Hamburg. Die Ermittler wollten alte Verbrechen lösen, aber gerieten selbst in Verdacht. Dossier über einen Krimi hinter den Kulissen der Polizei.
Am Ende der Geschichte ist Klaus W.* frei, aber es fühlt sich kaum so an. Er verlasse selten die Wohnung, sagt sein Anwalt, und wenn doch, meist abends, um den Blicken und dem Getuschel der Nachbarn zu entgehen. Klaus W. sitzt einfach da, schaut fern, denkt nach über die Frage, ob man ihm einen Mordversuch anhängen wollte. Vier Monate in einer Gefängniszelle hätten sich in ihn hineingegraben. „Ihm steht Schadenersatz zu“, sagt sein Anwalt.
Im Polizeipräsidium haben sie die Akten des Falls wieder abgelegt. Darin sind die Bilder einer 16-Jährigen, die vor 38 Jahren in Steilshoop nachts angegriffen, ausgezogen und mit Messerstichen so zerschunden wurde, dass sie fast starb. Die Aussagen einer traumatisierten Frau, zu der das Mädchen von damals geworden ist. „Die Sache ist leider durch“, sagt ein Beamter. Ein anderer meint: „Wir haben es vergeigt, es tut richtig weh.“ Dass Klaus W. unschuldig ist, bezweifeln sie.
Etwa 45 Autominuten von der Wohnung von Klaus W. entfernt lebt Steven Baack, Kriminalhauptkommissar. Einst war er der Held in dieser Geschichte. Leiter der Abteilung „Cold Cases“ stand auf seiner Visitenkarte und sein Gesicht auf dem Titel des „Spiegel“. Er brachte Klaus W. vor Gericht. Dann kam das Desaster und der Freispruch. Baack ist seit Monaten krankgeschrieben, sitzt oft allein zu Hause und fragt sich, wie das alles passieren konnte. „Mein schlimmster Irrtum war, zu denken, dass alle Polizisten zusammen für die gute Sache einstehen“, hat er Vertrauten erzählt.
Am Anfang der Geschichte stand ein Versprechen: „Kein Opfer und kein Verbrechen wird vergessen“, gab die Polizei als Motto der Abteilung „Cold Cases“ für ungelöste Kriminalfälle aus. Heute ist von einer „Cold-Cases-Affäre“ die Rede, von Hinweisen auf „verbotene Ermittlungsmethoden“, von Intrigen, Bauernopfern und Versagen bis in die Chefetage des Landeskriminalamtes. Ob das Versprechen für die Opfer und ihre Angehörigen erfüllt werden kann, ist ungewisser denn je. Manche von ihnen fühlen sich von der Polizei im Stich gelassen.
Das Abendblatt hat mit Beteiligten gesprochen, vertrauliche Papiere zu dem Fall und der Soko ausgewertet. Sie erzählen eine Geschichte von einem Krimi hinter den Kulissen, von Herzblut und Überforderung. Sie lassen die Tragik eines Falls sichtbar werden, in dem es nur Verlierer gibt. Und sie werfen Fragen auf, über Anspruch und Wirklichkeit der Polizei und darüber, wie weit Ermittler auf ihrer Jagd gehen dürfen.
Herbst 2016 – Die Arbeit beginnt mit verstaubten Akten
Für Steven Baack beginnt seine große Chance mit einem Gespräch bei seinem Vorgesetzten. Er ist erst 36 Jahre alt, trägt die blonden Haare igelspitz und Hemden, die über den Muskeln spannen. „Ich bin vielleicht extrovertiert, aber vor allem leidenschaftlich“, sagt er über sich. Bei seiner Hochzeit schmetterte Baack „Making Memories of Us“ von Keith Urban für seine Frau. „Fips“ nennen sie ihn beim Mobilen Einsatzkommando und sind genervt von dem Eindruck, er habe schon für Probleme von Übermorgen ein Konzept in der Schublade.
Für den Chef des Landeskriminalamtes, Frank-Martin Heise, ist Baack genau der richtige Mann. Heise hat die Idee zur Soko „Cold Cases“, ein ungewöhnliches Team für spektakuläre Fälle wie das Verschwinden der zehnjährigen Hilal vor 20 Jahren. In seiner Wahrnehmung ist Heise ein moderner Polizeiführer, in der seiner Kritiker nur ein guter Selbstdarsteller. Heise sieht in Baack einen Rohdiamanten. Baack sieht in Heise einen Förderer, um den manchmal trägen Polizeiapparat nach vorn zu treiben.
