Hamburg. Arno Luik rechnet in seinem neuen Buch mit der Bahn ab – allgemein, aber auch wegen der Verlagerung des Fernbahnhofs Altona.
Anfang September erschien Arno Luiks Buch „Schaden in der Oberleitung“ – danach kletterte es in den Bestsellerlisten steil nach oben. Heute um 18.30 wird Luik sein Buch im Bürgersaal des Rathauses vorstellen. Moderieren wird Heike Sudmann (Linke), der Eintritt ist frei.
Hamburger Abendblatt: Sie wohnen in Hamburg und auf der Schwäbischen Alb. Sind Sie heute gut mit dem Zug in die Hansestadt gekommen?
Arno Luik: Der Zug war wie so oft nicht pünktlich. In Frankfurt war die gesamte Region gesperrt – ich kam mit 45 Minuten Verspätung an. Die Stimmung im Zug war ziemlich aggressiv. Aber ich traf jemanden, der ständig in sein Telefon hineinbrüllte – mit interessanten Bahn-Details. Er war voller Frust, rief ins Telefon: „Schon wieder zwei Züge komplett ausgefallen! Das geht doch nicht!“ Es stellte sich heraus, dass er bei der Bahn beschäftigt ist. Wir kamen ins Gespräch. Ich habe ihm mein Buch gezeigt – und er sagte: „Ich kenne das. Aber in Wahrheit ist es noch viel schlimmer.“
Wer ist denn schuld an der Malaise?
Luik: Die versuchte Privatisierung hat das Desaster ausgelöst – wir haben eins zu eins die Fehler der Briten wiederholt. Die Bahn sollte für den Börsengang fit gemacht, dafür sexy werden. Also wurde gespart und gespart – an Menschen, Material, Reparaturen. Man konnte über Jahre von der Substanz leben, weil diese Substanz gut war. Nun rächt sich diese Politik gnadenlos. Wir haben eine unverantwortliche Zerstörung der Infrastruktur erlebt und eine Verschleuderung von Volksvermögen, das über Generationen aufgebaut wurde. Nun ist die Bahn in einem Zustand, der für ein Hochtechnologieland erbärmlich ist. Früher haben wir über die Zustände in Sizilien gelacht, heute lacht Sizilien über uns.
Wie ist das zu erklären?
Luik: Ein Grund: Wir haben über Jahre bahnfremde Manager erlebt – der HSV würde ja auch keinen Topstürmer bei den Basketballern suchen. Genauso aber haben es Politik und Bahn gemacht – unverzeihlich. Noch ein Grund für die Malaise: Viele gute Mitarbeiter wurden über die Jahre hinausgeworfen oder in die innere Emigration getrieben. Die Verletzungen der Mitarbeiter sind enorm. Ich habe bei der Recherche Dinge gehört, die ich in Deutschland nicht für möglich gehalten hätte.
Harsch kritisieren Sie in Ihrem Buch den Umzug des Fernbahnhofs Altona nach Diebsteich. In Hamburg wird das Vorhaben aber nicht so negativ diskutiert.
Luik: Das ist ein ähnliches Beispiel wie Stuttgart 21, nicht ganz so gefährlich und unökologisch, aber aus Verkehrsgesichtspunkten genauso absurd. Wir haben in Altona einen zentralen und behindertengerechten Bahnhof, der perfekte Kopfbahnhof für eine alternde Gesellschaft – übrigens der einzige barrierefreie Fernbahnhof in Hamburg. Und dieser Bahnhof zieht nun aus dem Leben mit rund 250.000 Menschen im Einzugsgebiet an einen Friedhof in Diebsteich, dorthin, wo kaum jemand lebt, in ein Industriegebiet. Tote Hose.
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Viele wollen aber gern in Altona wohnen.
Luik: Es gibt ja Alternativpläne der Initiative Prellblock, die fast genauso viel Wohnungsbau ermöglichen. Die Bahn ist doch nicht dazu da, die verkorkste Baupolitik der Stadt zu lösen. Wir wollen mehr Menschen auf die Schiene bringen – und machen dann solch einen Irrsinn, indem wir ein neues Nadelöhr für den Verkehr schaffen. Der ganze Umzug rechnet sich nur für die Bahn: Sie hat den Bahnhof in Altona verfallen lassen und die Gleisanlage, die sie einstmals geschenkt bekommen hat, für 40 Millionen an die Stadt verkauft, obendrein übernimmt Hamburg auch noch die Sanierung. Und es kommt noch besser: Für den Neubau des Bahnhofs in Diebsteich ist primär der Staat zuständig. Ich sehe den Verkauf der Anlagen noch aus einem weiteren Grund kritisch: Weil die Bahn so viele Gelände und Infrastruktur verkauft hat, scheitert ein Ausbau der Bahnkapazitäten – aber dieser Ausbau wäre nicht nur aus ökologischen Gründen ein Muss. Man verbaut sich die Zukunft.
Im Buch heißt es, wer heute von Hamburg nach Westerland auf Sylt möchte, braucht 36 Minuten länger als 1972, wer von Köln nach Hamburg möchte, sitzt 37 Minuten länger im Zug als 1989. Warum ist das so?
Luik: Das hat viele Gründe. Die Bahn fährt seit Jahren auf Verschleiß, das Material ist marode, die Wartungsintervalle wurden gestreckt, die Gleise sind schlechter in Schuss, sodass man nicht mehr so schnell fahren kann, viele Züge fallen komplett aus. Über 140.000 waren es im Jahr 2017! Die Zahl der Lokführer in Bereitschaft ist reduziert worden. Und die Zahl der Weichen ist fast halbiert worden, weil der frühere Bahn-Chef Hartmut Mehdorn die zu teuer fand! Alles ist auf Kante genäht. Der Sparkurs von früher ließ sich einige Jahre kaschieren – jetzt geht das nicht mehr.
Wie ließe sich die Lage der Bahn schnell verbessern?
Luik: Es gibt wenig Grund für Optimismus. Die Bahn ist in den vergangenen 25 Jahren fast irreparabel zerstört worden. Es wird Jahrzehnte dauern, sie wieder in einen wirklich funktionierenden Zustand zu bringen. In einen Zustand, der einem Hochtechnologieland wie Deutschland würdig ist. Und selbstverständlich sein sollte. Aber diese Bahn ist, wie Schweizer Zeitungen spotten, in einem miserablen Zustand. Schauen Sie sich einfach die Zahlen an: Wenn die Bahn so ein perfektes Netz wie die Schweiz betreiben wollte, müsste sie 25.000 Kilometer Strecke zusätzlich verlegen. Wir haben aber Gleise im großen Stil abgebaut. Heute haben wir in Deutschland noch 33.000 Kilometer – 20 Prozent weniger als vor 25 Jahren. Im selben Zeitraum ist die Zahl der Straßenkilometer um 50 Prozent gewachsen. Da bleibt wenig von dem Versprechen, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen.