Hamburg. Gemeinnütziges Bauunternehmen Neue Heimat verwirklichte die Wohnträume von Millionen Deutschen – bevor es spektakulär scheiterte.

Wenn man jüngere Leute nach der Pleite der Neuen Heimat fragt, fällt ihnen der ehemals angesagte Musikclub in Berlin ,Neue Heimat‘ ein … Die etwas Älteren haben gerade noch den Neue-Heimat-Skandal erlebt, und die Alten schwärmen von ihrer ersten Neubauwohnung.“ Besser kann man die Erinnerung an den einstmals größten Wohnungsbaukonzern Europas mit Sitz in der Hansestadt, der später krachend scheiterte, kaum zusammenfassen.

Mit diesen Sätzen bringt es Norbert Baues in seinem Aufsatz in dem neuen Buch „Neue Heimat – das Gesicht der Bundesrepublik“ auf dem Punkt. Doch bei dieser Kurzthese belässt es das voluminöse Werk nicht. Nie ist umfassender, ausführlicher und bildstärker über das Unternehmen berichtet worden, das wie kein zweites die deutsche Nachkriegsgeschichte geprägt hat – und nach den Anfängen in einer Baracke in Barmbek zwischenzeitlich auf der halben Welt gebaut hat.

Projektbeginn liegt drei Jahrzehnte zurück

Viel Mühe und viele Jahre haben die Autoren um den umtriebigen Ullrich Schwarz vom Hamburgischen Architekturarchiv in dieses Buch investiert, das mit seinem Gewicht von 3365 Gramm eher an einen Ziegelstein als an Bettlektüre erinnert. Der Beginn des Projekts liegt bald drei Jahrzehnte zurück: „1990 erhielt unser Architekturarchiv einen Anruf, der uns darauf hinwies, dass in Lagerräumen in Hammerbrook Materialien der Neuen Heimat untergebracht waren, die in Kürze der Vernichtung anheimgegeben werden sollten“, erinnert sich Schwarz. „Unsere Mitarbeiter fanden dort Kartons mit Tausenden Fotos und Filmen und nahmen diese ohne irgendwelche Formalitäten einfach mit.“ Weiteres Material tauchte in einer abgelegenen Tiefgarage und der Neue-Heimat-Zentrale an der Lübecker Straße auf.

All diese Fundstücke, die zur Basis des Buches und der kommenden Ausstellung wurden, wären sonst verloren gegangen. „Wir brauchten Jahre, den Bestand zu sortieren“, erzählt Ullrich Schwarz. Sie sichteten 25.000 Fotos und 25 Stunden Filmmaterial. „Aber lange wollte niemand mit diesem Erbe zu tun haben. Der Skandal hat das Bild der gesamten Neuen Heimat geprägt“, sagt Schwarz. „Uns war wichtig, ein angemessenes und historisch gerechtes Bild zu zeichnen.“

Insgesamt 2320 Anmerkungen

Dies gelingt dem Buch, auch wenn es mitunter eher einer Dissertation als einem Lesebuch gleicht. Das Autorenkollektiv bringt es auf 2320 Anmerkungen – selbst auf die Doktorarbeit der amtierenden Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeld („Wohnungsbau der 1950er-Jahre in Hamburg“) wird verwiesen. Der besondere Reiz liegt in den 960 Abbildungen, von denen viele niemals zuvor veröffentlicht wurden. Wie ein vergilbtes Fotoalbum vom Dachboden der Großeltern illustrieren sie eine längst vergangene Epoche.

Mit dem Elbe-Einkaufszentrum baute die Neue Heimat ihre erste Shoppingmall. In Deutschland war es erst das dritte Projekt dieser Art.
Mit dem Elbe-Einkaufszentrum baute die Neue Heimat ihre erste Shoppingmall. In Deutschland war es erst das dritte Projekt dieser Art. © Hamburger Architekturarchiv

Sie zeigen Wirtschaftswunderwohnwelten, architektonische Utopien und Trabantenstädte, die einstmals fast heimelig wirkten. Sie werfen den Blick zurück in die bittere Armut der Nachkriegsjahre, der Kellerbehausungen und Nissenhütten und lenken ihn weiter in eine futuristische Fortschrittshörigkeit, die längst Vergangenheit ist. „Die Neue Heimat prägte das Gesicht der Bundesrepublik“, sagte Karin Loosen, Präsidentin der Hamburgischen Architektenkammer, bei der Präsentation des Buches. „In ihr spiegelt sich der Wunsch nach einem besseren Leben.“

Neue Heimat aus ihrer Zeit bewerten

Man müsse die Neue Heimat aus ihrer Zeit bewerten – eine Phase der Wohnungsnot mit einer zentralen Fragestellung: „Wie schaffen wir günstigen Wohnraum?“ Tatsächlich wäre es zu einfach, allein mit ästhetischen Kriterien des 21. Jahrhunderts über die Fließbandbauten der 50er- und 60er-Jahre zu urteilen. Jede fünfte Wohnung war durch den Zweiten Weltkrieg zerstört worden, zugleich die Bevölkerungszahl dramatisch gestiegen. 9,5 Millionen Wohnungen standen 1950 gut 15 Millionen Haushalte gegenüber.

In dieser Situation wurde der gewerkschaftseigene Konzern zum Motor des Wiederaufbaus – die Neue Heimat baute knapp 400.000 Einheiten und verwaltete insgesamt 500.000 Wohnungen. „Man kann von der Neuen Heimat lernen, von ihrer Zukunftsorientierung und ihrer Dynamik“ sagte Loosen. Der enorme Wohnungsbau hat zweifelsohne viel zur Befriedung der Gesellschaft und zur Integration der Flüchtlinge, ja zum Wirtschaftswunder beigetragen.

Ironie des Schicksals

Man kann diesen Erfolg aber kaum von seinem Scheitern trennen. Der Großkonzern war einseitig auf Wachstum gepolt, im Moment der Wachstumsverlangsamung rutschte er in die Krise. Eine Ironie des Schicksals: Zu diesem Zeitpunkt war der Unternehmenszweck, die materielle Verbesserung der Lebens vieler Menschen, erfüllt – und damit abhandengekommen. Schon Mitte der 70er-Jahre lag der Konzern in der Verlustzone, was aufgrund der komplizierten Struktur aber zunächst kaum auffiel.

Das Rad, das der Konzern drehte, wurde immer größer: erst Häuser, dann ganze Stadtteile, erst Turnhallen, dann Kongresszentren, erst Schwimmbäder, dann Großkliniken, erst Abriss, dann Sanierung. Ob in Lateinamerika, dem Nahen Osten oder Kanada, in Frankreich oder Österreich, überall mischten die Hamburger mit. Neben dem gemeinnützigen und steuerbefreiten Konzern entstand ein gewinnorientierter Parallelkonzern Neue Heimat Städtebau. Dieser verspekulierte sich vor allem im Ausland mit kreditfinanzierten Grundstücken, die in der Krise nicht mehr bebaut werden konnten.

Die Zeiten änderten sich, aber die Neue Heimat kam dem Wandel nicht schnell genug hinterher. Plötzlich standen die monströsen Wohnmaschinen und Schlafsiedlungen in der Kritik, Studenten begannen Altbauten zu besetzen und vor der Abrissbirne zu schützen. Ein besonderes Fundstück sind die Zuschreibungen der Tagespresse von damals – das Abendblatt eingeschlossen – für die Hausbesetzer: „Reisende Radikale“, „Maskenmänner“, „Politrocker“, „Terroristen“ und „Gangster“. Heute muss man diesen Gangstern wohl dankbar sein: Sie forcierten ein Umdenken, eine Rückkehr der Stadt.

Wachsen sozialer Brennpunkte

Das Scheitern vieler Großsiedlungen, das Wachsen sozialer Brennpunkte durch die Ballung von Arbeitslosen, Alleinerziehenden, Armen und Ausländern, steht im Buch weniger im Fokus, wird eher am Rande gestreift. Die Autoren treibt die „Ehrenrettung der Neuen Heimat“ um. Angesichts der Leistungen dieses gemeinnützigen Konzerns sicherlich angemessen, angesichts der folgenden städtebaulichen Altlasten aber vielleicht auch etwas sehr weichzeichnerisch.