Im zweiten Stock des Präsidiums haben sie kleine Räume für die „Cold Cases Unit“ (CCU) reserviert. Baack bekommt drei Mitarbeiter: einen jungen Polizisten, eine Ermittlerin aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität und einen „alten Hasen“, zwei Jahre vor der Pension. Erfahrungen in Mordermittlungen hat keiner von ihnen. Handfeste Spuren in ungelösten Kriminalfällen gibt es kaum. „Deshalb gab es auch überhaupt keinen Druck auf die Einheit, bald Fahndungserfolge zu präsentieren“, werden hochrangige Beamte später beteuern.
Aber die Einheit selbst wird gern präsentiert, besonders gern vom LKA-Chef. In einem Dokument ist klar festgehalten, wie die Soko vermarktet wird: „In der Regel“ werden Interviews und andere Presseanfragen bejaht – und Baack hält auf Einladung Vorträge, um die Botschaft in die Welt zu tragen. Die LKA-Führung genehmigt jeden Einzelfall, sehr oft Heise persönlich.
Steven Baack stürzt sich in die Arbeit. Er steigt in den Keller des Präsidiums, stößt dort auf einen Umzugskarton mit verstaubten Fällen, die seit mehr als 20 Jahren niemand mehr angefasst hat. Darunter sind auch mehrere bestialische Angriffe auf Frauen in Steilshoop, nie aufgeklärt. Baack druckt die Gesichter der Opfer auf DIN-A4-Papier und pinnt sie an die Wand hinter seinem Schreibtisch. „Sie sehen mir bei der Arbeit über die Schulter“, sagt Baack oft; er hat nicht nur das Aussehen eines Fernsehpolizisten, sondern oft auch dasselbe Pathos.
Bis in den Süden der Republik wird beobachtet, was dort in Hamburg entsteht. Baack hängt eine Glocke auf, die geläutet werden soll, sobald ein alter Fall endlich gelöst ist. Er verweigert sich kaum einer Gelegenheit, sich bekannt zu machen. Dahinter steckt Kalkül: Nur wenn stille Zeugen neues Vertrauen in die Polizei und in ihn, Baack, gewinnen, könnten sie endlich den Mut fassen, sich zu melden. Dieser Gedanke wird das große Drama des Steven Baack werden.
Spätsommer 2017 – Der erste Alarm an die Vorgesetzten
Vor dem kleinen Büro der „Cold Cases Unit“ steht eine Transportanhänger. Er quillt fast über mit Akten, genauso wie die zwei Räume. Frühzeitig hat sich Baack einen weiteren Mitarbeiter gewünscht, aber bislang nicht bekommen.
Steven Baack ist mit Alexandra Klein befreundet, Leiterin der Soko „Castle“ gegen Einbrecher und die zweite große Hoffnungsträgerin der Hamburger Polizei. Er erzählt ihr und anderen Vertrauten, was für Entdeckungen seine Soko gemacht habe. Bei etwa vier von fünf ungelösten Fällen aus einer Stichprobe gebe es Ermittlungsansätze, denen noch nie nachgegangen wurde. Hinzu kommen 540 Langzeitvermisste in Hamburg. Insgesamt ein gewaltiger Berg von mehr als 1000 möglichen Fällen.
Der Soko-Chef fährt zu Angehörigen. Manche brechen sofort in Tränen aus, weil alte Wunden wieder aufreißen; andere wie die Familie des vermissten Mädchens Hilal Ercan fassen schnell Vertrauen zu Baack. „Es war wieder das Gefühl da, dass der Polizei meine Schwester noch wichtig ist“, sagt der Bruder der Vermissten dem Abendblatt. Auch Baack gehen die Schicksale nahe, schon sein Vater war bei der Mordkommission. „Man braucht da keine Vorgesetzten, um eine große Verantwortung zu spüren.“
Baack hat sich ein System überlegt, damit man sich in den Ermittlungen nicht verrennt: wöchentliche Besprechungen im Team. Dabei schlüpfen die Ermittler in die Rollen von Ankläger und Skeptiker. In der Praxis klappt das immer seltener. Der junge Beamte aus der kleinen Gruppe wurde wegen des G-20-Gipfels in andere Abteilungen abkommandiert. Die Frau in Baacks Soko ist Mutter und nur bis 14 Uhr im Büro.
Am 2. August 2017 schreibt Baack an die LKA-Leitung eine Übersicht zum Stand der Ermittlungen. In fünf Fällen seien Beschuldigte identifiziert worden. Im letzten Punkt zur „Personalsituation“ schlägt Baack erstmals Alarm. Die Arbeitsbelastung sei „durchweg grenzbereichserreichend“. Eine systematische Bearbeitung der „priorisierten Fälle ist aktuell nicht möglich“.
