hieß vor allem Besteuerung) durchzusetzen.
Letztlich musste er gedemütigt einen Kompromissfrieden schließen. Die Leistungsfähigkeit von Städten war spätestens jetzt aller Welt vor Augen geführt worden, da der mächtigste Fürst Europas sich nicht gegen sie hatte durchsetzen können.
Hamburg schien dauerhaft dänisch geworden zu sein
So konnte Hamburg sich rasch entwickeln, auch weil die Stadt für Lübeck den Zugang zur Nordsee erschloss. Alt- und Neustadt wuchsen nun schnell zusammen. Wohl 1216 gab es bereits einen gemeinsamen Stadtrat und ein gemeinsames Rathaus an der Trostbrücke.
1222 verzichtete der Bremer Erzbischof Gebhard offiziell auf alle stadtherrschaftlichen Rechte (die er faktisch ohnehin nicht mehr hatte). Fünf Jahre später kam es zu einer militärischen Auseinandersetzung, die (auch) für Hamburg eine entscheidende Weichenstellung bedeutete.
Die Folgen von Schlachten werden zwar oft überschätzt, die von Bornhöved 1227 war für die weitere Zukunft Norddeutschlands und des ganzen Ostseeraums allerdings von enormer Wichtigkeit. Noch ein Jahrzehnt zuvor schien manifestiert, dass die Grenze zwischen Dänemark und dem Römisch-Deutschen Reich die Elbe ist. Schleswig, Holstein und somit auch Hamburg gehörten zum Gebiet des dänischen Königs, seit er sich 1201 militärisch gegen Adolf III. durchgesetzt hatte.
Dabei hatte er innerdeutsche Querelen und Thronstreitigkeiten genutzt. 1214 hatte der junge deutsche König Friedrich II., der im fernen Sizilien residierte, die Elbgrenze sogar schriftlich bestätigt – und Waldemar II. so zu seinem Verbündeten gegen den Welfen Otto IV. gemacht, der mit Friedrich um den Thron stritt.
Doch weder der Sohn des Geschlagenen – Adolf IV. – noch der Holsteiner Adel und Lübeck mochten sich mit der dänischen Hegemonie abfinden und versuchten, das verlorene Terrain zurückzugewinnen. Es gelang ihnen, bei Kämpfen in Mecklenburg den dänischen König gefangen zu nehmen.
Die Geisel gaben sie erst nach sehr weitgehenden, eigentlich maßlosen Forderungen wieder frei. Und so rüstete Waldemar (nachdem ihm der Papst bestätigt hatte, dass er an einen unter Zwang geleisteten Eid nicht gebunden sei) zum Krieg, der in einer Entscheidungsschlacht kulminierte.
Hanse entwickelte Dominanz nach Niederlage der Dänen
Außer dem Ergebnis – Waldemars Niederlage – gibt es keine gesicherten Erkenntnisse über die Ereignisse dieses Tages. Aber ein Gerücht (dass die mit den Dänen verbündeten freien Dithmarscher Bauernkrieger kurz vor Beginn die Seiten wechselten) und eine hübsche Legende: dass nämlich den Deutschen zu Beginn der Schlacht an diesem 22. Juli, dem Tag der heiligen Maria Magdalena, die Sonne die Augen blendete.
Kurz vor Waldemars Angriff aber schob sich eine Wolke in Form der Heiligen vor die Sonne. Was die Lübecker und Adolf IV. dazu bewog, später jeweils Maria-Magdalenen-Klöster zu stiften. Adolf tat dies in Hamburg (heute steht dort die Handelskammer) und trat 1247 sogar selbst den Franziskanern bei.
Weitaus wichtiger war aber, dass nun die entstehende Hanse durch die Niederlage der Dänen Dominanz im ganzen Ostseeraum entwickeln konnte. Und Hamburg wurde nicht Bestandteil des dänischen Staates, auch wenn die Nachbarn erst 550 Jahre nach der Schlacht bei Bornhöved endgültig ihre Ansprüche auf Hamburg aufgaben.
Eine „freie Stadt“ wurde Hamburg erst im 18. Jahrhundert
Auch den gräflichen Stadtherrn werden die Hamburger noch im 13. Jahrhundert los: Da der Besitz der Schauenburger durch Erbteilungen immer weiter zersplittert wurde, konnten sie kaum noch Einfluss in Hamburg ausüben. Eine formell „freie Stadt“ wurde Hamburg aber erst im 18. Jahrhundert. Bis dahin lavierten die Stadtväter gerne zwischen Dänemark (dessen Könige seit 1460 in Personalunion Herzöge von Holstein waren und wieder Ansprüche auf Hamburg anmeldeten) und dem Römisch-Deutschen Reich hin und her – je nachdem, wo sie den größeren Vorteil sahen.
Und meistens kamen sie damit auch durch. Voraussetzung für diese Politik war die eigene Stärke, also die große Bedeutung als Handelsplatz – und Reichtum. Die Grundlagen dafür wurden mit der Neustadt gelegt. Der steile Aufstieg Hamburgs in den Jahrzehnten nach der Gründung hängt mit vielen Faktoren zusammen – ein wichtiger ist der Schulterschluss mit Lübeck. Beide Städte arbeiteten früh eng zusammen, schon bevor es die Städtehanse gab.
Kräftiges Bevölkerungswachstum durch Argrartechnik
Aber auch die „konjunkturelle Großwetterlage“ war ausgesprochen freundlich. Die klimatischen Bedingungen waren fast ideal – mit kurzen, nicht sehr strengen Wintern und warmen Sommern. Auch wegen deutlich verbesserter Agrartechnik gab es ein kräftiges Bevölkerungswachstum.
Die Landwirtschaft war vor allem durch die Dreifelderwirtschaft revolutioniert worden, die weniger Brachflächen benötigte. Dazu kamen eiserne Pflüge und das Kummet, mit dem Ochsen und vor allem die viel stärkeren Pferde deutlich größere Zugkraft entwickelten.
Erst die so entstandenen hohen Agrarüberschüsse ermöglichten es überhaupt, dass sich eine relativ große Bevölkerungsgruppe als Handwerker oder Kaufmann spezialisieren konnte, ohne sich um die eigene Ernährung sorgen zu müssen.
Hospital St. Georg – Hamburgs erstes Krankenhaus
Hamburg wuchs also rasch weiter. Die Inseln Cremon und Grimm wurden schon 1220 eingedeicht und das Kirchspiel St. Katharinen gegründet, vor der Stadt entstand das Hospital St. Georg – Hamburgs erstes Krankenhaus.
Damals tauchte der Name Spitalerstraße erstmals auf. 20 Jahre später folgten die Erweiterung nach Osten und der Bau von St. Jacobi. 1255 dann kam die Währungsunion: Die „lübische Mark“ war in beiden Städten offizielles Zahlungsmittel. Eine ungeheure Handelserleichterung.
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Hamburgs Wohlstand verteilte sich auf wenige Familien
Hamburg prosperierte. Doch der Wohlstand verteilte sich nicht gleichmäßig auf die Bürger. Die reich gewordenen Kaufleute verstanden es, den Rat der Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen. War die Gesellschaft um 1200 noch sehr durchlässig, verfestigten sich rasch die Strukturen.
Der Rat setzte sich bald nur noch aus Mitgliedern weniger Familien zusammen, die Handwerker bildeten streng reglementierte Zünfte; sie und die Höker, Fischer und erst recht die Unterschicht waren zwar nicht recht-, aber einflusslos. Hamburg wurde eine Oligarchie, eine Republik der Kaufleute.