Hamburg. Das Tor zum Alten Land gilt als Schmuckstück. Doch bei den Neuenfeldern wächst die Wut auf die hamburgische Politik und Verwaltung.
Backbords der Elbe traut man seinen Augen nicht: Der Stadtteil Neuenfelde, als Tor zum Alten Land von Natur her ein Schmuckstück der Hansestadt, zeigt sich teilweise als Schandfleck. „Von Politik und Verwaltung schnöde links liegen gelassen“, sagen Anwohner. In der Tat präsentiert sich ein mehr als ein Kilometer langer Abschnitt der Hasselwerder Straße, eigentlich eine Schönheit in bevorzugter Lage am Deich, in erbärmlichem Zustand.
Der einstmals grüne Flutschutz wurde seit Monaten nicht gemäht. Der Radweg am Deich, klagen Nachbarn, ist zugewachsen und kaum noch passierbar. Der Asphalt des Fußweges ist großflächig aufgebrochen – eine üble Stolperfalle. Der beschädigte Lichtmast daneben wurde kurzerhand abgesägt, der Stahlstumpf mit Klebeband umwickelt. Ein Geländer am Deich droht umzukippen. Rot-weißes Flatterband soll als Warnung dienen.
Desaster begann mit Bau der Airbus-Landebahn
Die andere Straßenseite, gegenüber dem Deich, wirkt wie der Teil eines verlassenen Dorfes. Mehr als zwei Dutzend Häuser wurden abgerissen. Auf den Grundstücken wuchert Unkraut. Mauern sind eingefallen; Bauschutt liegt herum. Zwischen diesen Bauzäunen stehen ansehnliche Gebäude, bisweilen mehr als 100 Jahre alt, mit rotem Klinker errichtet. Neuenfelde, im Kern rund um den Kirchturm nach wie vor ein entzückendes Dort mit bürgerlichem Charme, erschüttert mit Kontrasten. Verantwortung für den Verfall trägt – natürlich niemand.
Das aktuelle Desaster begann mit dem Bau der Airbus-Landebahn. Diese zerschnitt den Ort massiv. Um Klagen und anderen Ärger im Vorfeld zu vermeiden, kaufte die Stadt Hamburg zwischen 2000 und 2005 rund 50 Häuser an der Hasselwerder Straße auf. Nach und nach zogen die Mieter aus. Parallel wurden diese Wohnimmobilien an die städtische Saga Siedlungs-AG übertragen.
Seit dem Abriss der Gebäude hat sich zumindest eine paradoxe Situation erledigt: In den einst schmucken Einzelhäusern waren neue Heizungen eingebaut worden, um das Mauerwerk zu schützen. Zudem hatte eine Spezialfirma Licht installiert. Bei Dunkelheit sollte ein intaktes, belebtes Dort vorgegaukelt werden. Tatsächlich standen diese Häuser allesamt leer. Dieser Irrsinn ist passé. Tenor heutzutage dennoch: Mit der Landebahn haben fast alle Bürger ihren Frieden geschlossen, mit dem verkommenen Quartier keinesfalls.
Leerstand und Verfall empören die Bürger
„Es ist ein Schandfleck, der Gästen unseres Dorfes einen Schreck einjagt“, sagt Reinhard Behrendt bei einem Lokaltermin. Besonders an den Wochenenden kommen viele Spaziergänger und Radfahrer. Der 62-Jährige, selbstständiger Elektromeister mit acht Angestellten und Vorsitzender des Reit- und Fahrvereins Neuenfelde, kennt jeden Meter vor Ort – und etliche der fast 5000 Einwohner.
Das Schützenfest im Juni, ein am zweiten Augustwochenende mit großem Anklang organisiertes Dressur- und Springturnier sowie der Neuenfelder Markt traditionell am ersten Sonnabend im September konnten und können nicht mit dem gewohnten Stolz veranstaltet werden. „Weil die Schwachstellen unübersehbar sind“, weiß Behrendt. „Reinhard snackt Platt, aber keinen Unfug“, heißt es im Dorfe. Vor allem nimmt der Mann kein Blatt vor den Mund. Sein Vater betrieb hier einen Brennstoffhandel. Er sprach gleichfalls frank und frei.
Kritik an der Saga
Auch Hermann Jonas, dessen Familie einen Obsthof bewirtschaftet, schätzt klare, schnörkellose Worte. „Ich bin sauer, dass die Saga nicht in die Pötte kommt“, meint der frühere Landesbereichsführer der Freiwilligen Feuerwehr Hamburg mit seinerzeit 2600 Aktiven. Sein Fazit: „Wir Neuenfelder fühlen uns im Stich gelassen.“ Trotz seines offenen Visiers und seines streitbaren Geistes ist Jonas vor Ort hoch angesehen.