Ob die LKA-Führung überhaupt darauf reagiert, ist unklar – weiteres Personal gibt es nicht. Die Aufklärung dauere bis heute an, heißt es dazu auf Anfrage des Abendblattes. „Ein Dienststellenleiter muss auch mit Bordmitteln haushalten können“, sagt ein Spitzenbeamter.
Auch wenn sie in ihrer Arbeit schon halb ertrinkt, gelingt der Soko noch ein einziger großer Erfolg. Am 28. September wird kurzfristig eine Pressekonferenz einberufen, im Großen Saal des Präsidiums. Baack hat den Mord an der Steilshooperin Beata Sienknecht vor 37 Jahren aufgeklärt. Ein bereits verurteilter und psychisch kranker Täter gestand die Tat. Neben Baack ist auch LKA-Chef Frank-Martin Heise vor Ort, spricht stolz von der Einheit, sagt: „Bei uns haben Tote eine Lobby.“
Kurz vor dem Pressetermin hat Steven Baack den Ehemann der ermordeten Beata Sienknecht angerufen. 36 Jahre lang lebte er damit, selbst von Bekannten für den Mörder seiner großen Liebe gehalten zu werden. „Wir wissen jetzt, dass Sie es nicht waren“, sagt Baack am Telefon. Der Mann ist still, dann weint er. Baack nimmt eines der Bilder mit den Opfern von seiner Wand und läutet die Glocke in seinem Büro. Der Durchbruch in weiteren Fällen scheint nahe.
November 2017 – Das Opfer sucht die Nähe des Ermittlers
Die 16-jährige Miriam M.* war im November 1980 nur zu einer Freundin gegangen, um sich eine Platte der Rockband Toto abzuholen, als ihr Leben zerstört wurde. Auf dem Nachhauseweg durch Steilshoop kam dem Mädchen ein junger Mann entgegen, wortlos zog er ein Jagdmesser, stach zwölfmal auf sie ein, schnitt ihr am Ende über den Hals. Dann wollte er sie vergewaltigen. Als er zufällig vorbeikommende Passanten sah, flüchtete er. Ärzte retteten das Leben von Miriam M. in einer Notoperation.
Steven Baack nimmt Kontakt zu der Frau auf. Er hat den Verdacht, dass der Täter aus seinem letzten Fall auch der Peiniger von Miriam M. war. „Sie kann einem leid tun“, sagt er zu Kollegen, sie trage oft hochgeschlossene Kleidung und dicke Schminke, als könnte sie das schützen. Sie wirkt auf ihn wie eine Frau, die ihr Leben streng strukturiert hat, um in der Bahn zu bleiben.
Baack bespricht sich mit der Staatsanwältin Tanja Glositzki. Sie wird als Herrin des Verfahrens über Festnahmen und Anklagen entscheiden. Glositzki ist eine forsche, laute Strafverfolgerin – bei der Polizei haben sie ihr den fiesen Beinamen „Tabletten-Tanja“ verpasst, weil sie ihnen so nervös erscheint. Miriam M. erkennt den Verdächtigen nicht als Täter wieder, aber Baack und Glositzki veröffentlichen einen Zeugenaufruf.
Es meldet sich eine weitere Frau bei den Ermittlern. Sie sei ebenfalls in der Nähe attackiert worden, im Spätsommer 1980. Der Täter drückte ihr einen Gegenstand in den Rücken und befahl ihr, sich auszuziehen. Auch er ergriff letztlich die Flucht. Mit ihrer Schwester erkannte sie ihn jedoch wieder. Es sei zu „1000 Prozent“ der damals gleichaltrige Klaus W.
Der Soko-Chef stellt Nachforschungen an. Er hört von Gerüchten, dass Klaus W. damals in einem Jugendheim in Steilshoop gewohnt haben soll und angeblich „aggro“ war. Und er stößt darauf, dass Klaus W. für einen schweren Angriff auf seine damalige Freundin bereits in den 90er-Jahren im Gefängnis saß. Die Frau war ebenfalls mit einem Messer verletzt worden – und auch das Muster der Tat sei ähnlich, glaubt Baack.
