Hamburg. Rainer-Maria Weiss fand als Schüler seinen ersten Faustkeil – und vor fünf Jahren die Keimzelle der Hansestadt.

Spätestens am 5. Mai 1977 war die Berufsfrage geklärt. Da taperte der elfjährige Rainer-Maria über einen frisch gepflügten Acker in der Nähe vom Nassenfels in Oberbayern und fand einen Stein, der besonders aussah. Als ob er bearbeitet worden wäre. Ein Faustkeil? Der Sextaner ging mit reichlich Dreck unter den Fingernägeln zum „Kreisheimatpfleger“ bei ihm zu Hause in Neuburg an der Donau und präsentierte stolz seinen Fund. Und der fand ihn so spannend, dass er ihn nach Tübingen schickte: zu Prof. Hansjürgen Müller-Beck. „Es war tatsächlich ein Faustkeil, gefertigt von Neandertalern und rund 100.000 Jahre alt“, erzählt Prof. Rainer-Maria Weiss. Und dabei grinst der Leiter des Archäologischen Museums Hamburg so, wie er damals gegrinst haben muss, als er erfuhr, dass Müller-Beck den Fund des Steppkes sogar publiziert hat, weil er so bedeutend war. „Spätestens da wusste ich, dass ich Archäologe werden wollte.“

Der Ruf aus Hamburg enthielt falsche Versprechungen

Dabei blieb es – auch nachdem ihm klar geworden war, dass er ein langes Studium und eine ziemlich unsichere berufliche Perspektive vor sich hat. Aber Weiss ist nicht der Mann, der frühe Festlegungen bereuen müsste – seine Ehefrau Petra lernte er in der Schule kennen. Seit 35 Jahren sind sie ein Paar.

Nach dem Abitur zog es ihn nicht in die weite Welt – er schrieb sich gleich in Regensburg ein („Die Bundeswehr hat mich vergessen“). 1990 die Magisterarbeit („Wurde sogar publiziert, ich war mächtig stolz: mein erstes Buch“) , dann ein paar Zeitverträge in Berlin, Regensburg, Straubing und Landshut („kann selbst für einen Bayern ein Kulturschock sein“), 1995 Promotion über Opferstätten der Bronze- und Eisenzeit in der Alpenregion („das Fleisch wurde gegessen, die Knochen geopfert“). Seit 16 Jahren ist er Hamburgs Chef-Archäologe und Museumsdirektor in Harburg. Mittlerweile der dienstälteste unter seinen Hamburger Kollegen – aber mit 52 Jahren immer noch der jüngste.

Dabei hat er keineswegs das, was man unter einem „sicheren Job“ versteht. Denn Hamburgs Museumsdirektoren erhalten wie Theater-Intendanten nur Fünfjahresverträge. Das macht die Personalsuche oft schwierig, denn in den meisten Bundesländern werden Weiss‘ Kollegen verbeamtet – und viele wollen diesen Status nicht für einen Zeitvertrag in Hamburg aufgeben. „Ich finde das aber gut“, sagt Weiss. „So läuft man nicht Gefahr, träge zu werden.“

Als er den Posten bekam, war Weiss 36 Jahre alt, zweifacher Vater, Hausbesitzer in Berlin – und Beamter. „Meine offizielle Bezeichnung war Kustos – ich war als Museumskurator beschäftigt“, erzählt er. „Und heute wäre ich wohl Oberkustos oder Hauptkustos“, fügt er mit einem leicht spöttischen Lächeln hinzu. Diese Beamtentitel gibt es wirklich.

Arbeitsplatzauswahl für Archäologen ist sehr überschaubar

Eigentlich aber war alles perfekt damals in Berlin am renommierten Charlottenburger Museum für Vor- und Frühgeschichte, Preußischer Kulturbesitz. Die Arbeitsplatzauswahl für Archäologen ist sehr überschaubar – und viele pendeln ihr Leben lang zwischen Zeitvertrag und Arbeitsamt hin und her. Und da Ehefrau Petra auch nicht gerade einkommensorientiert studiert hatte – sie ist Kunsthistorikerin –, lebte die Familie aus Sicht vieler Kollegen in beneidenswert stabilen Verhältnissen. Dann kam der Lockruf aus Hamburg. Mit reichlich falschen Versprechungen.

2002 war Dana Horáková Kultursenatorin im Senat Ole von Beusts geworden. „Und sie bot mir den Posten des Gründungsdirektors eines Internationalen Archäologie-Zentrums Hamburg an.“ Einen großen Neubau am Domplatz solle es geben, 50 Millionen Euro seien schon bewilligt, eine ganz große Sache warte da. Ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. „In der kleinen Archäologen-Szene kennt fast jeder jeden. Hätte ich Nein gesagt, hätte jeder gedacht: Der Weiss will nichts mehr werden“, erzählt er. „Meine Frau war aber alles andere als begeistert.“ Das Haus gerade gekauft, die Tochter gerade eingeschult, die Verbeamtung gerade erfolgt, selbst gerade einen Job beim BDI gefunden – und das alles aufgeben für einen Zeitvertrag? Sie willigte widerwillig ein. Und hatte damit einen Professor zum Gatten. „Ach, das ist wohl auch so eine Hamburgensie“, sagt Weiss. Es ist nämlich keine ordentliche, sondern eine „Titular-Professur“. Jeder Hamburger Museumsdirektor erhält sie – und muss sie aufgeben, wenn er aus dem Amt scheidet.