Bevor wir weiter am Deich entlanggehen und andere Nachbarn befragen, sollen die Adressaten der Vorwürfe zu Wort kommen. „Elf Bauanträge mit 43 Wohnungen werden zurzeit geprüft“, sagt Dennis Imhäuser im Namen des für Neuenfelde zuständigen Bezirksamts Harburg. Die Deiche würden nach Plan zwei- bis dreimal jährlich gemäht: „Außerdem gibt es ökologische und umweltschützende Abwägungen.“
„Die Saga-Unternehmensgruppe hat die Bestände in Neuenfelde am 1. Juli 2015 übernommen“, erläutert Firmensprecher Gunnar Gläser, „und sogleich damit begonnen, Maßnahmen zur Wiederbelebung und Neuvermietung sowie den Zustand der einzelnen Gebäude zu prüfen.“ Unter dem Strich würden Anzahl der Wohnungen und der Wohnkomfort steigen. Ein Bauantrag sei eingereicht. Sobald die Genehmigungen vorliegen, „kann mit dem Bau auf den derzeit brach liegenden Grundstücken begonnen werden.“ Als „Bestandshalterin“ veräußere die Saga grundsätzlich keine Objekte in Neuenfelde.
Viele finden kein Grundstück
„Ich suche händeringend ein Grundstück im Ort und kann nicht bauen“, sagt Henning Pöppe (29), ein Ingenieur und stellvertretender Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Neuenfelde-Nord. Reinhard Behrendts Sohn Hauke, 25 Jahre alt und ebenfalls Elektromeister im Familienbetrieb, fügt hinzu: „Generell gibt es keine Bauplätze in Neuenfelde. Man kann nichts Eigenes schaffen.“ Ebenso wie seine vier Jahre ältere Schwester Johanna, eine Erzieherin in der lokalen Kita, schätzt er die Verwurzelung im Heimatdorf, das soziale Umfeld mit regem Vereinsleben und gute, nachbarschaftliche Kontakte.
Eine wie der andere preisen die Pluspunkte Neuenfeldes – unabhängig von den offensichtlichen Schandflecken. Daran ändert auch nicht das Schicksal vergleichbarer Dorfschaften: Das Geschäftsleben in Neuenfelde ist seit Jahren arg ausgedünnt. Statt einstmals drei Banken ist nur noch die Volksbank präsent. Hinzu kommen eine Drogerie, ein Supermarkt, drei Elektrofirmen, zwei Tischler und ein Klempner. Bedeutendster Arbeitgeber vor Ort ist das Schiffbauunternehmen Pella Sietas am Fährdeich mit gut 300 Mitarbeitern. Die 1635 gegründete Sietas-Werft befindet sich heute in russischem Besitz.
Tradition und Lebensqualität
Zur Freude der Neuenfelder haben zwei Restaurants und die angestammte Dorfkneipe „Zur Alten Eiche“ allen wirtschaftlichen Stürmen getrotzt. Hoch im Kurs stehen der Sportverein Este 06/70 mit rund 900 Mitgliedern, der Reit- und Fahrverein mit einer schmucken Halle sowie gleich zwei Feuerwehren, entstanden aus den Bereichen Nincop und Hasselwerder.
„Wir halten Tradition und Lebensqualität hoch“, sagt Reinhard Behrendt während einer Pause am Deich. „Umso bedauerlicher, dass es hier teilweise wie Kraut und Rüben aussieht.“ Und zwar aus seiner Sicht dort, wo Stadt und Saga beteiligt sind. „Wir Privatleute“, fügt er hinzu, haben unsere Häuser und Gärten prima in „Schuss.“
„Lange waren die Häuser verkommen“
Spontan gesellt sich Corine Veithen zur Diskussionsrunde am Deich an der Hasselwerder Straße. Genau dort lebt die Bezirksabgeordnete der Grünen seit 2004 – in einem vermutlich Anfang des vergangenen Jahrhunderts errichteten Klinkerhaus. Das vom Grund her schöne Gebäude befindet sich zwischen zwei leer stehenden Grundstücken. Das eine Nachbarhaus wurde in diesem Jahr abgerissen. Jetzt wuchert Unkraut. Eine Steinmauer ist umgestürzt. Schutt liegt herum.
„Lange waren die Häuser hier leer und verkommen“, sagt Frau Veithen. „Und nun müssen wir mit diesen Brachflächen leben.“ Neuenfelde, meint die Projektleiterin bei einem Ökostromanbieter, „befindet sich nicht auf dem Radar Hamburger Politik“. Vater und Tochter Behrendt sowie Hermann Jonas nicken zustimmend. Jonas, dessen Familie seit etwa zwei Jahrhunderten alle möglichen Obstsorten anbaut und verkauft, sieht der Entwicklung seines Heimatortes dennoch optimistisch entgegen: „Im Februar steht die Bürgerschaftswahl an. Vorher müssen die Politiker ja in die Hufe kommen.“