Hamburg. Grüner Umweltsenator wirft Sozialdemokraten vor, mehr Tempo 30 und klare Vorgaben für den Flughafen zu verhindern.

Wenn es um seine eigenen Themen geht, ist Hamburgs grüner Umweltsenator Jens Kerstan nicht immer der größte Diplomat des Senats. Mit unmissverständlichen Ansagen, auch in Richtung SPD, weiß er seine Anliegen durchzusetzen – und zur Not auch mal Alarm zu schlagen, wenn Umwelt- oder Klimaschutz zu kurz kommen. Deswegen ist der 53-Jährige nicht nur für viele in der SPD, sondern auch für manche Vertreter der Wirtschaft und für den einen oder anderen passionierten Autofahrer ein rotes Tuch.

Grüne und andere Freunde der Nachhaltigkeit dagegen loben seine Durchsetzungsfähigkeit. Dabei hat Kerstan derzeit die wohl größten Projekte im Senat zu stemmen, etwa den milliardenschweren Umbau der Fernwärme. Im Abendblatt-Interview spricht der Senator über seine Wärmepläne, den ewigen Streit mit der SPD über mehr Lärmschutz, die Harley Days, eine grüne Kanzlerschaft – und am Anfang auch gleich über seine eigenen Klimasünden.

Hamburger Abendblatt: Herr Kerstan, ganz Deutschland debattiert intensiv über Klimaschutz, und Sie als Umweltsenator fliegen nach eigener Aussage zwei- bis dreimal im Jahr nach Mallorca, wo ihre Familie ein Haus besitzt. Wie passt das zusammen?

Jens Kerstan: Das ist meine persönliche Zwickmühle, ich versuche das in meiner Gesamtbilanz wieder auszugleichen soweit das geht. Mein Dienstwagen ist eine Elektroauto, ich fahre sonst wenn möglich Bahn und Fahrrad und zahle auch einen CO2-Ausgleich, zu Hause habe ich Solarenergie aufs Dach gebaut. Allerdings kann man nach Mallorca nicht mit dem Rad fahren. Ich setze mich politisch für eine Kerosinsteuer und eine CO2-Steuer ein. Und dafür dass innerdeutsche Flüge in naher Zukunft nicht mehr zulässig sind. Vorher muss aber die Bahn noch deutlich besser werden.

Essen Sie Fleisch, das ja nicht nur aus Tierschutzaspekten, sondern auch bei der Klimabilanz problematisch ist?

Kerstan: Ich gestehe: Ich mag Mettbrötchen, ein gutes Steak und auch mal Currywurst. Aber ich versuche, meinen Konsum zu reduzieren, derzeit bin ich bei zwei- oder dreimal die Woche. Qualität statt Menge ist ein guter Weg dabei.

Auch Ihre Antworten zeigen: Es ist nicht einfach, einwandfrei zu leben und dem moralischen Druck beim Klimaschutz immer gerecht zu werden. Kann der Einzelne überhaupt genug tun – oder braucht man mehr radikale politische Regelungen?

Kerstan: Es ist schon wichtig, dass jeder seinen Lebensstil hinterfragt und auch sein persönliches Verhalten ändert, wo das möglich ist. Es muss darum gehen, dass wir künftigen Generationen einen Planeten hinterlassen, auf dem man leben kann. Am Ende sind die Entscheidungen des Einzelnen aber auch durch den Rahmen geprägt, den die Politik setzt. Deshalb warne ich davor, die ganze Verantwortung nur den einzelnen Menschen zuzuschieben – während Politik und Wirtschaft weitermachen wie bisher. Gerade Menschen mit kleinem Einkommen haben oft nicht die Wahl, für ökologischere Angebote mehr Geld auszugeben. Neben persönlichen Verhaltensänderungen braucht es auch politische Vorgaben.

Der moralische Druck durch Greta und die „Fridays for Future“-Demonstrationen ist hoch. Wer heute ein Foto aus dem Überseeurlaub oder vom Grillen postet, muss schon fast mit einem Shitstorm rechnen. Ist das nicht allmählich ein wenig hysterisch?

Kerstan: Der moralische Anspruch erzeugt einen gewissen Stress und Druck, das stimmt. Andererseits hat er auch eine große und positive Dynamik erzeugt. Ohne Greta und die engagierten Jugendlichen wäre Klimaschutz vermutlich derzeit kein Topthema in der Gesellschaft und in der Politik. Das Gute ist: Wir haben jetzt die Chance, dass endlich ernst gemacht wird bei der Suche nach Lösungen.

