Hamburg. 93-Jähriger war SS-Mann im KZ Stutthof bei Danzig. Er ist wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen angeklagt. Prozess gestartet.

Mit der Verlesung der Anklageschrift und den Erklärungen von Nebenklägern hat am Donnerstag der Prozess gegen den ehemaligen SS-Wachmann Bruno D. vor dem Hamburger Landgericht begonnen. Der Angeklagte erschien im Rollstuhl und in Begleitung von Tochter und Verteidiger vor Gericht, machte zunächst jedoch keine Aussage. Sein Verteidiger las eine Erklärung vor und kündigte an, dass D. in der kommenden Woche Fragen der Staatsanwaltschaft beantworten werde.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem 93-Jährigen Beihilfe zum Mord in mehr als 5230 Fällen vor. Bruno D. soll zwischen August 1944 und April 1945 im Konzentrationslager Stutthof (bei Danzig) die Tötung jüdischer Häftlinge „durch bewusste Herbeiführung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen wie Nahrungsentzug und Verweigerung medizinischer Versorgung“ unterstützt haben. In dem Verfahren vertreten 14 Verteidiger insgesamt 28 Nebenkläger, darunter Nachfahren von ehemaligen Insassen des KZ Stutthof.

Ehemaliger SS-Wachmann stets Waffe getragen

Zu den Aufgaben des zur Tatzeit 17- und 18-jährigen Angeschuldigten im Rahmen des Wachdienstes habe es gehört, die Flucht, Revolte und Befreiung von Häftlingen zu verhindern, heißt es in der Anklage. Er habe im Wechsel Schichten an sieben Tage in der Woche mit zehn bis 12 Stunden gehabt und stets eine Waffe getragen. In Stutthof wurden schätzungsweise 65.000 Menschen umgebracht. Zu den Tötungsmethoden gehörten gezielter Genickschuss, Vergasung mit dem Gift „Zyklon B“ und die Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen. Über all dies sei der Angeklagte ohne Zweifel informiert gewesen.

  Das könnte Sie auch interessieren:

Verteidiger: „Verfahrensverzögerung von mindestens 60 Jahren“

Vorab hatte Bruno D. in Befragungen durch Polizei und Staatanwaltschaft seine Tätigkeit als SS-Wachmann zugegeben. Sein Mandant stehe zu all diesen Angaben, sagte sein Verteidiger Stefan Waterkamp. In einer verlesenen Erklärung warf er der deutschen Justiz jedoch eine „Verfahrensverzögerung von mindestens 60 Jahren“ vor. Sein Mandant habe bereits 1975 in einem Sammelverfahren und 1982 in einer Vernehmung als Zeuge umfangreiche Aussagen zu seiner Tätigkeit im KZ Stutthof gemacht, so der Rechtsanwalt. Zu einem Ermittlungsverfahren sei es nicht gekommen. „Es interessierte sich 60 Jahre lang in Deutschland niemand für einen einfachen Wachmann, der nicht selbst aktiv an Tötungen beteiligt war.“

Einziger Grund, dass D. nun vor Gericht stehe, sei eine Änderung der Rechtssprechung. Nun müsse sich sein Mandant im hohen Alter für Straftaten in der Jugend verantworten. Er sehe sein ganzes Leben infrage gestellt. Eine Schuld sehe er bei sich nicht, weil er aktiv niemanden umgebracht hat. Erst seit der Verurteilung des KZ-Helfers John Demjanjuk 2011 geriet auch von KZ-Helfern ins Visier der Justiz, denen keine individuellen Verbrechen nachgewiesen werden konnten.

Enkel eines Opfers verfolgte Prozessauftakt in Hamburg

„Helfer wie D. sorgten dafür, dass keiner aus der Hölle von Stutthof entkommen konnte“, sagte Nebenkläger-Vertreter Cornelius Nestler. Seine Mandantin hoffe, dass D. zu einem Dialog über Verantwortung bereit sei. „Es ist eine Frage der Gerechtigkeit.“ Im Namen seiner Mandantin Judy Meisel beschrieb er, wie diese als Teenager ihrer Mutter zum letzten Mal ohne Kleidung vor der Gaskammer des KZ begegnete, bevor die Mutter hineingeführt wurde. Meisel überlebte Stutthof und lebt heute in den USA. Die 94-Jährige ist zu schwach, um zum Prozess anzureisen. Ihr Enkel, der New Yorker Filmemacher Ben Cohen, verfolgte den Prozessauftakt in Hamburg.

Nach den aktuellen Vorfällen in Halle und Kassel sei die Durchführung dieses Verfahrens dringend notwendig, sagt Nebenkläger-Vertreter Christoph Rückel. Die Parallelen zum Judenhass der Nazizeit seien „frappierend“, sagte der Rechtswissenschaftler. Die Durchführung aller rechtsstaatlichen Verfahren seien das beste Heilmittel gegen rechtsradikale Botschaften und Hassbotschaften.

Vertreter des Auschwitz-Komitees vorm Landgericht

In Deutschland laufen einem Bericht zufolge noch 29 Strafverfahren gegen mutmaßliche Nazi-Verbrecher. Vor allem ehemalige Wachleute in Konzentrationslagern seien in den Fokus der Ermittlungen gerückt, hatte der Norddeutsche Rundfunk im September unter Berufung auf Recherchen des NDR-Politikmagazins „Panorama 3“ mitgeteilt. Insgesamt richteten sich die Ermittlungen demnach gegen rund 50 namentlich bekannte Beschuldigte, unter ihnen auch Frauen. In einigen Fällen sei unklar, ob die Tatverdächtigen noch leben.

Bei dem nicht-öffentlichen Prozess in Hamburg gelten strenge Sicherheitsvorkehrungen. Neben Anwälten, Nebenklägern und Presse waren auch Angehörige von D. „zur emotionalen Unterstützung“ sowie Referendare der Rechtswissenschaften und Einzelpersonen „mit besonderem wissenschaftlichem Interesse“ zugelassen. Alle mussten ihre Identität an vier Kontrollen belegen. Vor dem Landgericht hatten sich wenige Vertreter des Auschwitz-Komitees aufgestellt und zeigten ein Banner mit der Aufschrift „Gegen das Vergessen“.