Steven Baack und die Staatsanwältin sehen einen Verdachtsmoment. Klaus W. gehe es bei Gewalttaten stark um Macht, nehmen sie an – und er habe sich gesteigert, gelernt, von dem ersten Versuch im Spätsommer zu dem Angriff auf Miriam M. Beweise haben sie jedoch nicht. Und die Tatwaffe ist schon vor Jahren aus Versehen bei der Staatsanwaltschaft vernichtet worden. Trotzdem rückt der Fall auf Anordnung der Staatsanwältin ganz in den Fokus der Soko. Soweit das möglich ist.
Im Büro rufen oft wildfremde Menschen an, Angehörige von Gewaltverbrechen aus der gesamten Republik. Die Abteilung „Cold Cases“ ist jetzt eine etablierte Marke, inklusive Facebook-Logo. Die Angehörigen wollen Hilfe. Aus Sicht der Vorgesetzten ist das natürlich nicht zu leisten. Der Soko-Chef sagt, es wäre ein „Hohn für die Opfer, die Menschen nicht einmal weiterzuverweisen“.
Steven Baack fängt damit an, schon um drei oder vier Uhr morgens zur Arbeit ins Präsidium fahren, wenn Frau und Kinder noch tief schlafen. Die Polizei will Baack als Aushängeschild für die „Nacht der Museen“, es gilt einen Vortrag vorzubereiten. Auch an einem wissenschaftlichem Buchbeitrag sitzt Baack. Der Kommissar erzählt später, er habe sich gegen Termine gewehrt. Ein Spitzenbeamter sagt, man habe Baack weitere Medienarbeit ausreden müssen. Unstrittig ist: Weder ist Baack der Typ, der zugeben würde, dass er nicht mehr kann, noch sehen die Vorgesetzten genug hin, um es doch zu erkennen.
Auch Miriam M. schickt ihm E-Mails, manchmal mehrmals am Tag, die Grenze zwischen Ermittler und persönlichem Erlöser verschwimmt für die Frau. Miriam M. ist „ganz allein“, hat sie gesagt. Aufgewühlt. Es ist der wohl entscheidende Punkt in dieser Geschichte; als alles kippt und das beginnt, was Baack später Pech und Überforderung nennt, seine Kritiker hingegen als fast kriminellen Jagdeifer bezeichnen.
Januar 2018 – Der große Bluff mit einer falschen Tatwaffe
Miriam M. ist ins Präsidium gekommen, um den möglichen Täter zu identifizieren. Die Soko hat kein eigenes Tischmikrofon, Baack leiht sich eines bei Kollegen. Er hat einen Bilderbogen mit verschiedenen Gesichtern in einer Fachabteilung anfertigen lassen, es ist wie im „Tatort“. Nur weisen die Vorlagen Mängel auf. Der eklatanteste: Nur Klaus W. hat auf dem Bild eine Jacke an, wie sie auch der Täter getragen haben soll.
Der Ermittler erzählt Miriam M., man sei dem Täter auf der Spur, und ein Verdächtiger sei unter den gezeigten Köpfen. Sie erkennt Klaus W. zu 90 Prozent wieder, aber im Kopf spuke ihr ein anderes Bild herum, „dieser Serientäter aus Lauenburg oder Lüneburg“. Sie sagt, ihr Gehirn „macht da irgendwie so ein bisschen zu“. Baack sagt ihr, es sei auffällig, dass sie manchmal 15 Minuten lang beim selben Bild hängen bleibe. Ja, es bleibe bei 90 Prozent, sagt Miriam M.
Die Staatsanwältin Glositzki setzt die Hebel in Bewegung, um Klaus W. beschatten zu lassen. Sein Telefon wird abgehört. Der jüngste Beamte in der Soko „Cold Cases“ verbringt Stunden damit, sich anzuhören, was Klaus W. in Alltagsgesprächen am Telefon sagt. Die eigentliche Ermittlungsarbeit muss Baack allein machen. Der Verdacht der Ermittler reicht für die Staatsanwältin aus, einen Durchsuchungsbeschluss zu beantragen.
Baack hat eine List vorbereitet, um Klaus W. zu einem Geständnis zu bewegen. Er klebt ein großes Plakat zur DNA-Analyse auf eine Tür im Präsidium, und der junge Kollege holt ein beliebiges Messer aus der Asservatenkammer, wickelt es in Klarsichtfolie und legt es in eine kleine Plastikbox. Wenn Klaus W. der Täter war, soll er das Messer zufällig sehen und denken, er sei überführt.
Es ist ein großer Bluff, scharf an der Grenze des Erlaubten. Denn Baack dürfte nie auf Nachfrage oder von selbst so tun, als wäre es tatsächlich die Waffe aus diesem Fall. Aber die Staatsanwältin genehmigt es auf Nachfrage.