Gerade das Reisen ist in Verruf geraten. Dabei ist das Kennenlernen anderer Kulturen ja auch für junge Menschen wichtig, um eine gewisse Weltoffenheit zu erlangen, oder?

Kerstan: Ja, unbedingt. Ich möchte auch nicht, dass kommende Generationen nur den Teil der Welt kennenlernen, den man mit dem Fahrrad erreicht. Aber da muss man abwägen: Während sich Interkontinentalflüge schwer ersetzen lassen, sind Inlandsflüge und oft auch Flüge in Europa meist nicht nötig. Damit das klappt, müssen wir die Bahn viel besser machen, da könnten wir uns etwa Japan zum Vorbild nehmen, wo die Bahn extrem schnell und zuverlässig ist. Außerdem sind viele Flüge auch durch Videokonferenzen ersetzbar. Wir müssen zudem eine schnelle technologische Weiterentwicklung der Flugtechnik fördern. In unserer immer vernetzteren Welt wäre schon viel gewonnen, wenn es uns gelänge, das weitere Anwachsen des Flugverkehrs zu bremsen. Deswegen brauchen wir umwelt- und klimaschonendere Treibstoffe, synthetische Kraftstoffe oder Wasserstoffantriebe zum Beispiel. Die Politik muss hierbei auch noch stärker regulieren, damit Entwicklungen marktfähig werden.

Wie?

Kerstan: Wir brauchen endlich eine Kerosinsteuer, bisher wird das Fliegen ja quasi bezuschusst, weil anders als auf Benzin oder Diesel keine Steuern erhoben werden. Eine solche Regelung müsste am besten europaweit gelten, doch wir müssen auch ernsthaft schauen, was national geht. Das würde Menschen dazu bringen, auf unnötige Flüge zu verzichten. Und wir sollten schnell eine sozial gerecht gestaltete CO2-Steuer einführen, das ist ein sehr vernünftiger Ansatz. Damit kann man eine gute Dynamik erzeugen, die CO2-Sparer belohnt und Klimasünder zur Kasse bittet. Auch über Tempolimits auf Autobahnen sollte man ernsthaft reden – und darüber, insgesamt weniger Autobahnen zu bauen und dafür die Bahn endlich richtig fit zu machen.

Neben dem Klimaschutz haben Sie mit dem milliardenschweren Fernwärme-Umbau, Fahrverbotsstreit und einem verspäteten Lärmaktionsplan viele weitere große Themen zu bearbeiten. Wächst da auch die Gefahr des Scheiterns?

Kerstan: In der Tat haben wir in meiner Behörde viele dicke Bretter zu bohren. Wir haben es mit umstrittenen, wichtigen und anspruchsvollen Themen zu tun. Der Umbau der Fernwärme ist der größte Einzelbeitrag, um Hamburgs Klimaschutzziele zu erreichen. Allerdings braucht so ein Umbau seine Zeit. Ich bin aber sicher, dass wir das erfolgreich hinkriegen.

Die Abschaltung des alten Kohlekraftwerks Wedel wird immer weiter verschoben, mit einem neuen Gaskraftwerk auf Dradenau gibt es eine gravierende Planänderung. Das wirkt, als komme man nicht recht zu Potte.

Kerstan: Ich verstehe, dass manche ungeduldig werden. Wir haben aber erst 2015 entschieden, das von Olaf Scholz geplante neue Kraftwerk in Wedel nicht zu bauen. Und jetzt haben wir ein bundesweit beachtetes Ersatzkonzept mit einem hohen Anteil an klimafreundlichen Energien, das noch 2019 in die Planfeststellung gehen soll. Damit sind wir schneller als jedes vergleichbare Projekt. Dabei muss man auch sehen, dass das Konzept noch kurzfristig geändert werden musste.

Warum?

Kerstan: Ich hatte zunächst eine Planung vorgelegt, die fast komplett auf erneuerbare Energien setzte. Die Wärme muss langfristig für Kunden bezahlbar bleiben. Wir haben uns daher aus Kostengründen entschieden, als Übergangslösung etwa 50 Prozent Gas für die Wärme zu nutzen.

Weil SPD-Bürgermeister Tschentscher null Prozent Preisanstieg versprochen hat?

Kerstan: Wir als Senat haben zugesichert, dass die Wärmepreise nicht mehr steigen sollen als bei anderen Energieträgern. Das setzen wir um.

Gas ist aber als fossiler Brennstoff auch klimaschädlich.