Der Titel ist ihm nicht ans Herz gewachsen. Die Arbeit schon. Den Schritt nach Hamburg hat Familie Weiss nie bereut – auch wenn sich das Internationale Archäologie-Zen­trum schnell als Luftschloss erwies. Die Planungen uferten immer mehr aus. „Erst sollte die Bücherhalle in den Bau integriert werden. Dann Abgeordnetenbüros, dann Geschäfte, dann Wohnungen. Der Bau wurde monströs“, erinnert sich Weiss. Als dann auch noch Helmut Schmidt, dessen Büro bei der „Zeit“ ein Fenster zum Domplatz hatte, öffentlich den Daumen senkte, war die Planung tot.

Als Bayer vermisst er die Leberkäs-Semmeln

Und die nächste Enttäuschung folgte bald darauf. Denn bei der großen Grabung am Domplatz auf der Suche nach der Hammaburg in den Jahren 2005 und 2006 hatte man Hamburgs Keimzelle nicht gefunden, hieß es. Und so saß Rainer-Maria Weiss durchaus desillusioniert in seinem Harburger Büro des Helms-Museums, wie es damals noch hieß – und stimmte seiner Vertragsverlängerung dennoch sofort zu. Wegen der perfekten Mischung.

„Ich bin hier Archäologe, leite das Amt für Bodendenkmalpflege, wie es in Amtsdeutsch heißt, kümmere mich aber auch um Ausstellungen im Museum. Andernorts macht man oft nur das eine oder das andere.“ Außerdem hatte sich seine Frau längst mit Hamburg angefreundet. Und Tochter Lara (heute 25) und Sohn Luca (21) fühlen sich ohnehin als Hamburger. „Denen muss ich mit Bayern nicht kommen ...“ Er selbst sieht sich als „Bayer in Hamburg“. Der Berge vermisst, Biergärten und Leberkäs-Semmeln („mit Fischbrötchen konnte ich mich nie anfreunden“). Der aber das kulturelle Leben genießt, gern ins Ernst Deutsch Theater geht und öfter im Docks oder der Großen Freiheit zu sehen ist als in der Staatsoper oder der Laeiszhalle („Klassik höre ich eher selten“).

Heute ist Weiss in der Museumsszene eine Institution. Er gilt als modern, frei von akademischem Dünkel, guter Netzwerker und als jemand, der auch unkonventionelle Wege geht, um den Hamburgern ein Bewusstsein ihres historischen und archäologischen Erbes zu vermitteln. Renommee und Respekt hat er sich auch längst verschafft – vor allem, indem er aus einer vermeintlich enttäuschenden Grabung einen sensationellen Erfolg gemacht hat. Und quasi am Schreibtisch die Hammaburg entdeckte. Als er die Grabungsdokumentationen vom Domplatz genau studierte und mit früheren Grabungsergebnissen verglich, setzte sich aus den Puzzleteilen ein ganz neues Bild zusammen: Die Hammaburg war doch entdeckt!

Schon im 8. Jahrhundert stand die erste kleine Hammaburg

Doch von dieser ersten These bis zur Veröffentlichung der Erkenntnisse vergingen Jahre. „Die Blamage wäre unendlich gewesen, wenn eine vorschnell publizierte Behauptung später widerlegt worden wäre“, erzählt Weiss. Alles wurde genauestens überprüft und schließlich ein Kolloqium mit internationalen Forschern angesetzt, die alles noch mal überprüfen sollten. „Da haben wir bewusst auch bekannt kritische Zweifler eingeladen“, erinnert er sich. „Zertifizierte Stinkstiefel“ gewissermaßen. Doch auch die hatten nichts zu meckern. Die damalige Kultursenatorin Barbara Kisseler fragte Weiss vor der Veröffentlichung dennoch immer wieder: „Sind Sie wirklich sicher?“ Er war es.

Und so wurde die Geschichte umgeschrieben: Hamburg ist älter als zuvor gedacht – schon im 8. Jahrhundert stand die erste kleine Hammaburg. Sie wurde von Sachsen gebaut und war ein Handelsplatz und eben nicht eine von fränkischen Missionaren gegründete Kirchensiedlung. Wie wichtig war ihm dieser Erfolg? „Der Archäologie in Hamburg und dem Museum tat es schon sehr gut“, antwortet er. „Das hat manch anderes Projekt erleichtert.“

So ist er denn auch zuversichtlich, dass er doch noch sein Museum in der Innenstadt bekommt. Nicht am Domplatz und nicht so groß. Aber die Planungen für einen unterirdischen Ausstellungsraum am Hopfenmarkt laufen vielversprechend. „Dort könnten wir einen Grabungsschnitt der Neuen Burg zeigen, die genau dort ab 1021 gebaut wurde“, erzählt er. Die Zeit von der Gründung Hamburgs im 8. bis zum Bau der Neustadt im späten 12. Jahrhundert soll in dem Museum dargestellt werden. Weiss hofft, dass es bald losgeht. Sein Vertrag läuft noch bis 2023. Und dann? Er antwortet mit diesem typisch-bayerischen Schaun-mer-mal-Lausbubenlächeln.

Vielleicht nimmt er ja noch mal selbst Kelle und Pinsel in die Hand und buddelt etwas aus. „So ein schöner Grabhügel irgendwo, aus der Bronze- oder Eisenzeit, das würde mich schon reizen.“