In seinem Protokoll nach der Aktion beschreibt Baack, Klaus W. habe schon bei der Durchsuchung seiner Wohnung abgestritten, die Tat begangen zu haben – aber er habe das Messer wiedererkannt und eingeräumt, „er habe es einmal in den Händen gehalten“. Bei der anschließenden Vernehmung im Präsidium gerät Klaus W. in Rage, dort sagt er, ihm komme das Messer bekannt vor, aber er fühlt sich hereingelegt. „Irgendetwas stimmt hier nicht, irgendjemand will mir etwas reindrücken oder so.“ Er wird laut, die Beamten brechen die Vernehmung ab.
Über die Telefonüberwachung hören die Ermittler, dass Klaus W. seiner Schwester von scheinbaren DNA-Spuren an der Waffe erzählt. Er sagt aber nichts, was ihn weiter belasten würde. Baack hält den Druck hoch. Er lässt eine alte Ausgabe der „Mopo“ mit einem angemarkerten Bericht über die Angriffe in Steilshoop in Klaus W.s Briefkasten werfen. Ein Jugendfreund von Klaus W. erzählt, es habe da früher ein Gerücht gegeben, „dass der Klaus einer fremden Frau was angetan hat“.
Fast alle Ermittlungsschritte bis zu diesem Punkt werden später von anderen Polizisten zerrupft werden. Schon davon auszugehen, dass ein Täter für beide Angriffe auf die Mädchen infrage komme, sei zweifelhaft. Der Angriff von Klaus W. auf seine Ex-Freundin sei als Beziehungstat kaum mit den wahllos wirkenden Überfällen in Steilshoop vergleichbar. Aber bis zum 5. Februar 2018 schreitet niemand ein oder meldet grundsätzliche Zweifel an. Es ist der Tag, an dem sie Klaus W. abholen.
Eine Spezialeinheit umschleicht das Haus des arbeitslosen Malers, die Polizei hat den Medien einen Tipp gegeben. Steven Baack gibt jedem der Presseleute die Hand, dann führt er Klaus W. persönlich ab. Die Kameras klicken, die Schlagzeilen gehen in den Druck. Baack betont später, die öffentliche Vorführung von Klaus W. habe ihm leidgetan.
Der entscheidende Hinweis für die Festnahme kam von Martin T., einem weiteren alten Bekannten des Verdächtigen. Bei einer ersten Vernehmung erinnerte er sich an fast nichts. Eine Woche später schrieb er das Tatmesser zu „100 Prozent!“ Klaus W. zu. Baack und Glositzki wunderten sich beide über diesen Sinneswandel, hinterfragten ihn auch, aber nahmen das Geschenk trotzdem an. Baack sagt heute, Glositzki habe ihn gedrängt, am Telefon sofort entschieden: „Dann nehmen wir ihn jetzt fest.“ Glositzki stellt es andersherum dar.
Der „Spiegel“ hat vor der Festnahme angefragt, ob Baack ausführlich über seine Arbeit sprechen will. Natürlich soll er das. Dabei gehen die Wahrnehmungen auch zwischen den Polizisten weit auseinander. Baack erinnert sich mit Schaudern an einen Wortwechsel, in dem der Polizeisprecher zu ihm sagte: „Wir benutzen dich, Steven. Wir machen dich zu einer Kunstfigur“. In Kreisen der Pressestelle wird die Szene anders beschrieben: Man habe Baack gesagt, dass er selbst zwischen der Person Steven Baack und der öffentlichen Figur trennen müsse. Es sei ein gut gemeinter Rat gewesen.
Miriam M. schreibt Steven Baack bis zu 20-mal am Tag. Sie schreibt auch, dass sie sich einfach nicht sicher sein könne. Baack misst dem keine zu große Bedeutung zu, er übergibt alle Mails als Anlage der Ermittlungsakten an die Staatsanwaltschaft. Tanja Glositzki entscheidet, Anklage zu erheben.
Der Vorsitzenden Richterin kommt die Akte gleich „seltsam“ vor, wie es später in Justizkreisen heißt, aber noch ist es nur ein Gefühl. Und der erste Dämpfer für die Anklage kommt postwendend. Der Angriff von Klaus W. auf seine Ex-Freundin darf keine Rolle spielen. Aus Gründen des Datenschutzes. Klaus W. hat seine Haft verbüßt, und der entsprechende Eintrag im Strafregister wurde gelöscht.
Spätsommer 2018 – Die Anklage wird zum Desaster
Klaus W. hält den Kopf gesenkt, schlurft durch die Presseleute zum Gerichtssaal, die Jugendkammer ist für den 38 Jahre zurückliegenden Fall zuständig.