Kerstan: Ja, ich hätte diesen Zwischenschritt auch lieber vermieden. Aber wir brauchen das Erdgas, um Abwärme und erneuerbare Energien mit ihren relativ niedrigen Temperaturen in unser Hochtemperaturnetz zu integrieren. Und wir werden das Kraftwerk so bauen, dass es später auch mit anderen Brennstoffen arbeiten kann. Später wollen wir die Wärme klimaneutral erzeugen – auch mit diesem neuen Kraftwerk.

Ein Nadelöhr bleibt die nötige Leitung unter der Elbe. Kritiker sagen, man könne die Wärme auch gleich im Nordwesten erzeugen, wo sie gebraucht wird.

Kerstan: Das ist Unsinn, denn nördlich der Elbe gibt es kaum Potenziale für erneuerbare Energien, die wir beim Südszenario aber zu 50 Prozent dabeihaben – industrielle Abwärme oder Müllverwertung zum Beispiel. Jede Änderung am Südszenario würde dafür sorgen, dass das Kohlekraftwerk Wedel etliche Jahre länger laufen müsste. Ich verweise da auch auf die Volksinitiative „Tschüss Kohle“, die sich mit uns geeinigt und aufgerufen hat, nicht gegen die Elbleitung zu klagen.

Ein frommer Wunsch. Es wird ja schon für Klagen Geld gesammelt.

Kerstan: Wenn geklagt wird, gehe ich davon aus, dass wir vor Gericht gute Karten haben, und hoffe, dass kein Baustopp verhängt wird. Die Leitung läuft nach jetziger Planung nicht über Privatgrund, es werden nur wenige Dutzend Bäume gefällt. Das ist alles vertretbar. Ich hoffe daher, dass wir nun zügig vorankommen. Unser Ziel ist es, mit dem neuen Fernwärmesystem 2023 in den Probebetrieb zu gehen.

Das Thema Fernwärme bindet viel Kraft. Ist das der Grund dafür, dass Sie den Lärmaktionsplan zum Schutz der Hamburger vor gesundheitsschädlichem Lärm immer noch nicht vorgelegt haben – obwohl er laut EU-Vorgaben im Juli 2018 fertig sein musste?

Kerstan: Mir ist es wichtig, dass wir einen Plan vorlegen, der auch umgesetzt wird und der die Betroffenen wirklich vor Lärm schützt. Von dem 2013 vom SPD-Alleinsenat vorgelegten Plan sind große Teile nicht umgesetzt worden – auch weil es an vielen Stellen nur Prüfaufträge statt Vorgaben gab. Da ist jahrelang geprüft worden, und am Ende ist wenig passiert. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, an zehn Straßen Tempo 30 nachts einzuführen, das hat aber bis zur Umsetzung viereinhalb Jahre gedauert. Dabei war klar, dass man das an 20 Straßen ohne jede Beeinträchtigung hätte machen können, aber im Koalitionsvertrag waren nur die zehn Straßen vereinbart. Wir wollen als Grüne neue und konkrete Maßnahmen vereinbaren, aber für manche Behörden spielt Lärmschutz leider keine wichtige Rolle. Bei der Erarbeitung des neuen Plans gibt es mit dem Koalitionspartner bisher nur an drei von 47 Lärm-Brennpunkten eine Einigung auf Maßnahmen. Das ist noch viel zu wenig. Das ist der Grund für die Verzögerungen.

Was haben Sie der SPD vorgeschlagen?

Kerstan: Wir haben mehr als 100 Straßen mit einer Belastung von mehr als 65 Dezibel tagsüber in der Stadt identifiziert. Das ist für Anwohnerinnen und Anwohner wirklich gesundheitsgefährdend. Wir wollen konkrete Maßnahmen für diese Straßen, etwa das Vorziehen der Sanierung mit Flüsterasphalt oder den Bau von Fahrradstreifen, um den Abstand des Autoverkehrs zu den Wohnungen zu erhöhen. Wir wollen insgesamt mehr Tempo 30 bei Tag und Nacht. Und der Flughafen muss, wenn er weiter wachsen will, zusichern, dass er insgesamt nicht lauter wird. Insbesondere bei dieser Forderung beißen wir gerade auf Granit.

Trotz der EU-Vorgaben?

Kerstan: Bei der Luftreinhaltung gibt es ja sehr konkrete Vorgaben der EU, beim Lärmschutz dagegen nicht. Da gibt es lediglich die Pflicht, Lärmkarten und Lärmaktionspläne zu erstellen. Deswegen brauchen wir eine Einigung mit der SPD im Senat. Die Gespräche dazu sind leider zäh und mühsam.

Passen die Harley Days noch in diese Zeit?

