Hamburg. Ehemaligem SS-Wachmann wird Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen. Dokumente beweisen: Er konnte die Morde sehen.
Den Standort des Krematoriums hat Bruno D. noch vor Augen. Und auch die Lage der Gaskammer. „Aber es ist wenig, was gezeigt wurde, woran ich mich erinnern kann“, sagt der frühere SS-Wachmann. Aufmerksam hat der 93-Jährige Bilder vom Konzentrationslager Stutthof bei Danzig angesehen, aktuelle und historische, und hat den Ausführungen eines Fachmannes zu den damaligen Gegebenheiten gelauscht. 74 Jahre ist es her, dass Bruno D. als SS-Schütze in der 1. Kompanie des Totenkopfsturmbanns in Stutthof seinen Dienst verrichtete.
Es ist der zweite Verhandlungstag gegen den Mann, dem die Staatsanwaltschaft Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorwirft, weil er die „heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“ habe. Die Bilder und Filmsequenzen, die jetzt im Prozess gezeigt werden, könnten ihn in jene Zeit von August 1944 bis April 1945 zurückversetzen, als er als 17- beziehungsweise 18-Jähriger auf einem der Wachtürme in Stutthof stand oder auf Patrouille ging. Konzentriert wirkt sein Blick. Was die Bilder in ihm auslösen, verrät seine Miene nicht.
Prozess gegen früheren SS-Wachmann
Ein Scheiterhaufen auf dem Gelände von Stutthof ist zu sehen, Baracken, die Wachtürme, der hohe, stacheldrahtbewehrte Zaun sowie der als „Todestor“ bezeichnete Eingang zum Lager. Ein wahrer Berg von Kleidung, ein anderer von Schuhen. Ein Mann hält ein Paar in die Höhe: Es sind Schuhe eines kleines Kindes. Die Aufnahmen wurden kurz nach der Befreiung des Lagers im April 1945 gemacht. Die Präsentation, die ein Düsseldorfer Kriminalbeamter als Zeuge im Prozess zeigt, soll vor allem der Aufklärung der Frage dienen: Wo genau waren die Wachtürme des Lagers im Verhältnis zum Krematorium und der Gaskammer platziert? Und was hat Bruno D. bei seinem Diensten vom 5,5 Meter hohen Wachturm aus sehen können?
Sehr wahrscheinlich die Gaskammer, legen die Dokumente nahe, und auch Teile des Krematoriums. Dieses habe mit seinen zwei Öfen „über eine Kapazität verfügt, zehn bis elf Leichen pro Stunde verbrennen zu können“, erklärt der Kriminalbeamte. „Türen und Fenster wurden abgedichtet, und den Lagerinsassen wurde vorgegaukelt, sie wären auf dem Weg zum Arbeitseinsatz. Dann wurde Zyklon B von oben eingeleitet.“
Gaskammer und Krematorium in Sichtweite
Der Zeuge zitiert aus Vernehmungen in den Jahren 1967/68 von ehemaligen SS-Leuten: Er habe „Dienst auf dem Wachturm“ gehabt, sagte einer. Dabei habe er einen SS-Mann und zwei weitere gesehen, bei denen drei Häftlinge gewesen seien. Der Anführer der drei SS-Leute habe von einem anderen verlangt, einem der Gefangenen ins Herz zu schießen. Dann sei der Befehl gekommen: „Dreh dich um, du Schwein.“
Darauf sei diesem Opfer ins Genick geschossen worden, dem zweiten ins Herz. Der dritte wurde erhängt. Ein weiterer früherer SS-Mann sagte 1968 über seine Zeit in Stutthof: „Der Rauch, der von dem verbrannten Fleisch stammte, war so schlimm, dass man den Aufenthalt auf dem Turm kaum ertragen konnte." Er habe sehen können, „wenn Leichen zum Krematorium getragen wurden. Uns war klar, dass man sie dort einäschern wollte.“