Steven Baack ist einer der ersten Zeugen. Er präsentiert seine Ergebnisse, wird vom Anwalt des Angeklagten in die Mangel genommen. Klaus W. hat gesagt, das präparierte Messer bei der Vernehmung habe direkt vor ihm auf dem Tisch gelegen. Der Anwalt fragt Baack, ob er Klaus W. „das Tatmesser oder irgendein Messer“ vorgehalten. Nein, sagt Baack. Klaus W. streitet ab, bei der Durchsuchung seiner Wohnung gesagt zu haben, dass er das Messer schon mal in der Hand hielt. Die anderen beiden Beamten aus der Abteilung „Cold Cases“ könnten sich nicht mehr erinnern, sagen sie.
Mit dem Auftritt von Miriam M. beginnt das Kartenhaus der Anklage einzustürzen. Sie verweist auf Mails, die sie Baack geschrieben habe, nachdem eben auch der sogenannte Göhrde-Mörder der Täter in ihrem Fall gewesen sein könne. Dass sie darauf hingewiesen habe, wie schwierig die Erinnerung für sie ist. Auch Martin T. und weitere alte Bekannte von Klaus W. müssen ihre Aussagen relativieren. Den Haftbefehl hat die Richterin aufgehoben, Klaus W. ist bis zur Urteilsverkündung frei.
In der Öffentlichkeit bleibt Baack der strahlende Ritter. Er hat sich des Verschwindens der kleinen Hilal angenommen, des größten „Cold Case“ von allen. Er fährt mit den Angehörigen in einem Bus zu einer großen Suchaktion im Volkspark, sie sind tief bewegt.
Hinter den Kulissen macht sich längst Unruhe breit. Baack schreibt der Staatsanwältin an einem Sonnabendabend eine Whatsapp-Nachricht mit einem Appell, weiter an die Indizien und eine Verurteilung zu glauben. „Die Menge macht es. (...) Der Fächer muss sich nur entfalten können. (...) Wenn es jemand schaffen kann, dann DU!“. Baack steigert sich in eine martialische Wortwahl, die er später bereut.
Die Staatsanwältin selbst führt eine Korrespondenz mit Alexandra Klein, der guten Freundin Baacks, die mittlerweile zu seiner Vorgesetzten im LKA aufgestiegen ist. Glositzki bittet um ein persönliches Treffen, was Klein ablehnt. Die Staatsanwältin reagiert erbost. Sie stellt erstmals in den Raum, auf Freispruch zu plädieren – wegen Zweifeln an der Arbeit der Soko „Cold Cases“.
Die Ermittlerin aus der Soko hat zuvor an einen Brief an die LKA-Führung verfasst. Darin schreibt auch sie deutlich, dass eine „priorisierte Fallbearbeitung nicht möglich“ sei. Baack beteuert später, auch vergeblich auf wöchentliche Besprechungen mit seinen Vorgesetzten gedrängt zu haben. „In der Realität gab es zwei Mal in zwei Jahren ein solches Gespräch. Da war kaum Interesse“.
An der Spitze des LKA sieht man das Debakel nicht kommen. Am Rande eines Interviews fragt das Abendblatt bei LKA-Chef Frank-Martin Heise wegen einer aufwändigen Geschichte über die Abteilung „Cold Cases“ an, eine Begleitung über Monate. „Das sollten wir unbedingt in die Wege leiten“, sagt Heise.
Nur einige Tage später verkündet die Richterin ihr Urteil. Spricht von Hinweisen auf „verbotene Ermittlungsmethoden“. Aus ihrem Umfeld heißt es, das sei noch zurückhaltend formuliert gewesen. Meier-Göring spricht auch über das Opfer Miriam M.: „Wie bitter, ja kaum erträglich muss es für sie sein, dass sie ihren inneren Frieden verloren hat, ohne Gewissheit zu bekommen.“ Tanja Glositzki beteuert, hätte sie das alles gewusst, hätte sie nie Anklage erhoben.
November 2018 – Der Chef der Soko „Cold Cases“ wird abgelöst
Im Präsidium schlägt die Nachricht mit Wucht ein. Es wird über eine Sprachregelung beraten. Man verspricht eine „umfassende Aufklärung“. Es sind vorsichtige Worte, weil Karrieren auf dem Spiel stehen.
