Hamburg. Die Bischöfin trägt aus dem Grundgesetz Artikel 4 vor: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit sind unverletzlich.
Nach den Erfahrungen der NS-Diktatur und der Überhöhung des Staates ist es verständlich, dass unser Grundgesetz den Grundrechten des Einzelnen einen hohen Stellenwert einräumt. Sie stehen in 19 Artikeln gleich am Anfang unserer Verfassung und sind besonders geschützt, dürfen also in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden. Dazu zählt auch der Artikel 4. Er erklärt die Freiheit des Glaubens und des Gewissens für „unverletzlich“ und gewährleistet die „ungestörte Religionsausübung“.
Ich bin froh, dass ich in einem Staat lebe, dessen Verfassung in besonderer Weise die religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse seiner Bürgerinnen und Bürger achtet. Damit knüpft das Grundgesetz an das Erbe der Weimarer Republik an und übernimmt zum Großteil die Weimarer Verfassungsartikel zu Kirche und Religion. Staat und Kirche sind getrennt, zugleich aber an vielen Stellen in fruchtbarer Zusammenarbeit aufeinander bezogen.
Dabei gilt, verkürzt gesagt, das Prinzip „fördern und fordern“ – der Staat fördert das gesellschaftliche Engagement von Religionsgemeinschaften und fordert zugleich deren Loyalität ein. So gibt es an öffentlichen Schulen Religionsunterricht, der interessanterweise als einziges Schulfach im Grundgesetz verankert ist – übrigens nicht als Privileg der Kirchen, sondern in Artikel 7 als Grundrecht der Schüler, Eltern und Lehrer. In Gefängnissen, in Krankenhäusern und bei der Bundeswehr wird Seelsorge angeboten.
"Entspanntes Verhältnis von Staat und Religion"
Auch dürfen Religionsgemeinschaften staatliche Finanzämter als bezahlte Dienstleister nutzen, um Beiträge einzuziehen. Dabei bleiben der Staat und seine Einrichtungen neutral – und selbstverständlich darf niemand gezwungen werden, an religiösen Angeboten teilzunehmen.
Dieser pragmatische und konstruktive Umgang mit Religion hat über Jahrzehnte zu einem entspannten Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland geführt, um das uns andere Länder beneiden. Die Zusammenarbeit wurde über die Kirchen hinaus inzwischen vereinzelt auch auf andere Religionsgemeinschaften ausgedehnt. In Hamburg etwa wurden Staatsverträge auch mit Juden, Muslimen und Aleviten geschlossen – aus meiner Sicht ein gutes Instrument, das sich im Großen und Ganzen bewährt hat und den konstruktiven Umgang zwischen Staat und Religionsgemeinschaften auch im 21. Jahrhundert weiterführt.
Ich wünschte mir manchmal, dass Politik, Zivilgesellschaft und Religionsgemeinschaften diesen positiven Ansatz stärker würdigen und vor allem weitertreiben. So kann – und sollte! – die integrierende Kraft der Religion etwa bei der Zuwanderung weiter genutzt werden. Das kann ein praktischer Beitrag dazu sein, den Frieden in der Gesellschaft zu fördern. Und es zeigt in beeindruckender Weise, wie modern unsere Verfassung auch nach 70 Jahren ist.
Kirsten Fehrs
Sie ist Pastorin mit Leib und Seele. Und sie steht gern auf der Kanzel. Kirsten Fehrs ist seit 2011 Bischöfin. Geboren in Dithmarschen, studierte Fehrs in Hamburg evangelische Theologie. „Ich möchte eine Bischöfin mit Herz und Verstand sein, die mit inniger Zuneigung an ihrer Kirche hängt und an all denen, die diese Kirche zu dieser Kirche machen“, hatte sie bei ihrer Wahl zur Bischöfin gesagt. Sie wolle „eine Stimme der Humanität sein, die sich einmischt, wenn Menschenwürde missachtet wird“. Fehrs liest Artikel 4: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."