Hamburg. Mit der Gewissensfreiheit ist es in der Praxis nicht immer so einfach: Der Fernsehmoderator und Sänger trägt Artikel 38 vor.
Manchmal kann ein Provisorium ziemlich gut sein und ganz schön lange halten. Als am 23. Mai 1949 das Grundgesetz in Kraft trat, war es zunächst nur als Zwischenlösung gedacht. Heute verdient dieses Grundgesetz eine kleine Hymne. Es ist die Grundlage einer demokratischen Ordnung, die es in Deutschland so noch nie gegeben hat. Viele Länder beneiden uns darum. Den Müttern und Vätern der Verfassung ist in kürzester Zeit ein großer Wurf gelungen. Die Entstehung des Grundgesetzes ist auch ein Beispiel dafür, wie effektiv Politik sein kann.
Nun hat die Abendblatt-Redaktion mir den Artikel 38 des Grundgesetzes anvertraut. Es dürfte kaum einen Artikel im Grundgesetz geben, der in einem größeren Widerspruch zur gelebten politischen Realität steht. … die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen unterworfen ... Seien wir ehrlich: Oft sind die Zwänge des Regierungsbetriebs wichtiger als das Gewissen des einzelnen Abgeordneten. Das bestes Beispiel dafür liefert immer noch die Abstimmung am 16. November 2001.
Kampf ums eigene Gewissen
Kanzler Gerhard Schröder hatte das Votum über den Einsatz der deutschen Bundeswehr im Rahmen der „Operation Enduring Freedom“ mit einer Vertrauensfrage verbunden und damit das Gewissen der rot-grünen Koalition ganz schön strapaziert. Der Kanzler setzte also sein Amt aufs Spiel. Damit begann für viele rot-grüne Abgeordnete der Kampf ums eigene Gewissen. Christian Ströbele nannte diese Domestizierung durch den Kanzler damals ein „Fast-Martyrium“. Für die rot- grüne Regierung ging es gerade noch mal gut. Kanzler Gerd Schröder bekam zwei Stimmen mehr als nötig. Tränen flossen im Bundestag. Die Nerven lagen blank.
Der Fall offenbart, dass es mit der Gewissensfreiheit in der Praxis nicht immer so einfach ist, wie Artikel 38 es uns erzählt. Trotz dieser kleinen Schwäche bin ich ein Fan unseres Grundgesetzes und der liberalen Demokratie. Gerade jetzt – in Zeiten von Trump, Brexit und den Wahlerfolgen von Rechtspopulisten. Ein Hoch auf unser Provisorium!