LKA-Chef Frank-Martin Heise setzt eine Arbeitsgruppe ein, geführt von seinem Stellvertreter. Er wählt auch Alexandra Klein als Prüferin aus, die als Vorgesetzte schon für die Aufsicht der Soko zuständig war, als Baack die Ermittlungen gegen Klaus W. beendete. Andere Spitzenbeamte sagen, das „geht gar nicht“. Der Polizeipräsident Ralf Martin Meyer erfährt erst von der pikanten Personalie, als sie schon öffentlich ist.
Heise führt auch ein Gespräch mit dem Soko-Chef, sagt ihm, man werde sich von der Öffentlichkeit nicht treiben lassen. Baack ist überzeugt, nichts Falsches getan zu haben; und er wähnt seinen Förderer hinter sich. Wie mehrere Beamte später erzählen, geht Heise da längst auf Distanz. „Ich bin so enttäuscht“, wird Heise zitiert. Er soll mehrfach gesagt haben, dass er selbst „mit der Sache ja nichts zu tun“ habe. Für ein Gespräch mit dem Abendblatt stand Frank-Martin-Heise nicht zur Verfügung.
Der Abschlussbericht der Prüfgruppe fällt teilweise vernichtend aus. Die Befragungen von Baack seien in hohem Maße „suggestiv“ und seine Schlussfolgerungen vorschnell, die Dokumentation des Falls in vielen Punkten katastrophal. Die schwersten Vorwürfe von Lügen und Täuschung könnten deshalb auch nicht entkräftet werden. Auch die Tatsache, dass Baack fast alle Vernehmungen allein durchführen musste, gereicht ihm jetzt zum Nachteil.
Alexandra Klein fragt Steven Baack, ob sie essen gehen wollen, um zu reden. Er lehnt ab. Sie treffen sich stattdessen im Polizeipräsidium, an einem Sonnabendabend, kaum ein anderer Mensch ist dort. Klein stellt Baack in ihrem Büro vor die Wahl: Er soll seinen Posten freiwillig räumen, sonst werde man seine Zwangsversetzung verkünden. „Sie war eiskalt“, sagt Baack zu Vertrauten. Aus Kleins Umfeld heißt es, sie sei ehrlich betroffen von Baacks Fehlern.
Baack will nicht gehen. Die Polizei verkündet seine Absetzung. Er sei den „gebotenen hohen Anforderungen nicht in allen Punkten gerecht geworden“. Die erfahrene Mordermittlerin Heike Uhde wird seine Nachfolgerin, ansonsten ändert sich an der Zusammensetzung der Einheit nichts. Heise bietet Baack an, in die Abteilung für Kriminalität gegen Senioren zu gehen, er bleibt freundlich.
Baack schließt das aus. Kurz darauf meldet er sich krank. Er ruft Kollegen an, versucht Unterstützer zu gewinnen. Und hofft noch, an seinen Schreibtisch zurückkehren zu können, zurück zu seinen Fällen, zurück an die Arbeit. Er trifft sich mit den Beamten aus der Prüfgruppe, sie reden drei Stunden, Baack hält ein Plädoyer für sich selbst.
Nur einen Tag später schickt die Arbeitsgruppe einen Nachtrag an die Staatsanwaltschaft. Er fällt noch deutlicher als der erste Bericht aus. Nun ist klar von „Hinweisen auf Falschaussage“ und „Hinweisen auf Unterdrückung von Beweismitteln“ die Rede. Die Staatsanwaltschaft solle nun prüfen, ob die „Mängel in der Summe so erheblich sind, dass sie den Tatbestand einer Straftat erfüllen“. Die anderen Mitglieder der Soko wurden bis dahin nicht befragt.
März 2019 – Auch die Führung des LKA gerät unter Druck
Bei der Staatsanwaltschaft lesen sie den Bericht aufmerksam. Alle wesentlichen Mängel seien vor der Anklageerhebung bekannt gewesen, steht darin. Hinter vorgehaltener Hand beklagen viele Polizisten, dass die Staatsanwältin Glositzki zu leicht davonkomme. „Sie war ja die ganze Zeit dabei.“ Offen sagt das niemand. Und auch die Arbeitsgruppe hat ihre Worte sorgsam gewählt. Der Grund allen Übels seien Baacks Fehler, heißt es mehrfach in dem Dokument.
Der abgesetzte Soko-Chef leitet mithilfe seines Anwalts Gerhard Strate eine Gegenoffensive ein. Auf 30 Seiten nimmt Baack Stellung zu allen Vorwürfen, unterstellt den Beamten der Arbeitgruppe persönliche Motive. „Ich habe das Vertrauen in meine LKA-Leitung verloren“, sagt Baack.
