Hamburg. Prozess gegen einen früheren SS-Wachmann im KZ Stutthof. Was den Hamburger Prozess gegen den 93-Jährigen so bedeutsam macht.

Das Leid und der Hunger. Die Schreie. Und der Tod. All die Qualen, die die Gefangenen im Konzen­trationslager Stutthof bei Danzig erlebten, all die perfiden Auswüchse der von den Nationalsozialisten erdachten Vernichtungsmaschinerie sind wieder allgegenwärtig. Wir haben oft gehört, was dort den Inhaftierten angetan wurde. Und doch: Die Details, die jetzt im Hamburger Prozess gegen einen ehemaligen SS-Wachmann genannt werden, erschüttern, schockieren und verstören aufs Neue. Wie können Menschen so unglaublich grausam sein?

74 Jahre ist es her, dass Bruno D. in dem KZ seinen Dienst verrichtete. Ihm wird nicht vorgeworfen, selbst jemanden umgebracht zu haben. Doch der heute 93-Jährige muss sich nun vor Gericht verantworten, weil er die „heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“ habe, heißt es in der Anklage gegen den betagten Mann.

Anklage im Hamburger NS-Prozess: Bis ins Detail Kenntnisse von Tötungen

Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen wird ihm vorgeworfen. Mit einer Waffe habe er Dienst auf den Wachtürmen verrichtet und Arbeitskommandos von Häftlingen bewacht. Der Angeklagte habe teilweise bis ins Detail Kenntnis von den Tötungen gehabt.

Richterin Anne Meier-Göring
Richterin Anne Meier-Göring © Daniel Bockwoldt/Pool via REUTERS

Die Anklage listete die unterschiedlichen Arten auf, wie Menschen umgebracht wurden. Mindestens 30 Opfer kamen demnach durch Genickschüsse ums Leben. Vorher wurde ihnen vorgegaukelt, ihre Größe solle festgestellt werden, deshalb müssten sie sich unterhalb einer Messlatte mit dem Rücken an eine Wand stellen. Dann sei durch einen Spalt in der Wand der jeweilige Gefangene erschossen worden. Sein Leichnam wurde fortgeschafft und das Blut weggespült. Auch das nächste Opfer an der Wand sollte arglos sein.

Video: NS-Prozess in Hamburg

Früherer KZ-Wachmann vor Gericht

weitere Videos

    Mord durch Zyklon B in der Gaskammer

    Eine weitere Tötungsart war der Mord durch Zyklon B in der Gaskammer, so die Anklage weiter. Nicht mehr arbeitsfähigen Menschen wurde demnach erzählt, sie müssten aus hygienischen Gründen gesäubert werden. Jeweils 25 bis 35 Menschen wurden in die Kammer gebracht und dort mit dem Giftgas Zyklon B ermordet. Ihr Todeskampf sei „von großen Qualen gekennzeichnet“ und Schreie aus der Gaskammer und das verzweifelte Rütteln an den Türen von außen zu hören gewesen. Weitere rund 5000 Menschen starben laut Anklage von Oktober 1944 an im sogenannten Judenlager.

    Dort wurden völlig entkräftete Gefangene zu Schwerstarbeit gezwungen. Ihnen wurde systematisch ausreichend Nahrung, Wasser und Hygiene verweigert. Die Menschen seien in ihren Exkrementen gestorben. Zudem habe eine Fleckfieberepidemie, die von November 1944 bis April 1945 grassierte, den Gefangenen entsetzlich zugesetzt. Bruno D. wurde im Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben. Sein Gesundheitszustand gilt als fragil.

    Doch das Gesicht des Mannes, der im Saal Sonnenbrille und Hut ablegte, wirkt deutlich jünger, als es sein Alter vermuten lässt. Auch seine Stimme, mit der er auf die Frage der Vorsitzenden, ob er alles gut verstehe, mit „Jawoll“ antwortete, klang kräftig.

    Bruno D.: Stehe zu früheren Aussagen

    Bruno D. sagte, er stehe zu dem, was er bei früheren Befragungen ausgesagt habe. Damals hatte er bekundet, er sei als Wachmann tätig gewesen und habe ausgemergelte Gefangene gesehen. Er habe die Gaskammern gekannt und aus der Ferne Schreie von Opfern gehört. Die Gefangenen hätten ihm leidgetan.

    NS-Prozess in Hamburg
    NS-Prozess in Hamburg © dpa

    Sein Verteidiger Stefan Waterkamp sagte, sein Mandant sei damals „kein Anhänger des Systems“ gewesen und sei nicht freiwillig in die SS eingetreten. Weil er nicht „kriegsverwendungsfähig“ gewesen sei, sei er zum Wachdienst „verdonnert“ worden. Früher seien nur solche Täter verurteilt worden, die an Tötungen unmittelbar beteiligt waren. „Für die einfachen Wachleute interessierte sich niemand.“ Der Justiz sei seit Jahrzehnten bekannt gewesen, dass der Angeklagte einfacher Wachmann gewesen sei. Wenn er jetzt vor Gericht gestellt werde, sei dies eine „rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung“, sagte der Verteidiger.

