Hamburg. Vor Gericht: Seit Jahren leidet der Hamburger an Schizophrenie – und befindet sich in ständiger Verteidigungsbereitschaft gegen andere.
Er stopfte sich die Ohren mit Watte oder Papierschnipseln zu. Er wollte endlich seine Ruhe haben, egal wie. Doch die Hoffnung von Oliver A., damit die Stimmen zu mildern, ging nicht auf. Stimmen, die von überall auf ihn einprasselten, die ihm keine Ruhe ließen, die bedrohlich erschienen und für ihn immer unerträglicher wurden.
Der 44-Jährige hat Geräusche gehört, die niemand sonst vernahm. Wenn Oliver A. glaubte, beobachtet und abgehört zu werden, existierten die Bedrohungen und das verbale Dauerrauschen allein in seiner Fantasie; die Dämonen, gegen die er sich zur Wehr setzen wollte, waren seine eigenen. Seit Jahren leidet der Hamburger an einer Erkrankung wegen Schizophrenie. Doch er sieht nicht ein, dass er Hilfe benötigt. Stattdessen befindet er sich in ständiger Verteidigungsbereitschaft gegen andere – und in einer erhöhten Aggressivität. Dann schlägt er zu, beleidigt, tritt und spuckt. Wahllos, gegen irgendwen, der gerade das Pech hat, seinen Weg zu kreuzen.
Auch im Prozess vor dem Landgericht, wo Oliver A. wegen diverser Taten von Körperverletzung und Beleidigung als Beschuldigter sitzt, scheint der kräftig gebaute Mann eine Gefahr zu wittern. Eifrig macht der Hamburger, der sein Haar zu einem auf dem Kopf hoch aufragenden Zopf zusammengebunden hat, sich während der Verhandlung Notizen. Und die Zeugen mustert er mit wachem Blick, in dem auch Misstrauen innewohnt. Wollen sie ihm wieder etwas Böses? scheint er zu argwöhnen.
Angst davor, mit der Bahn zu fahren
Doch es waren die anderen, die seinetwegen nicht mehr sicher waren. So wie zwei Kinder im Grundschulalter, die mit ihrer Mutter am Hauptbahnhof an einem Imbiss standen. Niemand kann begreifen, warum Oliver A. plötzlich der Mutter mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf schlug und ihr dann ins Gesicht spuckte. Noch sechs Monate nach dem Übergriff, schilderte die Zeugin vor dem Landgericht, habe sie eine „große Unsicherheit“ empfunden. Und ihre Kinder fragen bis heute angstvoll, wenn sie mit der Bahn fahren, „ob da nicht wieder jemand kommt und zuschlägt?“
Oliver A. bespuckte einen Mann, der ihn in einem Supermarkt auf das Rauchverbot aufmerksam gemacht hatte. Einer Frau versetzte er einen Tritt in die Seite und zeterte: „Du fettes Schwein gehörst in die Psychiatrie.“ Eine Frau, die an einer Bushaltestelle wartete, schlug Oliver A. mit der Faust gegen den Kopf. Eine Schülerin beschimpfte er als „Scheißausländerin“. Eine Frau, die sich im Bus von ihm angesprochen gefühlt und ihm an die Schulter getippt hatte, beschimpfte er unflätig, dann schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht. In der U-Bahn versetzte er einem Opfer einen Tritt gegen den Knöchel.
Ekelgefühle und Schlafprobleme
Die Opfer haben Übergriffe unterschiedlich verkraftet. Ekelgefühle, weil sie bespuckt wurden, Ängste und Schlafprobleme sowie Unsicherheit, weil sie vollkommen überraschend angegriffen wurden: Die betroffenen Zeugen haben dem Gericht eindrucksvoll geschildert, wie die verbalen und körperlichen Attacken dunkle Schatten auf ihr Leben warfen. „Der Angriff kam wie aus dem Nichts. Mein Sicherheitsgefühl hat einen Knacks bekommen“, formulierte etwa eine Frau.
Eine andere wagt sich nicht mehr allein in die S-Bahn. Und wenn wenn es mal lauter in ihrer Umgebung wird, bekommt sie Panikzustände. Ein Opfer sprach davon, dass es seit der Tat den öffentlichen Nahverkehr für „unberechenbar“ halte. Eine Frau fühlt sich im öffentlichen Raum unsicher, weil sie erfahren musste, dass niemand half – auch nicht das Sicherheitspersonal am Bahnsteig. Überführt wurde der Täter durch die Beschreibungen der Opfer, durch Handyfotos oder Videos, die Zeugen von den Übergriffen machten, und durch Aufnahmen aus Überwachungskameras.
Laut einem psychiatrischen Sachverständigen ist Oliver A. wegen seiner schizophrenen Erkrankung nicht schuldfähig. Deshalb spricht das Landgericht ihn frei. Doch aufgrund der sich steigernden Intensität der Angriffe sehe die Kammer keine andere Möglichkeit, als den 44-Jährigen in eine psychiatrische Klinik einzuweisen, begründet der Vorsitzende Richter die Entscheidung.
„Wir fürchten und sind sicher“, dass sich Übergriffe wiederholen würden, „wenn Sie unbehandelt wieder unter Leute kommen.“ In der Psychiatrie gebe es das Angebot, mit Medikamenten behandelt zu werden. „Dann, und nur dann sehen wir eine Chance, dass es Ihnen besser geht. Dann werden die Stimmen leiser und Ihr Leben schöner.“ Das Gericht sehe durchaus, dass der Beschuldigte unter den Angriffen, die er wahrzunehmen glaubt, leide. „Aber es kann nicht sein, dass dann andere unter Ihnen leiden.“