Hamburg. Ein internes Protokoll der Schulbehörde sorgt für Unruhe bei Ärzten und Eltern von Kindern, die an Epilepsie leiden.
Ein internes Protokoll der Schulbehörde sorgt unter Kinderärzten der Stadt für Unruhe. In dem Protokoll steht, dass alle Jungen und Mädchen, die an Epilepsie erkrankt sind, nur am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen, wenn sie eine Unbedenklichkeitsbescheinigung eines Mediziners vorweisen können. Wörtlich heißt es: „Eine Teilnahme am Schwimmunterricht für Schülerinnen und Schüler mit Epilepsie darf nur bei Vorlage einer ärztlichen Unbedenklichkeitserklärung erfolgen. Die alleinige Feststellung einer zweijährigen Anfallsfreiheit reicht nicht aus.“
Der Landesvorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Dr. Stefan Renz, ist entsetzt: „Die Ärzte, aber auch die betroffenen Kinder können dabei nur verlieren“, sagt der erfahrene Kinderkardiologe, der selbst eine Praxis in Eimsbüttel hat. „Stellen wir so eine Bescheinigung nicht aus, leiden die Kinder. Sie dürfen plötzlich nicht mehr mitschwimmen und müssen sich vor den anderen sogar noch erklären.“ Für ihn und seine Kollegen sei es riskant, solch ein Attest herauszugeben. „Man kann bei dieser Krankheit ja nie mit absoluter Sicherheit sagen, dass ein Mensch anfallsfrei bleibt.“
Schwimmkragen ist laut Protokoll verpflichtend
In dem Protokoll heißt es weiter: „Liegt keine entsprechende Erklärung eines Arztes vor, darf eine Teilnahme am Schwimmunterricht nur unter Benutzung eines entsprechenden Schwimmkragens erfolgen (Typ Secumar 95).“ Für Renz eine schlimme Vorstellung: „Nun stellen Sie sich mal vor, die Kinder müssen mit so einem schrecklichen Kragen ins Wasser. Das ist doch absolut diskriminierend“, sagt er. „Das kann man doch niemandem zumuten.“
Die Schulbehörde erklärte auf Anfrage des Hamburger Abendblatts, es handele sich bei dem von Renz kritisierten Schreiben um Auszüge aus einem internen Protokoll, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei und zudem den Zusammenhang verzerrt darstelle.
„Kein Kind soll vom Schwimmen ausgeschlossen werden“, sagt Behördensprecher Michael Reichmann. Die kritisierte Regelung gebe es schon länger. Dennoch berichten Eltern, dass ihre Kinder auf einmal nicht mehr am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen (siehe unten). Auch ein Mitarbeiter einer Schule bestätigte dem Abendblatt, dass Eltern angeschrieben wurden, damit sie eine Unbedenklichkeitserklärung abgeben.
Die Behörde verweist in ihrer Stellungnahme auf eine Drucksache aus dem Jahr 2015. Dort hatte der Senat in einer Kleinen Anfrage allerdings nur ausgeführt, dass „die das Kind betreuende Sportfachkraft über das Krankheitsbild, Verhaltensmaßnahmen und den aktuellen Zustand“ informiert sein müsse. Von einer „Unbedenklichkeitserklärung“ ist keine Rede und zu Schwimmkragen heißt es eher unbestimmt: „Im Schwimmunterricht kommen Schwimmkragen zum Einsatz.“ Reimann ist wichtig klarzustellen, dass „die ärztliche Unbedenklichkeitserklärung nur verlangt wird, wenn auf den Schwimmkragen verzichtet werden soll“.