Gigantomanie: So stellte sich die Neue Heimat die Zukunft des Stadtteils St. Georg vor – als Fundament für ein modernes Alsterzentrum.
Gigantomanie: So stellte sich die Neue Heimat die Zukunft des Stadtteils St. Georg vor – als Fundament für ein modernes Alsterzentrum. © HAA

„Die Neue Heimat wollte immer modern sein – und war immer modern“, sagt Schwarz. Der Konzern hat alle architektonischen Moden mitgemacht: die Gartenstädte, die Großwohnanlage, die Sanierungen. Damit steht die Neue Heimat für eine Hybris der Moderne, die frei von Selbstkritik sich radikal Moden unterwirft. Schlimmer noch wirkte die ökonomische Hy­bris. Der Werbeslogan beschreibt das Denken im Konzern an der Lübecker Straße: „Wenn Sie wollen, können Sie bei uns eine komplette Stadt bestellen.“

Verrückt anmutender Plan

Unvergessen ist der heute verrückt anmutende Plan, ganz St. Georg unter einer gigantischen Betonschlange – 700 Meter lang, 300 Meter breit und bis zu 200 Meter hoch – verschwinden zu lassen. Dieses Alsterzentrum wäre größer geworden als das Pentagon. Ab 1971 plante die Neue Heimat dann das größte Stadtentwicklungsprojekt der Republik im Osten Hamburgs – in Billwerder/Allermöhe sollten 30.000 Wohneinheiten und 40.000 Arbeitsplätze in einer City Ost entstehen; verwirklicht wurde später nur ein Bruchteil. Der Blick auf diese Einzelprojekte im In- und Ausland macht einen weiteren Reiz des Buches aus.

Besonders unterhaltsam sind die beiden letzten Kapitel – der bissige Rückblick des Architekturkritikers Gert Kähler, der im Kapitel „Pressespiegel“ über die „Neue Heimat in den Printmedien“ schreibt, und der Aufsatz des Verlegers Robert Galitz über die „Schöne Neue Heimat“ in Film und Fernsehen, die man liebend gern im Bewegtbild sehen würde: etwa die Feier zum 50. Geburtstag von Albert Vietor, dem langjährigen Vorstandschef, im Hotel Atlantic, dessen Auszeichnung in New Orleans oder Vietor am Steuer seiner Jacht.

Schulden lagen bei 17 Milliarden Mark

Albert Vietor, der die Neue Heimat mit einem tollkühnen Expansionskurs in die Krise stürzte und wegen einträglicher Privatgeschäfte 1982 gefeuert wurde, sagt kurz vor seinem Tod 1984 dem „Spiegel“: „Ich habe nicht das geringste Schuldbewusstsein, die Schuld hat man mir zugewiesen. Ich bin im Innersten ein Mensch, der gemeinnützig denkt.“ Der gemeinnützige Konzern hatte am Ende nicht nur 17 Milliarden Mark Schulden, sondern den Ruf des gemeinnützigen Wirtschaftens ramponiert und den Deutschen Gewerkschaftsbund in seine schlimmste Krise gestürzt. Schließlich wurden die Wohnungen an die Bundesländer verkauft beziehungsweise privatisiert.

Das Erbe der Neuen Heimat aber prägt die Hansestadt bis heute – dazu gehören Großsiedlungen wie Mümmelmannsberg, Lohbrügge, Neu-Altona, aber auch die Gartenstädte Hohnerkamp in Bramfeld oder die Holstentwiete in Ottensen. Rund 40.000 Wohnungen der Saga stammen aus dem Bestand der gescheiterten Wohnungsbaugesellschaft. Hinzu kommen viele Großbauten wie das Elbe-Einkaufszentrum, überhaupt erst das dritte seiner Art in Deutschland, die Alster-Schwimmhalle oder das CCH. Ohne die Neue Heimat sähe Hamburg anders aus.