Kerstan: Ich habe schon immer gefremdelt mit dieser Veranstaltung. Im Jahr der Umwelthauptstadt 2011 hat Schwarz-Grün ja mal versucht, sie für ein Jahr auszusetzen. Das hat einen stadtweiten Aufruhr gegeben. Ich hoffe, dass sich das Bewusstsein verändert hat. Der Vertrag läuft im kommenden Jahr aus und sollte aus meiner Sicht nicht mehr verlängert werden. Das ist keine Veranstaltung, die wir hier in Hamburg brauchen.

Bei der Luftreinhaltung hätten Sie mit Ihren Dieselfahrverbötchen Symbolpolitik gemacht, behaupten ihre Gegner. Denn alte Diesel sind dadurch Umwege gefahren und haben mehr Dreck in die Luft gepustet. Würden Sie das heute wieder so machen?

Kerstan: Wir hatten da keine andere Wahl. Hätten wir das nicht so entschieden, dann hätten es die Gerichte gemacht. Mittlerweile sind wir auf einem guten Weg, die Stickstoffdioxid-Werte gehen nach unten. Das hat auch damit zu tun, dass weniger Dieselautos gekauft werden.

Während in den Hafen immer noch die größten Dreckschleudern einfahren.

Kerstan: Wir arbeiten mit Hochdruck an Lösungen. Bald werden wir zum Beispiel Landstrom auch für Containerschiffe anbieten, sodass die Schiffsdiesel im Hafen nicht durchweg laufen müssen. Wir müssen natürlich dafür sorgen, dass dieser Landstrom dann auch genutzt wird. Das geht entweder über den Preis oder über eine Verpflichtung. Wir sollten auch LNG, also verflüssigtes Erdgas, als Übergangstechnologie stärker nutzen. LNG hat auch Nachteile, aber bei den Luftschadstoffen ist es gegenüber Schweröl klar im Vorteil.

Die Grünen sind auf dem Weg, eine Volkspartei zu werden. Müssen Sie eine Bürgermeisterkandidatin für 2020 aufstellen?

Kerstan: Katharina Fegebank ist unsere Spitzenkandidatin. Wer will, dass sie Bürgermeisterin wird, kann sie wählen. Ich weiß nicht, ob so ein Titel dafür nötig ist.

Kann es sein, dass viele Menschen die Grünen derzeit zur Gewissensberuhigung wählen – im Grunde aber gar keine Lust auf große persönliche Einschränkungen haben?

Kerstan: Ich nehme wahr, dass die Menschen uns zutrauen, Probleme zu lösen. Die Grünen besitzen eine hohe Glaubwürdigkeit. Dabei muss jedem bewusst sein, dass wir tiefgreifende Veränderungen anstoßen müssen, wenn wir regieren. Bei der Entwicklung des Klimas ist das nötig und dringlich. Es wird immer klarer, dass es Kipppunkte gibt, nach denen wir womöglich nicht mehr viel retten können. Jeder, der Kinder, Nichten und Neffen hat oder dem die nächsten Generationen am Herzen liegen, weiß, dass wir jetzt etwas tun müssen und nicht irgendwann. Uns bleibt nur noch wenig Zeit.

Was würde sich mit stärkeren Grünen in Hamburg ändern?

Kerstan: Wir würden noch mehr für Lärm- und Klimaschutz, für bessere Luft und die Energiewende tun, mehr Tempo 30 einführen, Radverkehr, ÖPNV und Zufußgehen noch stärker fördern. Ich selbst bin auch Fan einer autofreien Innenstadt. Aber ich gehe nicht davon aus, dass wir eine absolute Mehrheit holen.

Wenn die Grünen knapp hinter der SPD landen, mit CDU und FDP aber in einer Jamaika-Koalition die erste Hamburger Erste Bürgermeisterin stellen könnten – würden Sie der SPD dann den Rücken kehren?

Kerstan: Da gilt, was wir immer sagen: Es geht in erster Linie darum, möglichst viele grüne Inhalte durchzusetzen. Wenn das besser mit der SPD geht, dann machen wir es so. Wenn sich aber herausstellt, dass wir mit einer grünen Bürgermeisterin in einer anderen Konstellation mehr für Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz in Hamburg bewegen können – warum sollten wir dann auf diese Möglichkeit verzichten? Aber das ist Spekulation. Unsere Präferenz ist es nach wie vor, zusammen mit der SPD zu regieren.

Und wer wäre die beste grüne Kanzlerkandidatin oder der beste Kanzlerkandidat im Bundestagswahlkampf?

Kerstan: Wenn wir überhaupt eine Kanzlerkandidatur machen, dann kann ich mir Annalena Baerbock genauso gut als Bundeskanzlerin vorstellen wie Robert Habeck.