Gerhard Strate: Was dem Rechtsanwalt der Artikel 97 bedeutet: „Die Richter sind unabhängig“.

Das Grundgesetz ist das Gesetz, in das ich am meisten reinschaue. Das Grundgesetz prägt unsere Rechtsordnung in vielerlei Hinsicht. Im Strafprozess zum Beispiel hat es für alle Vorschriften eine stark prägende Wirkung. Als ich mit meiner Anwaltstätigkeit begonnen habe vor etwa 40 Jahren, war es noch selbstverständlich, dass einem Anwalt die Akteneinsicht versagt wird. Dann hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Artikel 103 hergeleitet, dass jedenfalls in den Fällen, in denen ein Verdächtiger in Untersuchungshaft sitzt, der Fairnessgrundsatz und vor allem der Anspruch auf rechtliches Gehör es gebieten, dem Anwalt unmittelbar nach der Inhaftierung Akteneinsicht zu gewähren, um es ihm zu ermöglichen, sich mit dem jeweiligen Vorwurf auseinandersetzen zu können.

Grundstruktur unserer Gesellschaft

Es ist auch so, dass häufig für mich das Bundesverfassungsgericht bei Auseinandersetzungen um Revisionen und Wiederaufnahmeverfahren, die ich oft betreibe, die letzte Instanz ist, wenn Grundrechte beeinträchtigt werden. Wenn man das Grundgesetz insgesamt betrachtet, ist es die Grundstruktur, die unserer Gesellschaft insgesamt unterlegt ist, nicht nur juristisch, sondern auch in der Lebenswirklichkeit.

Es gibt viele Länder auch innerhalb Europas, die kein Verfassungsgericht haben, das die Grundrechte durchsetzt, zum Beispiel Frankreich. Das Grundgesetz hat bei uns eine ähnlich starke Wirkung wie die US-Verfassung mit ihren Zusatzartikeln in den USA. Der Gedanke der Gleichberechtigung etwa hat die Gesellschaft bestimmt und sich auch weiterentwickelt. Alle sind vor dem Gesetz gleich.

Wirksam durch Bundesverfassungsgericht

Stetig wurde die Prägekraft des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht entfaltet. Es zeichnet sich durch große Kontinuität in seiner Rechtsprechung aus. Ohne das Verfassungsgericht wäre das Grundgesetz nicht wirksam geworden. Auch die Pressefreiheit wurde maßgeblich durch das Verfassungsgericht geprägt.

Und der Artikel 97: „Die Richter sind unabhängig“. Es gibt diese Unabhängigkeit tatsächlich. Ich habe sie auch immer wieder erlebt. Es gibt aber auch Gesetze, die die Urteilsstruktur vorprägen. Was ich für verhängnisvoll halte: Dasselbe Gericht, das über die Zulassung einer Anklage zur Hauptverhandlung entscheidet und damit einen Angeklagten für hinreichend verdächtig und eine Verurteilung für wahrscheinlich erachtet, verhandelt auch später über den Fall.

Das bedeutet: Das Gericht hat sich zu ungefähr 70 Prozent schon festgelegt, dass es zu einer Verurteilung kommen wird. Natürlich gibt es trotzdem Entscheidungen, die mit einem Freispruch enden. Aber es ändert nichts daran, dass die Richter mit einem Vor-Urteil in den Prozess gehen. Die Aufgabe der Rechtsanwälte ist es, aus dem Vor-Urteil ein Urteil zu machen.

Insgesamt lässt uns unsere Verfassung auf einer Insel der Glückseligen wohnen. Man sollte sich bewusst sein, dass uns das Grundgesetz ein hohes Maß an Freiheit gewährt, die in kaum einer anderen Gesellschaft so existiert.