Situation für Betroffene verschärft sich
Das interne Protokoll, das an Schulen und Ärzte gelangt ist, empfinden die Betroffenen als Verschärfung einer schon bisher nicht einfachen Situation. Zumal es darin auch heißt, dass Ärzte, „die grundsätzlich keine Bereitschaft zur Erstellung einer entsprechenden Bescheinigung zeigen“, der Behörde gemeldet werden sollten. „Bisher haben wir außerordentlich gut mit der Behörde zusammengearbeitet“, sagt Dr. Burkhard Püst, Chefarzt der Neuropädiatrie im Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift. Deshalb verstehe er die Maßnahmen nicht: „Das scheint eine Entscheidung zur juristischen Absicherung zu sein, mehr nicht. Die betroffenen Kinder leiden schon genug, werden neuerdings von Aktivitäten und Klassenfahrten, sogar vereinzelt aus der Kita ausgeschlossen.“
Püst betreut seit mehr als 30 Jahren Kinder, die unter Epilepsie leiden. „Epilepsie ist eine lebensgefährliche Krankheit, Patienten sind in der Badewanne und im Badesee ertrunken – aber nie im Schwimmunterricht“, sagt er. Dafür sei die Betreuung zu gut: „Beim Schwimmunterricht müssen immer genügend Lehrer dabei sein, ganz gleich, ob die Kinder gesund sind oder nicht.“ Hinzu komme, dass die Krankheit sehr gut behandelbar sei. „Ein Kind oder auch ein Erwachsener, der medikamentös gut eingestellt ist, bekommt fit und ausgeruht im Schwimmunterricht keinen Anfall.“
Die meisten kindlichen Anfälle passierten nachts oder in den frühen Morgenstunden: „Aber kaum am Vormittag in der Schule.“ Ein Diabetiker, so Püst, der am Morgen vergessen habe, sein Insulin zu spritzen, sei im Wasser mindestens genauso gefährdet wie ein Kind mit Epilepsie. „Und keine Epilepsie ist wie die andere, bei den meisten Kindern wird schnell bleibende Anfallsfreiheit erreicht.“
Kein Schwimmunterricht für Drittklässlerin
Wie beispielsweise bei Emma (Name geändert). Die Achtjährige hatte vor einem Jahr einen epileptischen Anfall. Seitdem ist sie auch dank der passenden Medikamente anfallsfrei. Trotzdem darf sie nicht am Schwimmunterricht ihrer Grundschule teilnehmen.
„Gerade steht in der dritten Klasse das Schwimmen an, und Emma ist sehr traurig, dass sie nicht dabei sein kann“, sagt ihre Mutter Catharina Meyer (Name geändert). Ganz zu schweigen von den vielen Nachfragen ihrer Mitschüler. „Nun habe ich mich angeboten, beim Unterricht dabei zu sein. Vielleicht haben wir dann ja wenigstens eine Chance, dass sie mitmachen kann.“
Oder ein Kind wie Annie (Name geändert), die seit viereinhalb Jahren auf die Schule Hirtenweg geht. Hier nahm das 15-jährige Mädchen, das einen Gendefekt hat und hin und wieder an epileptischen Anfällen leidet, regelmäßig am Schwimmunterricht teil. „Annie hat in der Schule schwimmen gelernt. Sie liebt die Stunden im Wasser“, sagt ihre Mutter Beate Klein (Name geändert). Vor Kurzem sei sie allerdings mit einem Schreiben nach Hause gekommen, dass sie für die Teilnahme am Schwimmen künftig eine Bescheinigung eines Arztes brauche. „Also sind wir losgezogen“, sagt Klein.
Ärzte verweigerten Eltern die Bescheinigung
Sie habe sich gedacht, das sei ja kein Problem, schließlich nehme ihre Tochter seit Jahren ohne Probleme am Unterricht teil. War es aber doch. Die behandelnden Ärzte verweigerten den Eltern die geforderte Bescheinigung. „Nun sind wir total aufgewühlt. Der Unterricht war so wichtig für Annie, und von heute auf morgen kann sie nicht mehr dabei sein.“ Klein empfindet die Entscheidung der Behörde als Stigmatisierung. „Klar ist, die Behörde will sich absichern. Aber zu welchem Preis?“
Auch die Elternvertreterin der Schule Hirtenweg, Berrin Hellmann, sagt: „An den Schulen für Körperbehinderte ist der Schwimmunterricht nicht nur eine Frage von Spaß, sondern ein wesentlicher Bereich der Therapie.“