Hamburg. Der Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“ zitiert Artikel 5. „Jeder hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern. “
Ich kenne kein Provisorium, das so beständig und verlässlich wirkt wie das Grundgesetz. Ein Provisorium ist es deshalb, weil es ursprünglich abgelöst werden sollte durch eine Verfassung aller Deutschen. Es ist das einzige Papier, auf das sich die allermeisten Deutschen einigen können. Es ist kurioserweise etwas, was deutsche Politiker erst gar nicht wollten. Das wird heute häufig verdrängt. Eigentlich verdanken wir das Grundgesetz den Besatzungsmächten. Sie schlugen es den deutschen Ministerpräsidenten vor, die aus unterschiedlichen Gründen eher skeptisch waren.
Ihre größte Sorge war, dass es die Trennung von der sowjetischen Besatzungszone zementieren würde. Ob es überarbeitungsbedürftig ist? Es ist ja bereits an mehr als 60 Stellen angepasst worden. Es gibt aber auch Punkte, die durch eine sogenannte Ewigkeitsklausel geschützt sind, in denen nicht herumgefuhrwerkt werden kann. Das erklärt sich aus der Zeit heraus, in der das Grundgesetz entstanden ist: Es wurde nur wenige Jahre nach dem verbrecherischen Schreckensregime verabschiedet, von dem die Deutschen befreit worden waren. Natürlich enthält es Dinge und Formulierungen, die aus einer anderen geschichtlichen Situation heraus entstanden sind.
Schrecken des Dritten Reichs
Der Asylrechtartikel etwa ist geschrieben worden mit einer ganz anderen Tragödie im Hinterkopf als die, die aktuell stattfindet: Nämlich mit Blick auf die Schrecken des Dritten Reichs. Es wurde zwar 1993 geändert, aber ich denke, dass die heutige Praxis des Asylrechts außerhalb der Vorstellung der Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes war. Durch den gesamten Text zieht sich ein starkes Misstrauen gegen jede Form von Machtbündelung.
Deshalb sind die Befugnisse eines Präsidenten gering, das Föderale und der rechtliche Instanzenweg jedoch sehr stark. Weder sollte ein Präsident je wieder die Möglichkeit haben, eine Regierung abzusetzen, noch ein Parlament Grundrechte aushebeln können. Und nie wieder sollten Wähler die Möglichkeit haben, die Demokratie abzuschaffen. Das waren drei Prinzipien einer wehrhaften Demokratie.
Grundgesetz hat offenbar auch Sex-Appeal
Die Sprache des Textes vergleiche ich nicht mit der Sprache in einem Stück Belletristik oder einer Reportage. Doch ist sie erstaunlich klar. Dass das Grundgesetz offenbar auch etwas Sex-Appeal hat, zeigt sich daran, dass es vergangenen Herbst im Hochglanzformat erschienen ist und sich wohl richtig gut verkauft. Mit dem Artikel 5, der die Meinungs- und auch die Pressefreiheit regelt, ist im Prinzip alles gesagt, was dieses Grundrecht ausmacht, beziehungsweise ausmachen sollte. Und deshalb ist der Satz „Eine Zensur findet nicht statt“ von so ungeheurer Wucht. Genauso wichtig ist jedoch die Formulierung, wo die Grenzen der Pressefreiheit liegen. Es gab damals weder eine richtige Boulevardpresse noch massive Verletzungen der Persönlichkeitsrechte. Und trotzdem scheint es so, als wenn der Artikel auch für solche Blätter und Fälle geschrieben worden sei.
Ich glaube, dass es in diesem Land momentan nicht nur eine Verunsicherung, sondern auch eine gewisse Wohlstandsverwahrlosung gibt. Und zwar in dem Sinne, dass Dinge als gottgegeben angesehen werden, die eigentlich überhaupt nicht selbstverständlich sind. Insofern steht uns ein wenig Feiern gut zu Gesicht, nach dem Motto: Wir sind uns des Geschenkes des Grundgesetzes bewusst. Der Text enthält alles, was dieses Land lebenswert und demokratisch macht. Und das in einer Zeit, in der es so wenig Halt gibt, da so viele Bindungen, die früher bestanden, zerfallen. Ich denke da etwa an die schwindende Kraft der Kirchen.
Gesellschaften brauchen Werte
Aber auch daran, dass viele Menschen von den Eliten in Deutschland enttäuscht sind und die Bindung der Parteien abgenommen hat. Das spüren die Leute und leiden darunter. Gesellschaften brauchen Kitt und Leitplanken, sie brauchen Werte. Fehlen sie ganz, verfallen Menschen in Zwangshandlungen, in manische Selbstoptimierung oder in politischen Fanatismus. Auf diese Weise setzen sie sich gewissermaßen Grenzen, die sie anderswo nicht mehr finden. Insofern ist es nur gut, wenn das Grundgesetz einen gewissen patriotischen Stolz weckt, den wir ruhig zulassen sollten. Denn dieses Grundgesetz ist das Fundament unserer Freiheit.