    "Das legt das ganze Leben in Scherben"

    Dass Bruno D. „damals auf der falschen Seite gestanden“ habe, sehe der 93-Jährige ein. Aber aus seiner Sicht sei er „nicht schuldig an den Morden“ gewesen. Dass Bruno D. sich im Alter von 93 für Dinge verantworten müsse, die er in seiner Jugend getan habe, lege „sein ganzes Leben in Scherben“.

    Weil der Angeklagte zur Tatzeit 17 beziehungsweise 18 Jahre alt war, wird der Fall vor einer Jugendkammer des Landgerichts verhandelt. 33 Nebenkläger sind zugelassen, auch Überlebende sollen als Zeugen gehört werden. Wegen der „herausragenden zeitgeschichtlichen Bedeutung des Verfahrens“ für die Bundesrepublik würden vom Prozess Tonaufnahmen gefertigt, erklärte die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring. Die Kammer hat zehn weitere Verhandlungstermine bis zum 17. Dezember angesetzt.

    Holocaust: Nicht das "Mastermind", aber teilgehabt

    Efraim Zuroff, Direktor des Simon Wiesenthal Centers, betonte die Wichtigkeit des Prozesses. Allein dass er stattfindet, sei von großer Bedeutung. Auch wenn Menschen vom Range eines Bruno D. nicht das „Mastermind“ des Holocaust seien, hätten sie doch daran teilgehabt, sagte Zuroff. Heute sei der Angeklagte zwar ein alter Mann und wohl auch gesundheitlich geschwächt. „Aber damals war er jung und auf dem Höhepunkt seiner Kraft.“

    Eine Frau, die Stutthof überlebt hat, ist Judy Meisel. An ihrer Stelle ist ihr Enkel Ben Cohen als Nebenkläger im Prozess vertreten. „Ich wünschte, sie könnte hier sein“, sagte Cohen über seine Großmutter. Sie sei im Alter von 14 und 15 in Stutthof gewesen und habe im Januar 1945 bei einem sogenannten Todesmarsch entkommen können. „In Stutthof musste sie miterleben, wie ihre Mutter in der Gaskammer ermordet wurde“, erzählte Cohen. Judy Meisel sei es ihr Leben lang wichtig, über den Holocaust zu informieren. „Was damals passiert ist, ist eine Lehre für uns alle“, so Cohen.

    Dass es zum Prozess komme, sei für die ganze Familie eine „außerordentlich bemerkenswerte Angelegenheit“ gewesen. Er hoffe, dass jeder Tag des Prozesses genutzt werde, die Wahrheit zu erfahren. Seine heute 90 Jahre alte Großmutter habe vor allem die Frage: „Wie konnten die Menschen so etwas tun? Wie konnte jemand Wachmann werden?“

    Prozess gegen 93-Jährigen: Warum erst jetzt?

    74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wird ein früherer SS-Wachmann vor Gericht gestellt. Der Vorwurf lautet „Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen“. Warum geschieht das erst jetzt? Nach der früheren Rechtsprechung der Bundesrepublik wurde eine Beihilfe zum Mord bei KZ–Wachmannschaften der niederen Ränge nur dann gesehen, wenn nachzuweisen war, dass der jeweilige Wachmann eine konkret zu benennende Tötung selber und unmittelbar unterstützt oder selber vorgenommen hat. Erst im Jahr 2011 wurde die Rechtsprechung geändert.

    Hintergrund dafür war ein Urteil gegen den ehemaligen Soldaten der Roten Armee, John Demjanjuk, der im Zweiten Weltkrieg nach seiner Gefangennahme durch die Deutsche Wehrmacht im Vernichtungslager Sobidor seinen Dienst verrichtet hatte. Als erster nicht deutscher untergeordneter NS-Befehlsempfänger wurde der zu diesem Zeitpunkt 89-Jährige im Jahr 2009 vor Gericht gestellt und schließlich am 12. Mai 2011 vom Landgericht München II wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen zu fünf Jahren Haft verurteilt.

    Urteil gegen John Demjanjuk als Vorbild

    Eine konkrete Tat konnte dem Angeklagten individuell nicht zugeschrieben werden. Allein sein Dienst in Sobibor, so das Gericht, reiche aber für eine Verurteilung aus, da Demjanjuk dort „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ gewesen sei. Bevor der Bundesgerichtshof über eine Revision entscheiden konnte, starb der mittlerweile 92-Jährige, sodass das Urteil nie rechtskräftig wurde.

    Erst mit einem weiteren Urteil gegen einen früheren SS-Mann wurde die neue Rechtsprechung höchstrichterlich bestätigt: Im Jahr 2105 wurde Oskar Gröning vom Landgericht Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Diese Entscheidung wurde schließlich 2016 rechtskräftig.

    Bruno D. in Unterlagen identifiziert

    Erst nach der neuen Rechtsprechung aus dem Jahr 2011 begann die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, zuständig für staatsanwaltliche Vorermittlungen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher, nach noch lebenden SS-Angehörigen der niedrigeren Ränge zu suchen.

    Im Zuge der Auswertung von Unterlagen des KZ Stutthof geriet Bruno D. in den Fokus der Ermittlungen. Im Jahr 2016 schließlich gelangte der Fall an die Hamburger Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen vorantrieb. Wegen des fragilen Gesundheitszustandes des betagten Mannes mussten medizinische Gutachten eingeholt werden, bevor im April dieses Jahres Anklage gegen den damals 92-Jährigen erhoben wurde.