Bei der Prüfung stellt die Staatsanwaltschaft frühzeitig fest, dass es sehr grobe handwerkliche Fehler gegeben hat. Aber man kommt zu der Entscheidung, keine Ermittlungen aufzunehmen. „Es ist kein systematisches Vorgehen zu erkennen“, heißt es hinter den Kulissen. Anders gesagt: Man vermutet, dass Baack sich bei einem kriminellen Komplott deutlich klüger angestellt hätte. Seine Version von Überlastung und Überforderung erscheine dagegen schlüssig.
Es sind schlechte Nachrichten für die LKA-Chefs, der Wind dreht sich in ihre Richtung. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer hat eine weitere Arbeitsgruppe eingesetzt. Diesmal geht es jedoch nicht nur um Baack. Sondern um „Mängel in der Führung und Zusammenarbeit im LKA“. Es ist ein Novum in der jüngeren Hamburger Polizeigeschichte.
April 2019 – „So ein Fall darf sich niemals wiederholen ...“
In einer Bäckerei in Osdorf sitzt der Bruder der vermissten Hilal und sagt, es seien jetzt schon Monate des Wartens. „Wir haben nichts mehr von der Polizei gehört, für den Moment ist es vorbei.“ Nach Baacks Absetzung war bereits Funkstille, im Januar lud die Polizei ihn auf Nachfrage zum Gespräch. „Da wurde uns freundlich gesagt, dass alle Spuren kalt sind.“ Dabei habe Steven Baack noch so viele Ideen gehabt, auch wenn bislang keine zum Erfolg führte. Hoffnung kann eine Medizin sein, die nie wirklich heilt, aber die man auch nicht absetzen will.
Die Nachfolgerin von Baack an der Spitze der „Cold Cases“ gilt als erfahrene Mordermittlerin, Abteilung „Cold Cases“ – aber sie ist noch damit beschäftigt, sich in die oft mehrere Dutzend Ordner starken Fallakten einzulesen. „Wir werden auch im Fall von Hilal Ercan nicht locker lassen und weiter ermitteln“, sagt ein Polizeisprecher. Insgesamt aber soll die Zahl der Fälle in der Abteilung „Cold Cases“ deutlich reduziert werden. Es gehe jetzt einfach um solide, handwerklich gute Arbeit, heißt es im Präsidium.
Steven Baack wartet das Disziplinarverfahren ab, das noch gegen ihn läuft. Er sagte Vertrauten, er habe "wohl zu viel Staub aufgewirbelt", mehr alte Fälle aufklären wollen, als wirklich erwünscht war. Manchmal erschienen ihm die Vorgesetzten und die Opfer in Albträumen, hat er erzählt. „Mein Mandant ist ein integerer Polizeibeamter und möchte künftig wieder verantwortungsvolle Aufgabe haben“, sagt sein Anwalt. Im Präsidium halten sie das kaum für möglich. Jeder halbwegs versierte Strafverteidiger würde Baack „zerrupfen“, sobald dieser in einem Gerichtssaal als Zeuge auftrete.
Der LKA-Chef Frank-Martin Heise nehme die Untersuchung der Führung gelassen, heißt es. Vor ein paar Wochen hat er stolz und routiniert ein neues Konzept zur Betrugsbekämpfung präsentiert. An seinen Ambitionen, eines Tages Polizeipräsident zu werden, habe sich nichts geändert. Auch die Staatsanwältin Tanja Glositzki ist weiterhin regulär im Dienst. Für ihre Vorgesetzten war kein Fehlverhalten zu erkennen.
Klaus W. versucht, die Ereignisse des vergangenen Jahres hinter sich zu lassen. Nach Abendblatt-Informationen hat die Polizei inzwischen einen Teil der geforderten Entschädigung überwiesen. Ein Spitzenbeamter kritisiert Kollegen scharf, die auch nur leise daran zweifeln, dass Klaus W. unschuldig ist. „Es ist vor Gericht alles zerfallen, weil da nichts war. Vielleicht war es nie möglich, diesen Fall noch zu lösen.“
Der Anwalt von Klaus W. sagt, nicht nur als Verteidiger, sondern auch als Bürger habe er andere Ansprüche an die Polizei. „Ein Fall wie dieser darf sich niemals wiederholen“. Klaus W. sucht eine Aufgabe, eine neue Zukunft – vielleicht in seinem alten Beruf als Handwerker.
Miriam M. hat nach dem Ende des Prozesses, in dem sie als Nebenklägerin auftrat, den Kontakt zu den Behörden abgebrochen. Wie es ihr geht, ist unbekannt.
*Name geändert